21
Nach dem Essen tobten Kevin und Jake wie die Irren in der Suite herum. Sie schlugen sich mit ihren Handtüchern und hatten den Fernseher im Wohnzimmer viel zu laut gestellt. James schrie sie an, endlich Ruhe zu geben, aber sie ignorierten ihn einfach, sodass er gegenüber in der Mädchen-Suite Zuflucht suchte.
Kerry öffnete die Tür in Bademantel und Pantoffeln.
»Was macht ihr denn so?«, fragte James.
»Ich sehe Ugly Betty«, erklärte Kerry und ließ ihn eintreten.
James blickte sich in der luxuriösen Suite um, konnte jedoch niemanden sonst entdecken.
»Wo sind denn die anderen alle hin?«
»Bethany und Andy sind in die Arkaden gegangen, Lauren hat irgendetwas mit Rat zu schaffen und Gabrielle hat Kopfschmerzen und ist schon im Bett.«
»Wie geht es denn Gab?«, fragte James, als er Kerry zum Sofa folgte.
»Was glaubst du denn?«, antwortete sie etwas schärfer und drehte den Fernseher leiser. »Michael hat ihr praktisch das Herz aus dem Leib gerissen.«
James wies auf die Tür. »Ich kann auch was anderes machen, wenn ich dich störe.«
»Nein, setz dich«, lächelte Kerry. »Hier sind sie etwa zehn Folgen weiter und ich habe keine Ahnung mehr, um was es geht.«
Sie setzten sich auf das riesige Ledersofa vor dem Fernseher und Kerry stellte eine große Schachtel Pralinen vom Tisch zwischen sie beide. Kerrys Beine sahen unglaublich glatt aus und James fragte sich, ob sie unter dem Bademantel nackt war.
»Wie läuft es denn mit dir und Bruce zurzeit?«
»Er ist so lieb«, lächelte Kerry. »Hast du die Kette gesehen, die er mir zu Weihnachten geschenkt hat? Die ist soooo schön! Muss richtig teuer gewesen sein.«
»Als ich dich das letzte Mal gefragt habe, hast du gesagt, es würde nicht so richtig knistern zwischen euch«, meinte James und nahm sich eine Praline aus der Schachtel. »Du hast gesagt, ihr würdet euch vielleicht trennen.«
»Bruce ist völlig anders als du«, neckte ihn Kerry. »Er ist ein Gentleman.«
»Er ist einer meiner besten Freunde«, nickte James. »Auch wenn er von seinem Kampfsport so was von besessen ist, dass es schon langweilig wird. Manchmal redet er über nichts anderes.«
Als er sich eine halbmondförmige Praline schnappte, verpasste ihm Kerry einen Hieb auf die Finger. »Nicht die mit Orangencremefüllung! Die mag ich am liebsten!«
»Warum kommst du nicht her und holst sie dir?«, grinste James, streckte ihr die Zunge heraus und balancierte die Praline darauf. Dann beugte er sich zu ihr hinüber und ließ seine Hand in ihren Schoß gleiten.
Kerry boxte ihn heftig in die Rippen und sprang auf.
»AUU!«, jaulte James. »Jetzt hab ich mir auf die Zunge gebissen!«
»Auf welchem Planeten lebst du eigentlich, James?« Kerry stieß ihn mit dem Fuß weg.
»Ich mache doch nur Spaß!«, wehrte sich James.
»Ich habe tagelang geheult, als du mich wegen Dana hast sitzen lassen. Jetzt lässt sie dich sitzen, und eine Woche später soll ich mich dir an den Hals werfen, als sei nie etwas geschehen?«
»Es tut mir leid«, entschuldigte sich James. Er bereute, dass er sich von der Vorstellung, Kerry könnte unter dem Bademantel nackt sein, hatte hinreißen lassen.
»Du bist ekelhaft«, schauderte Kerry. »Bruce ist angeblich einer deiner besten Freunde. Und er hat in seinem kleinen Finger mehr Respekt vor mir als du im ganzen Körper.«
»Kerry, du weißt, dass ich immer noch Gefühle für dich habe. Ich bin zu weit gegangen und es tut mir wirklich, wirklich …«
»Verschwinde einfach«, befahl Kerry. »Vergiss, was passiert ist, aber versuch das bloß nie wieder!«
Nach Privatjet, Luxushotel und Edelsuiten holte sie die harte Realität zwei Tage später wieder ein: auschecken um 5 Uhr 30 morgens, dann vier Stunden Fahrt zu einem der entlegensten Orte der Wüste von Nevada, dem Trainingsgelände Fort Reagan.
Der Portier des Reef nahm Mac beiseite und reichte ihm eine billige VIP-Karte, mit der er bei späteren Besuchen Casino-Punkte sammeln konnte, sowie einen Gutschein für eines der Restaurants.
Der Tonfall war höflich, die unterschwellige Aussage war kristallklar: ›Sie haben nicht genug Geld verspielt, um all die Gratis-Geschenke zu rechtfertigen, die wir Ihnen verschafft haben, und falls Sie wiederkommen wollen, können Sie Ihr Zimmer auf jeden Fall selbst bezahlen.‹ Auch die Tatsache, dass sie keinerlei Hilfe für ihr Gepäck bekamen, sprach eine deutliche Sprache, und so mussten die Kinder mehrmals mit dem Lift hinauf und wieder hinunter fahren, um Kazakovs Ausrüstung zu dem Treffpunkt zu schaffen, von wo sie abgeholt wurden.
Bei ihrem Gefährt handelte es sich um ein schäbiges grünes Exemplar eines alten Armeebusses, auf dessen Seiten UNITED STATES ARMY prangte. Der Fahrer war ein kräftig gebauter Afro-Amerikaner, der vor Kazakov salutierte und dann Identity-Armbänder austeilte, die nach Krankenhaus aussahen und einen Mikrochip und ein winziges Foto enthielten. Sobald man eines der Armbänder angelegt hatte, konnte man es nur noch mit einer Schere wieder entfernen.
Da alle Cherubs noch müde waren, breiteten sie sich ohne viel Aufheben in dem geräumigen Bus aus und verhielten sich ruhig, während sie durch die Vororte von Las Vegas fuhren und bei Sonnenaufgang in die offene Wüste gelangten.
James hatte einen Platz ziemlich weit hinten gewählt und saß einem sehr verkatert aussehenden Mac gegenüber. Er hustete immer wieder, sodass ihm James schließlich die Wasserflasche aus seinem Rucksack gab.
»Danke«, sagte Mac leise, weil Jake zwei Plätze vor ihm schlief. »Und wie hat dir Vegas gefallen?«
»Ziemlich cool«, antwortete James. »Ich werde auf jeden Fall noch mal herkommen, wenn ich älter bin. Wie lief′s denn nach dem Essen noch an den VIP-Tischen?«
Mit seinem verknitterten Hemd und dem unrasierten Gesicht war Mac nur noch der Schatten jenes großen Mannes, den er auf dem Campus dargestellt hatte.
»Ich habe noch mal achthundert Dollar verloren«, lächelte Mac. »Aber das war nicht annähernd genug, um Julio zufriedenzustellen.«
»Und Ihre Freundin?«, erkundigte sich James frech und erwartete fast, dass Mac jetzt die Autoritätsperson hervorkehren und ihm sagen würde, er solle sich um seinen eigenen Kram scheren.
»Sie hat mit Julio gemeinsame Sache gemacht«, antwortete Mac stattdessen. »Ich bin kurz nach eins in mein Zimmer zurückgetorkelt und da meinte sie: Julio hat gesagt, dass du für eine Freirunde nicht genug verspielt hast, also wenn du mit mir schlafen willst, kostet das sechshundert Dollar.«
James lachte laut auf, sodass Jake ein Auge öffnete.
»Und, haben Sie sie bezahlt?«, fragte er.
»Wofür hältst du mich eigentlich?«, fragte Mac ungläubig. »Ich habe geantwortet, dass ich lieber eine schöne Tasse Tee hätte und sie zum Teufel geschickt.«
Um acht Uhr lag Las Vegas bereits über hundert Kilometer hinter ihnen. Die Autobahn führte sie ab und zu an einer Stadt mit Fast-Food-Restaurants und ein paar Läden vorbei, doch den Ort ihrer Rast hatte Kazakov schon im Vorfeld bestimmt, als er dort dreißig Fässer Bier bestellt hatte.
»Ich habe keine Ahnung, wie Kazakovs Pläne aussehen«, grinste Mac, als sie aus dem Bus stiegen und sich auf einem Parkplatz die Beine vertraten.
»Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich es überhaupt wissen will«, grinste James zurück. »Obwohl die Sache mit den Bierfässern ziemlich lustig werden könnte.«
Kazakov, der Busfahrer und der Mann, der extra für sie seinen Getränkeladen so früh aufgeschlossen hatte, beeilten sich, die Fässer in den Bus zu laden, während die restlichen Cherubs sich in einem 24-Stunden-Diner stärkten. Der Laden war zu achtzig Prozent voll besetzt und die schweißgebadete Bedienung musste die zwölf Leute auf zwei Tische verteilen, zwischen denen eine Gruppe uniformierter amerikanischer Soldaten saß.
James bestellte etwas, das Cake and Steak Grand Slam hieß und sich als riesiger Teller erwies, auf dem so ziemlich alles zu finden war, was auf der Speisekarte stand, vom großen T-Bone-Steak bis zu einem Haufen Pfannkuchen in einem Swimmingpool aus Ahornsirup.
Kazakov kam noch vor dem Essen an den Tisch, während der Fahrer ein paar Kollegen aus Fort Reagan entdeckte und sich zu ihnen setzte.
»Fahrt ihr alle ins Fort?«, fragte die Bedienung, als sie die Bestellungen verteilte. »Sieht aus, als würde dort heute ein neues großes Manöver anfangen.«
Auf ihrem Namensschild stand Natasiya, und Kazakov lächelte sie an.
»Was macht ein nettes ukrainisches Mädchen hier draußen in der Wüste?«, fragte er.
»Geld verdienen und Kinder großziehen, wie die anderen Bedienungen«, lächelte sie. »Die meisten halten mich für eine Russin.«
»Die kennen hier den Unterschied nicht«, erklärte Kazakov kopfschüttelnd. »In England ist es dasselbe. Manche glauben sogar, ich sei Pole.«
Da James doppelt so viel auf seinem Teller hatte wie alle anderen, rief Bruce vom Tisch hinter den US-Soldaten herüber: »He, Fettwanst, willst du das alles aufessen?«
James war klar, dass er das nicht schaffen würde und gab Lauren und Rat je einen seiner Pfannkuchen ab, während Kevin zwei Scheiben knusprigen Schinkenspeck zu seinem Toast bekam.
»Bist du sicher, dass du nichts willst, Bruce?«, rief James zurück. »Könntest ein bisschen Fleisch auf deinen mageren Rippen vertragen.«
»Mager vielleicht, aber dich schaffe ich allemal noch«, gab Bruce zurück.
Am Tisch zwischen ihnen drehte sich eine Soldatin zu James um und verlangte gedehnt: »Hättet ihr zwei vielleicht die Güte, still zu sein? Ich würde gerne frühstücken, ohne dass ihr mir die Ohren voll brüllt!«
»Sorry«, lächelte James und widmete sich dann seinem Steak, als sich hinter Kazakov ein kräftiger Corporal erhob. Er hielt eine leere Sirupflasche hoch und verlangte von der Bedienung unwirsch eine neue.
»Beschissener Service hier«, beschwerte er sich, als er sich wieder setzte. »Diese Russin kriegt von mir kein Trinkgeld. Wahrscheinlich hat sie das Bedienen im Gulag gelernt.«
Kazakov knallte seine Kaffeetasse auf den Tisch und wirbelte zu dem Corporal herum. »Halten Sie die Klappe und benehmen Sie sich!«
Der Corporal zeigte Kazakov seine jugendlich strahlendweißen Zähne, als Natasiya mit einer neuen Flasche Ahornsirup kam.
»Kümmere dich um deinen eigenen Kram, Alter!«
Kazakov wandte sich kopfschüttelnd wieder seinem Frühstück zu und murmelte laut: »Typisch Amerikaner. Ignorant, laut und dumm.«
Der stämmige Corporal schoss erneut von seinem Stuhl hoch und tippte Kazakov auf die Schulter. »He, ich mag es nicht, wenn Ausländer in mein Land kommen und so reden.«
»Können wir nicht alle einfach damit aufhören und in Ruhe weiterfrühstücken?«, warf Meryl mit einem freundlichen Lächeln ein.
Aber Kazakov ignorierte sie und sprach jetzt so laut, dass ihn alle im Restaurant verstehen konnten.
»In meinem Land liebt man die amerikanische Flagge. Man kann den schönen weichen Stoff in kleine Rechtecke schneiden und sich damit den Hintern abwischen!«
James und Rat mussten sich beherrschen, um nicht loszuprusten, als die Leute an den umliegenden Tischen – Zivilisten und Soldaten – empört aufschrien.
Dem Corporal traten fast die Augen aus dem Kopf. Er beugte sich über Kazakov und fragte: »Wollen wir das draußen regeln?«
»Jederzeit, Cowboy«, grinste Kazakov und erhob sich.
Der Corporal erschrak. Bis dahin waren ihm hauptsächlich Kazakovs graue Haare aufgefallen, doch jetzt stand er Auge in Auge jemandem gegenüber, dessen Statur und vernarbtes Gesicht aussahen, als hätte er bereits einige Kriege im Alleingang gewonnen.
»Na, hast du deine Meinung geändert, Cowboy?«, höhnte Kazakov. »Ich bin wohl größer als die Mädels aus deinem Highschool-Ringerteam?«
Im Restaurant herrschte Totenstille. Die Leute hatten aufgehört zu essen und beobachteten aufmerksam die spannende Szene, die sich vor ihren Augen abspielte. James sah sich um und bemerkte widerwillig, dass an mindestens sechs anderen Tischen Soldaten saßen, von denen keiner so aussah, als wollte er Kazakov auf seine Weihnachtspost-Liste setzen.
»Es lohnt sich nicht, deswegen zu streiten, Boss«, sagte James und zupfte den Ukrainer am Ärmel.
Die Soldatin versuchte ebenfalls, ihren Kameraden zu beruhigen, und auch der große Busfahrer war von seinem Tisch aufgestanden, um für Ruhe zu sorgen.
Nach ein paar Sekunden – in denen alles möglich gewesen wäre – setzten sich Kazakov und der Corporal wieder. Doch dann fuhren plötzlich alle Köpfe in eine einzige Richtung herum, aus der das eindeutige Geräusch einer Waffe drang, die durchgeladen wurde.
Aus der Küche kam eine Frau, die es ernst zu meinen schien, als sie mit den beiden Läufen einer Schrotflinte auf Kazakovs Kopf zielte.
»Ma′am, dazu besteht kein Grund«, versuchte der besorgte Mac sie zu beruhigen.
»Ach ja?«, fauchte sie ungläubig. »Ich hab zwei Söhne und eine Tochter in der Armee, Mister, und Sie schieben Ihren antiamerikanischen Arsch besser augenblicklich aus meinem Restaurant!«
Die anderen Gäste jubelten und klatschten, als Kazakov aufstand und vom Tisch zurücktrat.
»Und der Rest Ihrer Bande auch«, befahl die Chefin und fuchtelte mit dem Gewehr zu James und den anderen.
Mac deutete auf Kevin und Jake. »Wir wollten doch nur mit den Kindern etwas frühstücken.«
Die Chefin sah die beiden Jungen an und rief dann der Bedienung zu: »Natasiya! Mach daraus eine Bestellung zum Mitnehmen!«
Das ukrainische Mädchen kam mit einem Haufen Pappbechern und Styroporschachteln angelaufen. Das war zwar nicht ideal, aber Mac nickte der waffenschwingenden Frau trotzdem anerkennend zu, während James und die anderen ihr Essen so schnell wie möglich in die Schachteln packten und ihre Getränke aus den Gläsern in die Pappbecher umgossen.
»Vielen Dank, Ma′am«, sagte Mac und griff in die Tasche.
»Lassen Sie Ihre Pfoten da, wo ich sie sehen kann!«, brüllte die Chefin und trat so dicht an Mac heran, dass er die Gewehrläufe direkt unter der Nase hatte.
»Beruhigen Sie sich bitte!«, stieß er hervor. »Ich wollte nur meine Brieftasche holen!«
Inzwischen waren Kazakov und alle Cherubs mit ihren Essenspaketen auf dem Weg nach draußen.
»Die hat es dir aber gezeigt, Arschloch!«, rief einer der Soldaten. »Hast dir einen Tritt von einer Frau eingefangen!«
James glühte vor Scham, als er durch die Automatiktür nach draußen ging und schnell noch Servietten, Strohhalme und Plastikbesteck mitnahm. Kazakov fuhr auf, als ihn ein Stück Maisbrot am Hinterkopf traf, doch Meryl stieß ihm in den Rücken und befahl ihm, weiterzugehen.
»Amerikanische Schwachköpfe!«, schrie Kazakov, und als er ins Sonnenlicht hinaustrat, wandte er sich noch einmal um und schnippte mit den Fingern nach den Gästen.
Mac kam als Letzter heraus. Und dann gingen auf dem Weg zum Bus alle auf Kazakov los.
»Mir ist egal, wer Sie sind oder welchen Rang Sie haben«, tobte der Busfahrer. »Wenn Sie so was noch mal abziehen, können Sie zu Fuß laufen!«
»Sind Sie denn total verrückt geworden?«, schrie Mac ihn an. »Sich mit dreißig Soldaten anzulegen! Zum Glück war nur ein Gewehr auf uns gerichtet!«
»Ignoranter amerikanischer Abschaum!«, brüllte Kazakov. »Ihr Geschoss hat meinen kleinen Bruder getötet und ihr korruptes Casino hat mich um dreitausend Dollar erleichtert!«
Meryl stieg in den Bus und stöhnte auf. »Kazakov, Sie sind ein erwachsener Mann. Sie sollten nicht um mehr spielen, als Sie sich leisten können, zu verlieren.«
James ließ sich auf einen Sitz hinter Bruce fallen, nahm sein Steak aus der Schachtel und biss kräftig hinein.
»Schade, dass es nicht richtig zur Sache gegangen ist«, grinste Bruce. »Ich hab mich schon seit Monaten nicht mehr richtig geprügelt.«
»Psycho«, gab James zurück. »Aber das Steak ist verdammt gut. Vielleicht können wir auf dem Rückweg ja noch mal da anhalten …«