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Sobald sich die Tür der Hotelsuite öffnete, erkannte James Rich Davis. Er mochte sich Rich Kline nennen, war inzwischen dicker und kahler, und die Koteletten aus den Siebzigerjahren waren verschwunden – aber es war definitiv der Mann, der einst ganz oben auf der Fahndungsliste der Polizei von Ulster gestanden hatte.
»Mr Bradford«, sagte Rich und streckte widerstrebend die Hand aus.
Erfreut registrierte James einen Stapel frischer Wäsche vor einer Schranktür. Persönliche Dinge wie diese würden es ihm erleichtern, die Abhörgeräte zu verstecken.
»Alle nennen mich Bradford«, lächelte dieser, als er Rich die Hand schüttelte. »Schön, Sie endlich kennenzulernen.«
»Ich wünschte, ich könnte dasselbe von Ihnen behaupten«, gab Rich zurück und hustete rasselnd. »Ich hätte nie gedacht, dass ich noch mal auf die Straße komme, Bradford. Die Cops haben mir aufgrund falscher Anschuldigungen dreißig Jahre aufgebrummt. Wenn das Friedensabkommen nicht gewesen wäre, säße ich jetzt immer noch im Hochsicherheitstrakt. Die britische Regierung hat alles darangesetzt, mich zu kriegen und jetzt, da Sie der Staatsfeind Nummer eins sind, wird sie alles daran setzen, Sie zu kriegen.
Wenn man Sie nicht auf legale Art drankriegt, wird man Ihnen eben etwas anhängen, und bevor Sie es sich versehen, sitzen Sie fünfundzwanzig Jahre. Und deshalb können Sie es sich nicht leisten, solche dämlichen Risiken einzugehen, wie in dieser Schrottkarre aufzutauchen, mit einem Kind mit giftgrünen Haaren im Schlepptau!«
»Er ist sechzehn«, verteidigte sich Bradford. »Er kann kämpfen. Und er ist zu jung für einen Cop oder einen Zeitungsschmierer.«
James war klar, dass Rich Davis nur seine Überlegenheit demonstrieren wollte: indem er sie warten ließ, durch seinen Tonfall und mit dem bulligen Leibwächter, der an der Tür hinter ihnen stand und die Fingerknöchel knacken ließ. Davis wollte nicht mit Bradford verhandeln, er wollte ihm zeigen, wer der Boss war.
Jetzt wandte er sich an seinen Leibwächter. »Such die beiden nach Wanzen ab und dann geh mit dem Jungen runter und kauf ihm einen Lutscher.«
»James bleibt hier bei mir«, widersprach Bradford. Er versuchte, selbstbewusst zu klingen, doch das Zittern in seiner Stimme verriet ihn.
Der Leibwächter nahm einen Wanzendetektor, stellte sich hinter Bradford und strich ihm damit über die Kleidung. James blieb gelassen. Er hatte zwar ein Abhörgerät und zwei Ortungsgeräte bei sich, aber die ausgefeilte CHERUB-Technologie konnte von solchen groben Detektoren nicht aufgespürt werden.
»Keine Telefone, keine Wanzen, Rich«, sagte er zu Davis und wandte sich an James. »Komm, mein Junge, wir lassen jetzt die Erwachsenen sich ein bisschen unterhalten.«
James sah ihn wütend an. Wenn er die Suite verlassen musste, konnte er die Informationsbeschaffung für heute vergessen. Aber wenn er sich widersetzte, bestand die Gefahr, dass er dadurch die Beziehung zwischen Bradford und Davis ruinierte, noch bevor er irgendetwas über den Waffenschmuggel des Iren in Erfahrung bringen konnte.
»Ich will, dass er bleibt«, wiederholte Bradford. »Ich lasse mich nicht herumkommandieren.«
»Sie sollten ein wenig Benehmen lernen«, knurrte Davis.
»Wofür halten Sie sich eigentlich?«, rief Bradford, als der Leibwächter seine kräftige Hand auf James′ Schulter legte. Er schien den Jungen als keine ernsthafte Bedrohung anzusehen.
»Okay, ist ja schon gut«, sagte James und spielte den pampigen Teenager. Langsam hob er die Hände und drehte sich um.
»Grünhaariger Idiot«, grinste der Leibwächter und stieß ihn in den Rücken.
Bradford hatte seinen Standpunkt bereits klargemacht, und diese Beleidigung gab James noch einen zusätzlichen Grund, um doch zuzuschlagen. Sobald er einen Meter Abstand von dem Leibwächter hatte, holte er aus und traf ihn mit einem kräftigen Roundhouse-Kick.
Der Mann prallte rückwärts gegen eine Kommode und griff unter seine Jacke. James erschrak. Schnell sprang er auf den Leibwächter zu, packte seinen Daumen und bog ihn zurück, bis er das Gelenk knacken hörte. Dann schickte er ihn mit einem Kniestoß in den Magen zu Boden.
»Du willst dich über meine Haare lustig machen?«, schrie James, trat seinem Gegner in die Eingeweide und bückte sich dann, um ihm die Waffe aus dem Halfter unter der Jacke zu reißen. »Willst du mich jetzt immer noch erschießen?«
Der Leibwächter hustete Blut und würde so schnell nicht wieder aufstehen, daher richtete James die Waffe auf Davis.
»He, Junge, vorsichtig!«, winkte Davis träge ab. »Wir können doch über alles reden.«
»Nicht so herablassend!«, verlangte James. »Wenn Sie mir noch mal einen Lutscher anbieten, dann schiebe ich Ihnen diese Waffe in den Arsch, darauf können Sie sich verlassen!«
Dann nahm James geschickt das Magazin aus der Waffe – vielleicht ein wenig zu geschickt für einen ganz normalen Teenager –, steckte die Kugeln ein und prüfte, ob die Kammer leer war, bevor er Davis die Waffe reichte.
Unnatürliche Stille erfüllte die Suite. Bradford und Davis sahen sich wütend an, James warf dem Leibwächter einen tödlichen Blick zu, der ihn davor warnte, wieder aufzustehen und ihn anzugreifen.
Schließlich sah Davis auf die leere Waffe in seiner Hand und begann zu lachen.
»Ich habe ja schon einiges erlebt, Mr Bradford, aber der Grünhaarige, den Sie da haben, ist ein echter kleiner Mistkerl.«
Bradford hatte wieder an Selbstvertrauen gewonnen und erlaubte sich ein kleines Lächeln.
»James ist ein guter Mann«, nickte er. »Ich hab eine Menge guter Männer. Und jetzt können wir doch eigentlich den ganzen Machoscheiß vergessen und uns mal ernsthaft unterhalten, okay?«
Bei der Eröffnung des Luftverkehrskontrollzentrums in einem Monat würden dort einhundertfünfzig zivile Fluglotsen und achtzig Militärlotsen beschäftigt sein, ebenso wie über zweihundert weitere Mitarbeiter vom Kantinenpersonal über Software-Spezialisten bis zur Geschäftsleitung.
Im Augenblick jedoch glich es einem Geisterhaus. Die meisten Lichter waren ausgeschaltet, und so schlichen Lauren und Bethany einen Gang entlang, der nur von der grünen Notbeleuchtung erhellt wurde.
»Dem Pfeil nach müsste der Kontrollraum irgendwo hier sein«, flüsterte Lauren. Plötzlich stolperte Bethany.
»Auuutsch!«, stöhnte sie und knipste die Taschenlampe an. Sie war über einen vollen Wassereimer gefallen.
»Sei gefälligst leise!«, warnte Lauren. »Wenn die letzte Wache nach draußen funkt, sind wir total erledigt.«
»Sieht aus, als hätte die Dachdeckerfirma ganze Arbeit geleistet«, kommentierte Bethany trocken, als sie den Lichtkegel auf ein blindes Dachfenster richtete, durch das Wasser in den Eimer tropfte.
Lauren war bereits weitergegangen und sah jetzt einen Lichtschimmer durch einen Türspalt fallen. Sie schaltete ihre Taschenlampe ein und entzifferte erfreut das Schild an der Tür:
ZIMMER G117 – SICHERHEITSPERSONAL – AUFENTHALTSRAUM & TRAININGSBEREICH
Lauren lauschte und hörte eine Frau in ihr Funkgerät sprechen.
»Jungs, was ist da draußen los? Antwortet bitte! Ich warne euch, wenn ihr Spinner mich nur ärgern wollt, ist echt was los!«
»Eine Frau. Und die scheint gleich die Beherrschung zu verlieren«, erklärte Lauren, als sich Bethany näherte. »Hol mal den Eimer.«
»Den Eimer?«, vergewisserte sich Bethany ungläubig.
Lauren wusste nicht, wie der Aufenthaltsraum aussah, aber es gab dort mit Sicherheit irgendwo einen Alarmknopf. Wenn sie hineinstürmten, bestand die Möglichkeit, dass die Frau ihn erreichte, bevor Lauren und Bethany sie packen konnten.
»Danke«, sagte Lauren, als Bethany den Plastikeimer anschleppte. Er war so voll, dass er durch das Gewicht des Wassers schon etwas verbeult aussah.
Lauren begann, das Wasser unter dem Türspalt des Aufenthaltsraums hindurchzugießen. Etwas davon lief auch in den Gang und breitete sich um ihre Füße aus, aber der größte Teil der bräunlichen Soße plätscherte in den Raum hinein.
»Oh verdammt!«, schrie die Frau auf. »Dieses blöde Dach! Jetzt gehört auch noch Aufwischen zu meinen Aufgaben hier!«
Als sie die Tür aufriss, starrte sie Lauren erschrocken an. Lauren holte mit einer Bewegung, die in keinem Trainingslehrbuch stand, aus und schleuderte ihr den leeren Eimer an den Kopf. Er traf sie mit einem dumpfen Aufprall, doch der Plastikeimer war zu leicht, um ernsthaften Schaden anzurichten. Die Frau schrie auf und versuchte, Lauren die Tür ins Gesicht zu schlagen, bevor sie zum Schaltpult lief.
Lauren rannte ihr nach. Sie schlang ihre Arme um die kräftigen Schenkel der Frau und brachte sie mit einem Rugby-Griff zu Fall. Bethany hatte den Eimer aufgehoben und konnte einfach nicht widerstehen, ihn der Angestellten über den Kopf zu stülpen.
Das Bild, das sich den beiden Mädchen bot, riss sie zu einem Lachkrampf hin: Die Wache schlug mit dem Eimer auf dem Kopf wild um sich, und gedämpfte »Oh mein Gott!«-Schreie drangen unter dem Plastik hervor.
»Gib mir das Klebeband, Bethany«, prustete Lauren.
Während Lauren die Frau zu Boden drückte und an Händen und Füßen fesselte, fiel Bethanys Blick auf einen Folienstift unter einer Tafel, auf der die Schichten der Wachleute eingetragen wurden. Prompt zeichnete sie damit ein Smiley auf den Eimer.
Daraufhin konnte sich Lauren vor Lachen kaum mehr halten.
»Das sieht ja echt irre aus!«, keuchte sie.
Doch als Bethany den Eimer mit einem langen Stück Klebeband auch noch am Körper der Frau fixieren wollte, holte Lauren tief Luft und versuchte, sich zusammenzureißen. »Das können wir aber wirklich nicht machen. Sie könnte schwanger sein oder Asthma haben oder so.«
»Spielverderber«, maulte Bethany und schoss erst noch ein Foto mit ihrer Handykamera, bevor sie der Frau den Eimer wieder abnahm.
Ein durchdringender Schrei ertönte, dann legte Bethany ihr einen ähnlichen Knebel an wie vorher bereits Joe.
»Wir sollten über so was wirklich nicht lachen«, sagte Lauren vernünftig, während sie ihr Handy hervorholte, um Rat anzurufen.
Die Wachfrau spuckte einen unverständlichen Kommentar in ihren Knebel. Bestimmt keinen netten Kommentar, dachte Lauren schuldbewusst.
»Was ist denn so lustig?«, fragte Rat, als er im Hintergrund Bethanys Kichern hörte.
»Ach, kümmer dich einfach nicht darum«, befahl Lauren und wischte sich verstohlen eine Lachträne aus dem Auge. »Wie läuft′s bei euch?«
»Hier draußen ist es eiskalt, deshalb haben wir die Wachen in den Schuppen unter dem Radarturm gezogen. Jetzt warten wir auf euch.«
»Und ich sitze hier auf der letzten Wache«, verkündete Lauren. »Also schiebt eure nichtsnutzigen Hintern hier rein! Es ist Zeit, den Laden auseinanderzunehmen.«