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Hätte man die Bronzestatue des vierzigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten durch die von Mickey Maus ersetzt, wäre Fort Reagan leicht als Vergnügungspark durchgegangen. Während sich der Armeebus in eine Fahrzeugschlange vor dem Tor einreihte, verlor der dahinter liegende riesige Parkplatz allmählich die Schlacht gegen den heranwehenden Sand. James folgte dem Grenzzaun mit den Augen, bis er sich am Horizont verlor.

Die Busse des Militärpersonals wurden durch eine Expressreihe gewinkt, während der zivile Verkehr sich deutlich mehr Zeit nehmen musste. Die Soldaten überprüften Papiere, durchforsteten Kofferräume und untersuchten den Unterboden der Fahrzeuge mit Spiegeln, die sie an langen Stangen befestigt hatten.

Bei den zivilen Autos handelte es sich zumeist um billige Anfängermodelle, deren Insassen zum größten Teil junge Collegestudenten waren, die sich die achtzig Dollar pro Tag nicht entgehen lassen wollten. Aber um eine möglichst realistische Zivilbevölkerung von achtzigtausend Menschen zusammenzustellen, hatte die US-Regierung auch ältere Paare, Kinder-Fußballmannschaften, einen blinden Wanderklub und zwei Behinderten-Teams der Basketballliga angeheuert.

»Die Amerikaner machen keine halben Sachen, was?«, grinste Bruce.

Das Ausmaß der ganzen Operation war beeindruckend. Durch die Fenster des Armeebusses sahen sie die schier endlosen Reihen von geparkten Autos und die fröhlichen Studenten, die mit Rucksäcken und Kühltaschen voller Bier auf den Haupteingang zustrebten.

Mac und Kazakov blieben im Bus, als dieser die Militärzufahrt passierte, während Meryl zusammen mit den Kindern und ihren Rollkoffern den kilometerlangen Weg bis zur Ankunftshalle zu Fuß zurücklegte. Der Wellblechbau war so groß wie ein Supermarkt, vor dem sich eine Schlange von über tausend Menschen durch die Absperrungen schob.

Über ein Megafon erschallten die Befehle der Soldaten: »Bitte halten Sie Ihre Ausweise, Dokumente, Sozialversicherungskarte und das Gesundheitsprotokoll bereit!«

Die Schlange kroch entsetzlich langsam voran und James hörte diese Anweisung ungefähr schon zum dreißigsten Mal, während er die aufgekratzten Collegemädchen beobachtete, die alle die gleichen Jacken mit der Aufschrift USC Soccer auf dem Rücken trugen.

Im Laufe ihrer Wartezeit verdoppelte sich die Schlange noch. Jake und Kevin schaukelten auf den Metallbarrieren, bis Meryl sie anschnauzte; ein älteres Paar kramte nach Sonnenbrillen und durchsuchte sein Gepäck, um sicherzugehen, dass es auch die richtigen Medikamente eingepackt hatte.

Sobald sie die Absperrungen überwunden hatten und drinnen waren, ging es endlich schneller voran. Es gab Schalter von A bis W wie am Flughafenzoll und ein Soldat zeigte allen, zu welchem Schalter sie mussten.

»Willkommen in Reaganistan«, begrüßte eine Soldatin Meryl, als die CHERUB-Gruppe das vordere Ende der Schlange vor Schalter R erreicht hatte. »Die Papiere bitte.«

Meryl hatte jede Menge Pässe und Formulare in der Hand, doch dann wurden sie mit Blick auf ihre ID-Armbänder plötzlich durchgewinkt. Von da an ging es an den nächsten Schaltern glücklicherweise ebenso schnell weiter.

Nachdem sie in weniger als zehn Minuten durch die Ankunftshalle geschleust worden waren, folgten sie einer roten Linie, die zu einem Gebäude für Ausrüstung und Information führte.

»In diesem Paket sind Schutzbrillen, Notfallalarmgerät und alles für Ihre ersten drei Mahlzeiten«, verkündete ein Soldat und wiederholte genau diesen Satz bei all den nachfolgenden Leuten jedes Mal aufs Neue.

An der nächsten Station wurden die Chips in ihren Armbändern gescannt und ein Laserdrucker spuckte die verschiedenen Unterbringungszuweisungen sowie eine Karte von Fort Reagan und ein paar allgemeine Richtlinien aus. Beim letzten Halt bekamen sie alle ein Sicherheitshandbuch für Fort Reagan und  – was noch wichtiger war  – einen Reißverschlussbeutel mit fünfhundert Reaganistan-Dollar und einem Wohnungsschlüssel.

Die Geldscheine bestanden aus Ein-, Fünf-, Zehn- und Zwanzigdollarnoten und waren mit einer skurrilen Mischung aus dem Logo der US-Armee und Abbildungen von Waffen mit arabischen Schriftzeichen sowie dem Bild eines unbekannten Mannes mit Turban bedruckt.

James zog einen Zwanziger hervor und las die Ausschlusserklärung auf der Rückseite laut vor. »Dieser Geldschein ist Eigentum der Regierung der Vereinigten Staaten. Er ist für den Kauf von Nahrungsmitteln und anderen notwendigen Dingen innerhalb der Grenzen des Militärübungsgeländes von Fort Reagan bestimmt und hat keinen Wert als Währung. Beim Verlassen von Fort Reagan müssen alle Scheine abgegeben werden. Bei Zuwiderhandlung drohen Haft und ein Bußgeld von bis zu fünfzigtausend Dollar.«

»Die wollen wohl nicht, dass die bei Ebay auftauchen«, grinste Lauren.

Über einen langen Gang erreichten sie schließlich einen mit Teppichboden ausgelegten Wartebereich, in dem schon mehrere Hundert Leute saßen. Ein großer Flachbildschirm an der Wand sagte ihnen, dass der nächste Einführungsfilm mit Sicherheitshinweisen für Fort Reagan in 14 Minuten beginnen sollte.

Nach der langen Busfahrt und einer Stunde Schlange stehen mussten sie alle dringend auf die Toilette  – was bei den Jungen schnell erledigt war, während sich die Mädchen schon wieder an einer langen Schlange anstellen mussten und gerade noch rechtzeitig zurückkamen, bevor sich die Automatiktüren zu einem großen Vorführungssaal öffneten und die Leute hineinströmten.

Dreihundert Menschen quetschten sich nebeneinander auf Sitzbänke ohne Rückenlehne, dann gingen die Lichter aus und die Automatiktüren schlossen sich wieder.

»Ich will Popcorn«, kicherte James, als auf der Leinwand eine Totalaufnahme von Fort Reagan erschien und eine schmierige Stimme aus dem Off erklang.

»Im zwanzigsten Jahrhundert fanden die größten und blutigsten Kriege der Menschheitsgeschichte statt, doch zu Beginn des dritten Millenniums wurde die ganze Welt von einer neuen Art der Kriegführung erschüttert.«

Auf der Leinwand erschienen die Bilder von amerikanischen Truppen, die mit Hummern durch die Straßen von Bagdad fuhren, und von lächelnden Soldaten mit weißen UN-Helmen, die einen Hügel hinaufgingen und freundlichen Bäuerinnen zuwinkten.

»Die Kriege des einundzwanzigsten Jahrhunderts finden nicht auf dem offenen Meer statt oder auf abgesteckten Schlachtfeldern, nicht einmal in der Luft, sondern in dicht bevölkerten Siedlungsgebieten. Anstelle von Kampfpanzern und Artilleriefeuer wird der amerikanische Soldat heutzutage mit Aufständischen und Terroristen konfrontiert, deren Kriegstaktik aus Sprengsätzen, Autobomben, Geiselnahmen, Entführungen und Erpressungen besteht. Das Militär muss lernen, nicht nur in der offenen Schlacht zu kämpfen, sondern sich gegen einen rücksichtslosen Feind zu behaupten, der die Zivilbevölkerung als Schutzschild missbraucht.

Das Verteidigungsministerium hat erkannt, dass die Soldaten nur in einer Einrichtung des einundzwanzigsten Jahrhunderts die Kriegführung des einundzwanzigsten Jahrhunderts kennenlernen können und müssen, um auf diese Situationen vorbereitet zu sein. Das Ergebnis ist Fort Reagan, gebaut für über sechs Milliarden Dollar.

Sie, die Sie nach Fort Reagan gekommen sind, werden eine wichtige Rolle dabei spielen, die amerikanischen Truppen auszubilden, um in einer tatsächlichen Schlacht amerikanische Leben zu retten. Jeder Aspekt unserer Übungen ist minutiös geplant und auf äußerste Realitätsnähe bedacht, dennoch bleibt die persönliche Sicherheit das oberste Gebot. Also entspannen Sie sich und passen Sie gut auf, wenn wir Sie durch die Sicherheitseinrichtungen von Fort Reagan führen, dem weltbesten Trainingsgelände für den Straßenkampf.«

 

Nach der Sicherheitseinweisung  – die von der Empfehlung, immer seine Schutzbrille bei sich zu haben und sie aufzusetzen, sobald in der Nähe mit Übungsmunition geschossen wurde, bis zu dem Ratschlag reichte, auf Treppen nicht zu rennen und sich von fahrenden Autos fernzuhalten  – wurden die Zuschauer zu einer Art Versammlungsplatz im Freien geführt: einem Stadion, dessen Tribünen wohl etwa tausend Leute aufnehmen konnten. Dort mussten sie eine weitere halbe Stunde warten, bis zwei Armeeoffiziere das sandbedeckte Podium betraten und einer der beiden ein wenig verlegen seine Rede begann.

»Bürger von Reaganistan! Wir danken Ihnen, dass Sie an dieser Stadtversammlung teilnehmen. Ich bin US-General Shirley, Kommandeur der eintausendfünfhundert Mann starken Truppe, die geschickt wurde, um den Frieden in unserem kleinen Land wiederherzustellen. Unsere Truppen sollen die demokratisch gewählte Regierung von Präsident Mongo unterstützen und die Terroristen der Reaganista-Bewegung ausschalten. Dabei suchen wir insbesondere nach deren Anführer, Scheich McAfferty.«

Die Cherubs mussten lächeln, als auf der Leinwand hinter dem General ein verschwommenes, zwanzig Jahre altes Foto von Mac erschien.

»McAfferty ist angeblich für mehr als hundert terroristische Anschläge innerhalb der letzten drei Monate verantwortlich. Unsere Aufgabe ist es, McAfferty und seine Anhänger zu verhaften, ihre Waffen und Munition zu beschlagnahmen und die Terrorangriffe zu unterbinden.«

Der General machte eine Pause. Ein paar Leute in der Menge begannen zu klatschen, und es wurden sogar ein paar »USA!«-Rufe laut.

»Unglücklicherweise sympathisieren etwa zehn Prozent der Zivilbevölkerung mit den Aufständischen und unterstützen sie. Zweifellos gehören dazu auch einige von Ihnen, die Sie hier sitzen. Wir glauben außerdem, dass die Aufständischen über Soldaten verfügen, bis zu einhundert an der Zahl und von einer ausländischen Macht militärisch ausgebildet. Innerhalb der nächsten zwei Wochen werden meine Männer durch Ihre Stadt patrouillieren, Durchsuchungen vornehmen, Terroristen bekämpfen und versuchen, die Gewalt zu beenden. Wir entschuldigen uns im Voraus für die Unannehmlichkeiten, die dabei entstehen könnten.«

James sah die anderen Cherubs an und schüttelte den Kopf. »Wie schmierig ist das denn?«

»Irgendwo zwischen Margarine und Altöl«, nickte Rat.

»Falls irgendjemand eine Frage hat …«, fuhr der General fort.

Plötzlich sprang James fast einen Meter in die Höhe und Hunderte von Menschen schrien entsetzt auf, als es hinter den Sitzreihen einen lauten Knall gab und eine Feuerkugel in die Luft stieg. Eine Frau kam mit blutverschmiertem Gesicht und laut weinend die Tribünentreppe hinuntergelaufen, ihr Baby fest an die Brust gepresst, während es etwas seitlich davon eine weitere Explosion gab und eine Alarmsirene zu heulen begann.

»Meine Damen und Herren!«, rief der General. »Wie es aussieht, werden wir von Terroristen angegriffen! Bitte bewahren Sie Ruhe und kehren Sie zügig in Ihre Häuser zurück!«

Es handelte sich zwar eindeutig um einen Spezialeffekt, der die Konfliktatmosphäre veranschaulichen sollte, dennoch waren alle im Publikum erschrocken und misstrauisch  – als fürchteten sie noch weitere Explosionen, während sie die Tribünen mit ihrem Gepäck und ihren 24-Stunden-Rationen verließen.

»Schmierig, ja?«, grinste Lauren, als sie hinter James die Tribüne hinunterkletterte. »Du hast ausgesehen, als wolltest du dir in die Hosen machen!«

Es gab zwar keine Explosionen mehr, aber unter den Tribünen und auf der Straße vor dem Stadion sorgte eine Rauchmaschine dafür, dass die Menge auseinanderstob, bevor auch nur einer seine Karte hervorholen und sich orientieren konnte. Es war alles darauf angelegt, dass sich die Zivilisten unsicher fühlten.

Hinter der neuen Asphaltstraße, die direkt zum Stadion führte, verlor man in einem Gewirr von unterschiedlich großen weißen Häusern und schmalen Gassen, die die Anlage einer alten Stadt nachbilden sollten, leicht den Überblick.

Meryl führte die zehn Kinder ein paar Hundert Meter aus dem Rauch heraus und sah dann auf ihre Karte.

»Es sind keine zwei Kilometer bis zu unserer Unterkunft«, erklärte sie. »Angeblich soll es hier einen Bus geben, der auf dem Gelände herumfährt.«

»War da, wo wir eben hergekommen sind, nicht eine Bushaltestelle?«, fragte Kevin.

»Ich glaube, wir sind an einer ellenlangen Schlange vorbeigekommen«, meinte Bethany. »Wahrscheinlich ist es besser, wenn wir laufen.«