23
Wie in den meisten echten Städten der Entwicklungsländer dieser Welt gab es auch in Fort Reagan nur wenige Straßenschilder, und um zusätzliche Verwirrung zu stiften, wiesen die ausgegebenen Karten viele Ungenauigkeiten auf. Deshalb fanden Meryl und die Cherubs das Haus, in dem sie die nächsten zwei Wochen über wohnen sollten, erst nach einigen Umwegen.
Um möglichst viele verschiedene reale Stadtsituationen nachzubilden, bestand Fort Reagan aus unterschiedlichsten Vierteln, deren Unterkünfte von niedrigen Betonschuppen der Elendsviertel bis zu großen Privatvillen und Hochhausreihen reichten. Meryls Gruppe bezog vier Wohnungen im vierten Stock eines grauen Betonblocks. Kazakov und Mac waren eine Straße weiter je zwei Einfamilienhäuser zugewiesen worden.
Die Inneneinrichtung der Wohnungen war so einfach wie möglich gehalten, um das Risiko zu minimieren, dass die gelangweilten und häufig betrunkenen Studenten etwas kaputt machten. Die Betonwände waren kahl, die Böden weiß gefliest und die Badezimmereinrichtung bestand aus unzerstörbarem Metall, das man eher in einer Gefängniszelle erwartet hätte. In den Küchen gab es ein paar billige Utensilien, Plastikteller, einen Kühlschrank, einen schäbigen Herd und eine Waschmaschine.
»Deprimierend«, sagte James zu Rat, als sie ihre Sachen in dem engen Schlafzimmer mit den beiden Einzelbetten und den Armeedecken darauf auspackten. Gerade hatten sie das Schild an der Wand entdeckt, das davor warnte, dass die US-Armee sich das Recht vorbehielt, für beschädigtes Eigentum Schadenersatz zu verlangen.
»Ich mag den Geruch nach nacktem Beton mit einem Hauch von Kanalisation«, grinste Rat.
»Aye aye«, machte James. Er blickte aus dem Fenster und sah im Haus gegenüber ein Mädchen. Sie griff nach hinten, um ihre langen Haare mit einer Spange zu bändigen, und die Bewegung ließ ihre Brüste deutlich hervortreten. »Oh ja, einmal das Gesicht in diesen wunderbaren Melonen versenken!«
Der Gedanke an Melonen trieb Rat augenblicklich zum Fenster, doch er reagierte etwas enttäuscht.
»Nett«, meinte er, »aber das sind bestenfalls Mangos. Da warst du bei Dana besser dran.«
»Sprich bloß nicht von ihr«, zischte James.
Rat antwortete nicht, weil die Studentin sie entdeckt hatte, mit den Fingern nach ihnen schnippte und etwas sagte, was offensichtlich mit »Perverse!« endete.
»Ach, komm schon, Baby!«, rief James. »Zeig doch mal!«
Rat brach lachend auf dem Bett zusammen, als das Mädchen das Fenster öffnete und James anschrie: »Ich schicke euch gleich meinen Freund rüber, damit er euch in den Hintern tritt!«
»Ich zahle fünf Reaganistan-Dollar pro Titte!«, rief James zurück. Das Mädchen knallte wütend das Fenster zu und zog das Rollo herunter.
Rat lag immer noch lachend auf dem Bett, als eine Minute später Lauren hereinkam.
»Was ist denn so lustig?«, wollte sie wissen.
»Nichts«, schnaufte Rat, »ich beobachte nur James ultra-geschmeidige Art, mit der Damenwelt umzugehen.«
Lauren wedelte abwehrend mit der Hand. »Davon will ich lieber gar nichts wissen … Meryl hat einen Anruf von Kazakov bekommen. In fünfzehn Minuten findet ein Strategie-Meeting statt und er will, dass wir bereit sind, bevor die Amerikaner mit den Durchsuchungen anfangen.«
James ging in den Flur und entdeckte überrascht einen kräftigen Engländer, der aus ihrem Wohnzimmerfenster schaute. Er war nur mittelgroß, aber fast genauso breit wie hoch und bestimmt niemand, mit dem man sich anlegen wollte.
»Kennst du schon den Sarge?«, fragte Lauren. »Er weiß Bescheid, hat schon mit CHERUB zusammengearbeitet.«
»Sergeant Cork, SAS«, sagte der Mann und zog eine Augenbraue hoch, als er James und Rat kräftig die Hand schüttelte. »Sechzehn meiner Jungs werden Kazakov helfen, den Aufstand in Gang zu halten.«
»Cool«, fand James. »Und was ist an unserem Balkon so interessant?«
»Sieht aus, als ob man von dem Geländer dort gut aufs Dach klettern kann. Da oben können wir einen Posten aufstellen, dann sehen wir jede Armeepatrouille schon von Weitem, wenn sie von ihrer Basis loszieht.«
»Klingt ein wenig übertrieben«, meinte James.
»Nicht, wenn wir unsere Waffen länger als ein oder zwei Tage behalten wollen«, lächelte der Sarge. »Ich trage dich für die Mitternacht-bis-vier-Uhr-Wache ein, ja?«
»Höchst unwahrscheinlich«, grinste James. »Wenn ihr uns Kids als Wachposten einsetzt, werden die Amis gleich Verdacht schöpfen. Nehmen Sie lieber Ihre eigenen Jungs.«
Um möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen, näherten sich die Cherubs Kazakovs Haus nur in kleinen Gruppen. James ging zusammen mit Rat und Lauren. Am Ende ihrer Straße befand sich eines der zwei Dutzend von Soldaten betriebenen Cafés, in denen man für zwei Reaganistan-Dollar etwas zu essen bekommen konnte. Trotz seines Riesenfrühstücks holte sich James dort einen Burger, während Lauren und Rat sich Getränke und Samosas kauften.
Als sie mit ihrem Proviant wieder auf die Straße traten, wünschte ihnen eine Patrouille einen schönen guten Tag und informierte sie darüber, dass jedem eine Belohnung von hundert Reaganistan-Dollar winke, der ihnen genaue Informationen über Waffen oder Aufständische geben konnte.
»In der Stadtmitte sind ein paar Geschäfte, in denen es Computerspiele und so was gibt«, fügte einer der Soldaten hinzu. »Es lohnt sich also, die Ohren offen zu halten.«
»Danke«, antwortete Lauren fröhlich, als die Soldaten weitergingen. Doch sobald sie außer Hörweite waren, änderte sich ihr Ton. »Wenn die so weitermachen, wird uns jeder in der Stadt verpfeifen.«
»Aber wenigstens sind die vegetarischen Samosas gut«, erklärte Rat und sah zum Himmel auf, als er ein feines, kaum hörbares Summen vernahm.
In den Rumpf einer ferngesteuerten weißen Drohne war eine reflektierende, mit Überwachungsgeräten ausgestattete Halbkugel eingebaut.
»Da werden keine Kosten gescheut«, stellte James misstrauisch fest, als er ebenfalls aufsah. »Diese Dinger verfügen über ein Lasersteuerungssystem, das vom Piloten ferngesteuert wird. So können sie einen unsichtbaren Strahl auf ihr Ziel richten. Das Geschoss findet dann diesen Strahl und trifft das Ziel punktgenau.«
»Aber bei einer Übung werden sie doch keine Gebäude in die Luft jagen«, überlegte Rat. »Allerdings würde dieses Teil die Dachposten vom Sarge in zwei Sekunden entdecken.«
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Kazakovs Haus war von außen äußerst luxuriös, hatte einen gepflegten Rasen und eine sauber gestutzte Hecke, doch abgesehen davon, dass es mehr Platz bot, war es genauso spartanisch eingerichtet wie die Wohnungen der anderen.
Die zehn CHERUB-Agenten saßen mit Meryl und dem SAS-Sergeanten in einem Keller, der weder von der Straße noch vom Haus dahinter eingesehen werden konnte.
»Ich habe die Operationen der Aufständischen in drei Zellen eingeteilt«, erklärte Kazakov. »Der Sarge und ich sind die einzigen Kontaktmänner. Zelle eins arbeitet bereits daran, ein sicheres Umfeld für Mac zu schaffen. Zelle zwei besteht hauptsächlich aus dem SAS-Team, das mit unseren achthundert zivilen Sympathisanten zusammenarbeitet.«
»Man hat uns unterwegs gerade Geld angeboten, wenn wir jemanden verraten«, erzählte Lauren. »Wie können wir sicher sein, dass wir ihnen trauen können?«
»Man kann nie völlig sicher sein«, antwortete Kazakov. »Aber die Aufständischen verdienen zwanzig Dollar pro Tag extra und das Geld bekommen sie nicht, wenn sie die Seiten wechseln. Außerdem habe ich meinen eigenen Anteil an Reaganistan-Dollar bekommen, wir können also auch ein paar Bestechungen vornehmen, wenn sich die Gelegenheit bietet.«
»Her damit!«, rief Jake. »Ich erschieße so viele Amis, wie Sie wollen, wenn ich genug für ein X-Box-Spiel kriege!«
»Halt die Klappe«, verlangte Bethany. »Das hier ist ernst.«
Kazakov fuhr fort: »Die Aufgabe von Zelle zwei ist es, die Waffen und die Munitionslager zu bewachen, die amerikanischen Patrouillen zu überfallen und mit Simulationsgeschossen zu beschießen, Farbbomben und Rauchgranaten zu zünden und überhaupt: den Amis das Leben so schwer wie möglich zu machen. Zelle drei besteht aus den Leuten in diesem Zimmer, und unsere Aufgabe ist es, meine spezielle Strategie in die Tat umzusetzen.«
»Und wie sieht die aus?«, fragte James.
Kazakov lächelte. »Die Amerikaner erwarten, dass wir in aller Stille operieren. Also ist unser Plan, ganz offen ihre Basis anzugreifen und den Sieg zu erzwingen.«
James starrte ihn entgeistert an. »Äh, hier sind dreizehn Leute im Raum und da draußen sind ungefähr fünfzehnhundert amerikanische Soldaten.«
»Zählen kann ich auch«, gab Kazakov zurück. »Aber die Amerikaner haben die Verhältnisse geändert, damit sie bei ihren Übungen gut dastehen. Normalerweise sagt man beim Militär, dass man für zehn Zivilisten einen Soldaten braucht, um den Aufstand erfolgreich zu unterdrücken. Im Irak hatten die Amerikaner höchstens einen Soldaten auf hundert Zivilisten, deshalb haben sie ständig den Kürzeren gezogen. Bei dieser Übung stehen nun achttausend Zivilisten eintausend Soldaten gegenüber. Das bedeutet, dass auf einen Soldaten jeweils nur acht Zivilisten kommen. Damit haben sie genug Männer, um täglich alle Straßen zu sperren und die Häuser zu durchsuchen. Wenn wir so mitspielen, wie sie es erwarten, können wir den Aufstand mit etwas Glück vielleicht eine Woche durchhalten, aber auf keinen Fall zwei. Zum Glück hatte ich ein paar Monate Zeit zum Planen, und ich hatte Zugang zu den Berichten über alle Übungen, die in Fort Reagan seit seiner Eröffnung vor achtzehn Monaten durchgeführt worden sind. Der erste Teil meines Plans wurde bereits erfolgreich durchgeführt, während ihr eure Sicherheitseinweisung hattet.«
Kazakov nahm einen kleinen Empfänger aus der Tasche. »Der Kommandant, General O′Halloran, hat mir netterweise das Militärhauptquartier gezeigt. Der Sarge und ich konnten einen Videotransmitter im Raum anbringen.«
Sergeant Cork lächelte. »Wir sind also immer auf dem Laufenden darüber, was sie vorhaben. Die Jungs von Zelle eins wechseln sich ab, um das Signal rund um die Uhr zu überwachen.«
Die Cherubs lächelten, verstanden aber nicht, wie ein einziges Abhörgerät – egal, wie gut es platziert war – ihnen den entscheidenden Vorteil gegenüber tausend ausgebildeten US-Soldaten bringen sollte.
»Solange die Amerikaner jede unserer Bewegungen überwachen, können wir nicht viel tun«, fuhr Kazakov fort. »Drohnen wie die, von denen James und Lauren mir vorhin erzählt haben, können nahezu lautlos zehn bis zwölf Stunden lang über ein Gebiet hinwegstreichen und jede unserer Bewegungen registrieren. Deshalb müssen wir sie loswerden, sobald es dunkel wird.«