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Der CHERUB-Campus war aus einer alten Schule hervorgegangen, die jetzt Teil des Juniorblocks war. Im Laufe der Zeit hatte sich der Campus zu einem hoch gesicherten Gelände mit einem kleinen Dorf entwickelt, umgeben von mehreren Bauernhöfen. Und während den heutigen Cherubs alle nur erdenklichen Sportmöglichkeiten und Allwetter-Sportplätze zur Verfügung standen, gab es in jenen grauen Anfangstagen nur ein einziges Fußballfeld in der Nähe des Campus-Sees.
Im Winter trat dieser See regelmäßig über das Ufer und durchweichte sowohl die genagelten Stiefel der Jungen – weibliche Cherubs gab es damals noch nicht – als auch das Spielfeld und verwandelte es in eine regelrechte Schlammwüste. Mit der zunehmenden Erweiterung des Campus entstanden auch neue, höher gelegene Sportplätze und das Seeufer wurde eingedämmt, um die jährliche Überflutung zu stoppen. Doch die alte Tradition, am Samstag vor Weihnachten ein Fußballspiel auf dem Matschplatz auszutragen, wurde jedes Jahr aufs Neue wiederbelebt.
Zu diesem Zweck wurde etwas Wasser aus dem See auf einen leichten Abhang gepumpt, von wo aus es wieder zurückfließen konnte. Dann fuhren die Gärtner mit dem Traktor über diese Fläche, und innerhalb eines halben Tages verwandelte sich ein ganz normales rechteckiges Stück Wiese in ein katastrophales Feld aus großen Pfützen und knöcheltiefem Schlamm.
Da es unmöglich war, zum Abstecken des Matschfeldes Tore aufzustellen, wurden die Enden des Bolzplatzes mit ein paar altmodischen Torpfosten markiert. Und da die Spiele immer nach Einbruch der Dunkelheit stattfanden, wurde jede Ecke mit einem Satz tragbarer Flutlichtstrahler ausgestattet, die allerdings häufig ausfielen.
Am Rande des Spielfelds gab es außerdem zwei offene Partyzelte. In dem einen wurden die Spieler abgespritzt, um sie vom gröbsten Matsch zu befreien, bevor sie für eine heiße Dusche in die Umkleidekabinen liefen; im anderen wurden Burger und Hot Dogs angeboten und aus einer großen Anlage dröhnte laute Partymusik in die Nacht hinaus.
Es war erst fünf Uhr nachmittags, aber der Himmel war bedrohlich schwarz und ein eisiger Wind pfiff über den See. Dennoch ließ sich fast keiner das traditionelle Fußballfest entgehen, und so standen vom kleinsten Rothemd bis zu Schwarzhemden wie James alle bereit: gut eingepackt, mit Fußballstiefeln oder alten Turnschuhen, Handschuhen, Mützen, dicken Trainingsanzügen und Kapuzenjacken oder Sweatshirts. Altgediente Cherubs, die zu Weihnachten zu Besuch kamen, und Dutzende von Mitarbeitern hatten sich um ein paar Tische herum versammelt und nippten an ihren Bierflaschen oder Champagnergläsern.
James selbst befand sich mitten in einer Menge am Spielfeldrand, in der sich ein paar aufgeregte Rothemden gegenseitig mit Matsch bespritzten. Als er sich gerade nach seinen Freunden umsah, tippte ihm jemand auf die Schulter.
»Kyle!«, rief James erfreut, als er seinen besten Freund erkannte. »Wann bist du denn angekommen, Mann? Warum hast du dich nicht gleich bei mir gemeldet?«
»Bin gerade erst aus Cambridge gekommen«, antwortete Kyle. »Ich hatte gehofft, um zwei hier zu sein, noch etwas essen zu können und mich ein wenig zu unterhalten. Aber der Weihnachtsverkehr ist echt grauenvoll.«
»Das ist mein Kumpel!«, freute sich James, als Kyle ihm eine Flasche Kronenberg von einem der Stehtische der Erwachsenen reichte.
»Aber halt sie möglichst unauffällig«, mahnte er.
»Und wie ist es so auf der Uni?«
»Gut«, erzählte Kyle. »Es ist wirklich nett, und es gibt auch eine große Schwulenszene. Aber so verlockend es auch ist, jeden Abend auszugehen und Party zu machen, dazu ist das Geld einfach zu knapp.«
»Letztes Mal hast du gesagt, dass du dir einen Job suchen willst.«
Kyle nickte. »Ich hab als Türsteher in einer Schwulenbar angefangen. Gibt gutes Geld, auch wenn man sich mit einem Haufen Idioten herumschlagen muss.«
»Ich hätte ja gedacht, dass du für den Job als Rausschmeißer zu klein bist.«
»Na ja, eines Abend sind ein paar großmäulige Rugbyhemden in die Bar gekommen und haben angefangen, sich über Schwanzlutscher und Homos lustig zu machen und ein paar Leute herumzuschubsen. Nachdem ich sie dann höflich darum gebeten habe, mit mir nach draußen zu kommen, hab ich sie mit dem Deckel einer Mülltonne erledigt.«
James lachte. »Schön, dass unser gutes altes Combat-Training so nützlich ist.«
»Jedenfalls, als ich dann das nächste Mal in den Laden auf einen Drink kam, hat mir der Besitzer diesen Job angeboten. Ich krieg zehn Mäuse die Stunde bar auf die Hand und so viel Alkohol, wie ich will.«
»Hört sich gut an«, grinste James, kippte drei Schluck Bier hinunter und rülpste laut.
»Spielst du mit?«, erkundigte sich Kyle.
James schüttelte den Kopf. »Gestern Abend hat mir eine Polizistin den Rücken fast ruiniert. Der Arzt sagt, wenn ich mich auch noch im Matsch herumrolle, kriege ich ihn vielleicht noch ganz kaputt.«
»Ich hab schon an dich und deine Mission gedacht, als ich gestern die Nachrichten über die Demo gesehen habe. Und wie geht′s sonst so?«
»Nicht schlecht«, meinte James achselzuckend. »Dana ist irgendwie komisch drauf in letzter Zeit, aber das ist bei Frauen halt manchmal so.«
»Frohe Prollnachten!«, wünschte Kyle, als er Lauren mit ihrem verstauchten Knöchel auf sie zuhumpeln sah.
Die meisten anderen hätten sich dafür wahrscheinlich etwas anhören dürfen, aber Lauren mochte Kyle, und da sie ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte, bekam er stattdessen eine Umarmung und einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
»Wie läuft′s?«, wollte Kyle wissen, doch noch bevor Lauren etwas sagen konnte, brach die Rockmusik ab und aus den Lautsprechern kreischte ein markerschütterndes Quietschen.
»Ich bitte kurz um etwas mehr Ruhe!«, rief Zara Asker. Wieder quiekte das Mikrofon schauerlich und Zaras Tochter Tiffany hielt sich die Ohren mit ihren kleinen Händen zu. »Die Klassenzimmer bleiben bis Neujahr geschlossen, es ist Samstagabend und ich freue mich, verkünden zu können, dass in diesem Augenblick hier auf dem Cherub-Campus Weihnachten beginnt!«
Applaus und Jubel brandeten auf und währenddessen bemerkte James, dass sich Zaras vierjähriger Sohn Joshua an sein Bein klammerte. Er hatte Meatball an der Leine, und Lauren hockte sich hin, um den kleinen Beagle zu streicheln.
»Du bist ja schon total schmutzig«, flötete sie. »Wenn dich Zara nachher in die Wanne steckt, beschwerst du dich bloß wieder!«
»Nur noch ein paar Warnungen, bevor wir anfangen«, fuhr Zara fort. »Es ist heute sehr kalt und nass. Ich kann damit leben, wenn sich ein paar von euch verletzen sollten, aber ich werde sehr böse, wenn sich jemand eine Erkältung oder gar eine Lungenentzündung holt. Das Spiel dauert fünfzehn Minuten und ich erwarte, dass im Anschluss daran jeder Spieler heiß duscht und sich trockene und saubere Sachen anzieht. Als Vorsitzende habe ich das Privileg, alle Unterlagen darüber einzusehen, wer mit wem noch eine Rechnung offen hat. Und ich darf entscheiden, wer gegen wen spielt. Ich freue mich, ankündigen zu dürfen, dass die erste Partie in diesem Jahr lautet: Rothemden-Jungen gegen Rothemden-Mädchen!«
Die Leute brüllten begeistert, als mehr als dreißig kleine Kids aufs Spielfeld stürmten. Manche traten nur zaghaft auf den Matsch, während andere waghalsig und mit vollem Tempo hineinschlitterten.
James lachte über einen kleinen Jungen, der gegen seine ältere Schwester geprallt war und sich jetzt mit ihr prügelte, während der Schiedsrichter bereits den Ball in einer großen Pfütze – die den Mittelkreis darstellte – schwimmen ließ. Los Jungs! und Los Mädels!, schallte es aus der Menge.
»Ich bin am Verhungern«, erklärte Kyle. »Diese Autobahnraststätten sind einfach nichts für mich. Was haltet ihr von einem Burger, solange da noch keine Schlange ansteht?«
»Bin dabei, wenn du mir noch ein Bier besorgst«, grinste James.
Das Spiel begann und James und Lauren folgten Kyle zusammen mit Joshua und Meatball ins Partyzelt zum Barbecue-Stand. Als Meatball das gebratene Fleisch roch, zog er aufgeregt hechelnd an der Leine. Während James auf die Burger und Hot Dogs wartete, besorgte Kyle am Getränkestand Pepsi und Bier.
Als sie kauend wieder vor dem Zelt standen, war das erste Spiel bereits vorbei und die Rothemden-Jungen hatten gewonnen. Allerdings beschwerten sich die schlammverschmierten Mädchen über den chauvinistischen Schiedsrichter, der den Jungs anscheinend in allerletzter Minute einen unverdienten Strafstoß zugebilligt hatte.
Zara sagte das nächste Spiel an, das zwischen den Cherubs aus dem sechsten und dem achten Stock des Hauptgebäudes stattfinden würde. Als James seine Nachbarn aufs Spielfeld marschieren sah, darunter seine Ex-Freundin Kerry Chang, seine Freunde Bruce, Shakeel, Andy, Rat und Kevin, feuerte er sie wild an.
»Tretet ihnen in den Hintern, achter Stock!«, rief Lauren Bethany und ihren Freunden zu, die sich auf der anderen Hälfte des Spielfeldes formierten.
Da die Stockwerke des Hauptgebäudes nicht nach Alter und Geschlecht aufgeteilt waren, standen nun neben kräftigen Sechzehn- und Siebzehnjährigen auch frisch qualifizierte Zehnjährige auf dem Feld. Bei einem ernsthaften Spiel hätte es deshalb wahrscheinlich jede Menge Verletzte gegeben, aber die Matschmeisterschaft bestand aus reinen Freundschaftsspielen – bei denen es allerdings nicht selten vorkam, dass die Kinder übereinander purzelten oder die Spieler Matschklumpen in die Zuschauerreihen warfen.
Die Rothemden waren inzwischen alle unter der Dusche und zwei Drittel der anderen Cherubs bildeten die großen Teams auf dem Spielfeld, sodass das Publikum ziemlich ausgedünnt war und größtenteils aus dem Personal, den Kindern aus dem siebten Stock und Kids wie James und Lauren bestand, die an irgendwelchen Verletzungen litten.
Da sah James am Tor auf der anderen Seite des Felds eine einsame Gestalt.
»Ich sehe was, was du nicht siehst und das fängt mit J an.«
»Oh cool«, fand Lauren. »Ich muss ihn unbedingt noch damit aufziehen, dass er in den Hintern gebissen wurde.«
Kyle hatte noch nichts von dem neuesten Campus-Klatsch gehört und musste lachen. »Was ist denn da passiert?«
Während Lauren, James und Kyle sich in Jakes Richtung bewegten – Joshua hatte gesehen, wie Zara seine Schwester Tiffany mit Keksen fütterte und war hinübergerannt, um sich seinen Anteil zu sichern –, erzählte Lauren von Jakes unheilvoller Begegnung mit den Wachhunden der Militärpolizei.
»Na, wie geht′s deinem Hintern?«, lachte Lauren, als sie hinter Jake auftauchte.
»Du nutzloses Weichei!«, brüllte James über das Spielfeld hinweg, nachdem Shakeel eine hundertprozentige Torchance vergeben hatte.
Jake wandte sich mit grimmigem Blick zu Lauren um.
»Fang bloß nicht damit an, ja?«, warnte Jake sie. »Ich hab es echt satt, dass sich jeder darüber lustig macht, und ich schwöre dir, beim nächsten Mal raste ich aus!«
»Wir sind wohl ein bisschen empfindlich, was?«, grinste Lauren.
»Tut es noch sehr weh?«, fragte Kyle immerhin ein wenig mitleidsvoller.
»Zwölf Stiche in meinem Hintern. Was glaubst du denn?«
»Am besten, du kaufst dir so einen Gummiring zum Sitzen«, lachte James.
»Lass doch mal sehen«, verlangte Lauren, griff nach seiner Trainingshose und zog kräftig daran.
»Lass das!«, schrie Jake wütend. »Findest du das etwa witzig? Lass du dir doch mal von so einem Riesenköter ein Loch in den Hintern beißen, dann sehen wir ja, wer dann noch lacht!«
Lauren schüttelte den Kopf. »Nicht weinen, Jakeylein!«
Kyle schüttelte missbilligend den Kopf. »Jetzt lass den armen Kerl doch mal in Ruhe, Lauren.«
»Es ist doch immer dasselbe«, kommentierte Lauren, als sie einen Schritt von Jake zurücktrat. »Diejenigen, die am besten austeilen können, sind die letzten, wenn′s ums Einstecken geht.«
Da wandte sich Jake plötzlich grinsend wieder zu Lauren um. »Ach ja? Ich sag dir was: Warum erzählst du deinem Bruder dann nicht einfach, dass sein Liebesleben den Bach runtergeht?«
Lauren erschrak und versuchte, so zu tun, als wüsste sie nicht, wovon Jake redete.
»Wie bitte?«, fragte sie verächtlich.
Jake zog sein Handy aus der Tasche.
»Sieh mal hier, James. Deine Schwester hat Kevin gezwungen, das Original zu löschen, aber ich hab zum Glück noch eine Kopie.«
»Jake, du bist so ein Arschloch!«, schrie Lauren wütend, als er das Bild auf dem Display vergrößerte.
Die Aufnahme leuchtete nur schwach in der Dunkelheit, aber James brauchte nicht lange, um das Motorradposter über seinem Bett zu erkennen – und die Tatsache, dass auf seinem Bett Michael Hendry auf Dana lag.
»Von wann ist das?«, wollte James wütend wissen.
»Von gestern«, grinste Jake. »Frag deine Schwester, die weiß darüber mehr als ich.«
James sah Lauren finster an. »Was weißt du?«
Lauren streckte abwehrend die Hände aus. »Du warst auf einer Mission. Ich wollte es dir ja sagen, aber ich wollte dir nicht das Weihnachtsfest ruinieren.«
»Du wusstest ganz genau, dass ich mir den Kopf darüber zerbreche, warum sich Dana so seltsam verhält«, stieß James hervor. »Du bist meine Schwester, Lauren. Wie konntest du zulassen, dass so was hinter meinem Rücken passiert?«
»Lauren ist ein Miststück«, bemerkte Jake, zuckte jedoch gleich darauf zusammen, als sich James wütend zu ihm umdrehte.
»Noch ein Wort, Jake, und ich prügle dich bis ins nächste Jahr hinein!«
Kyle hatte Mühe, den Zusammenhängen zu folgen, legte James aber besänftigend die Hand auf die Schulter. »Komm schon, Kumpel, beruhige dich.«
»Wusstest du etwa auch davon?«, fragte James vorwurfsvoll.
Kyle lächelte. »James, ich bin seit Juli nicht mehr auf dem Campus gewesen. Hol mal tief Luft und zähl bis zehn.«
»Ich soll mich beruhigen?!«, regte sich James auf. »Der halbe Campus scheint zu wissen, dass Dana mit Michael Hendry poppt, und meine eigene Schwester lügt mich glatt an …«
»Ich habe dich nicht angelogen«, verteidigte sich Lauren. »Ich wollte es dir ja sagen, aber ich hatte gehofft, dass Dana mir zuvorkommt. Und das Foto habe ich nur gelöscht, weil ich nicht wollte, dass du es auf diese Weise herausfindest.«
James war wütend, aber er glaubte Lauren, dass sie nur auf seine Gefühle Rücksicht genommen hatte. Seine eigentliche Wut galt Dana.
»Wo ist dieses betrügerische Miststück?«
»Ich habe sie nicht gesehen«, antwortete Lauren. »Du weißt doch, dass sie bei solchen Aktionen nicht gerne mitmacht. Wahrscheinlich ist sie in ihrem Zimmer und liest.«
James blickte auf das Spielfeld, wo Michael Hendry für den achten Stock als Flügelstürmer spielte.
»Gib mir das Handy«, schrie er und riss es Jake aus der Hand.
»James, beruhige dich!«, verlangte Kyle erneut und packte James energisch am Arm. Doch der riss sich los.
»Wenn mir noch einmal einer sagt, dass ich mich beruhigen soll…!«, drohte er und stürmte auf das schlammige Spielfeld.
Jake sah James feixend nach. Lauren humpelte voller Wut auf ihn zu und packte ihn an der Kapuze seiner Jacke.
»Du widerliches kleines Stück Scheiße!«, schrie sie.
»Ach, leck mich!« Jake versuchte, sich lässig aus Laurens Griff zu winden, doch da schlug ihm Lauren hart ins Gesicht.
Jake stolperte und fiel hin.
»Meine Stiche!«, stöhnte er, wand sich auf dem Boden und hielt sich den Hintern.
Lauren stemmte die Hände in die Hüften. »Du bist so ein Baby! Ich hab dich ja kaum angetippt!«, höhnte sie.