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Die Lesebrille an einer Kette um seinen Hals, die Füße in Socken auf dem Couchtisch, lümmelte Einsatzleiter John Jones auf einem zerschlissenen Sofa vor dem Fernseher. Die Nachrichten zeigten gerade die Bilder des Tages: den von Glasscherben verwüsteten und mit »Zutritt verboten«-Banderolen abgesperrten Strand.

»James, sie bringen es jetzt!«, rief er.

James kam aus der winzigen Küche der Wohnung angelaufen, mit einer Mikrowellenschale Makkaroni in der einen Hand und einer Dose Coke Zero in der anderen. John machte Platz und James setzte sich neben ihn.

»Krass!«, rief James aufgeregt, bevor er ein schmerzerfülltes Zischen von sich gab; er hatte sich die Zunge an der heißen Käsesauce verbrannt. »Nachdem ich abgehauen bin, müssen sie noch mal zugeschlagen haben. Da sind ja Scherben bis runter zur Waterloo-Bridge!«

John nickte. »Bei ihrer Flucht haben sie einen Haufen Läden in Covent Garden demoliert. Sechzig von ihnen wurden verhaftet, ein paar Cops haben Tritte abbekommen und einer eine Brandwunde von den Bomben, aber wie es aussieht, ist niemand ernsthaft zu Schaden gekommen.«

»Gut«, sagte James. »Es wär mir nämlich echt unangenehm, wenn jemand ernsthaft verletzt worden wäre, nachdem wir die Information nicht an die Polizei weitergegeben haben. Was sagt die BBC dazu?«

»Die sind hysterisch, wie zu erwarten war«, grinste John. »Der Polizeipräsident war gerade im Studio und wurde dazu befragt, wie die Sache mit der Informationsbeschaffung aussähe und warum nicht von Anfang an mehr Polizei da gewesen sei. Ich habe dich ganz kurz auf einer Aufnahme von der Absperrung an der U-Bahnstation gesehen, aber du hattest ja die Kapuze auf, sodass man dich nicht wirklich erkennen konnte.«

»Ich hätte nie gedacht, dass das so ausartet«, sagte James. »Zweihundert vielleicht, okay, aber das waren ja mindestens doppelt so viele.«

»Bradford hat die Polizei zum Narren gehalten«, seufzte John.

»Und sich selbst streng an die Vorschriften«, ergänzte James. »Er hat die Erlaubnis für den Protestmarsch eingeholt, sich in der Versammlungszone aufgehalten bis zum Marschbefehl der Polizei, und er hat sich in Luft aufgelöst, sobald der Ärger anfing. Sie werden es schwer haben, ihn für irgendwas dranzukriegen.«

»Chris Bradford ist ein schlauer Fuchs.« John fasste sich an den Rücken, als er aufstand, um ein paar Akten von der Ablage unter dem Couchtisch hervorzuholen. »Das Letzte, was wir wollen, ist, dass so jemand einen Haufen Sprengstoff und Handfeuerwaffen in die Finger bekommt …«

»Vielleicht bläst er jetzt ja die Terroristensache ab«, mutmaßte James. »War vielleicht nur so ein Gedanke, weil die SAG in letzter Zeit so wenig Aufmerksamkeit von den Medien bekommen hat. Aber nach diesem Aufstand sind die doch wieder ganz oben in den Nachrichten.«

John schüttelte den Kopf. »Von jetzt an werden dreihundert Cops auf die Straße geschickt, wenn er nur seinen Hund ausführt. Das ist ja das Schlaue daran. Die Medien werden die Polizei zu einer gnadenlosen Reaktion zwingen. Und die Polizei wird alles dafür tun, um weitere Unruhen zu verhindern. Und in der Zwischenzeit verfolgt Bradford ganz andere Pläne.«

James war halb am Verhungern gewesen, und daran hatte die überschaubare Portion Makkaroni nicht viel geändert. »Ich glaub, ich hol mir noch ein paar von diesen Donuts aus dem Kühlschrank.«

John nickte.

»Ich koche uns einen Tee. Aber ich habe gerade mit dem MI5 gesprochen und wir müssen den endgültigen Plan für heute Abend noch einmal durchgehen.«

James stellte sein Tablett auf dem Teppich ab, während John ein schwarzweißes Häftlingsfoto aus einem Ordner zog.

»Das ist unser Mann«, erklärte er. »Zumindest ist sich das Tonstudio des MI5 zu fünfundneunzig Prozent sicher, dass diese Person zu der Stimme gehört, die gestern Abend Chris Bradford auf dem Handy angerufen hat.«

»Ist das der Typ, den wir erwartet haben?«

»Mehr oder weniger«, nickte John. »Das Bild ist zwanzig Jahre alt. Sein Name ist Richard Davis, üblicherweise Rich genannt. Er war früher bei der IRA. Ist dreimal wegen Terrorismus und Mord verurteilt worden, hat aber nur zwölf Jahre im Gefängnis gesessen, bevor er im Rahmen der Amnestie anlässlich des Karfreitagsabkommens auf freien Fuß gesetzt wurde. Für uns ist interessant, dass man annimmt, er hätte der IRA im kalten Krieg Sowjetwaffen beschafft.«

James riss die Augen auf. »Ich wusste gar nicht, dass die Sowjets die IRA beliefert haben.«

»Oh doch«, bekräftigte John. »Eine Menge Leute glauben zwar, die Kommunisten hätten nur linksgerichtete Organisationen unterstützt, aber sie haben alle beliefert, die dazu beitrugen, westliche Regierungen zu unterminieren. Manchmal waren es sogar so viele Waffen, dass die IRA ein ernsthaftes Problem bekam, sie alle zu verstecken. Vor ein paar Jahren wurden in der Nähe von Dublin auf dem Gelände für ein neues Wohnbauprojekt ein Dutzend Granatwerfer und zwanzig Kisten mit Kalaschnikows gefunden, die da vergraben worden waren. Alles natürlich völlig unbrauchbar  – verrostet  –, aber wir vermuten, dass noch eine ganze Menge brauchbarer russischer Waffen im Umlauf sind.«

»Aber Bradford hat nicht viele Leute«, wandte James ein. »Außerdem veranstaltet er diese ganze Anarcho-Unruhen-Bomben-Sache nur um ihrer selbst willen. Ich kann mir deshalb nicht vorstellen, dass die SAG eine militärisch organisierte Gruppe aufbaut. Schätze, sie suchen sich eher was Spektakuläres, wie eine Panzergranate oder Plastiksprengstoff.«

»Damit könntest du recht haben«, meinte John nachdenklich. »Ein paar Leute, mit denen Davis früher wohl verhandelt hat, arbeiten heute in der russischen Waffenindustrie, und soweit wir wissen, hat er immer noch Kontakte dorthin. Vielleicht wird er auf diesem Weg nur das alte IRA-Zeug los, vielleicht beschafft er aber auch neue Waffen aus Russland oder der Ukraine.«

»Also, wie soll ich bei dem Treffen vorgehen?«, wollte James wissen.

»Bradford weiß, dass du kämpfen kannst, und will dich als Bodyguard dabeihaben. Aber versuch, dich so weit wie möglich aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Bradford kennt die Spielregeln nicht, er weiß nicht, wie das mit diesen Leuten läuft. Er ist vielleicht ein schlaues Köpfchen, aber in diesem Fahrwasser kennt er sich nicht aus. Wir machen noch eine Weile weiter, bis wir etwas mehr über Davis wissen. Nimm ein paar Abhörgeräte mit und bring sie wenn möglich so an, dass wir seine Bewegungen verfolgen können. Wenn der MI5 Davis′ Autokennzeichen hat oder seine richtige Adresse, können sie eine normale Überwachungsaktion starten.«

»Wir werden also heute Abend nicht gegen Bradford oder Davis vorgehen?«

»Was hätten wir denn davon?«, fragte John. »Zwei Typen, die sich in einem Zimmer unterhalten. Mit viel Glück könnten wir ihnen eine Verschwörungstheorie nachweisen, und damit wären sie in zwei Jahren wieder draußen. Wir müssen mehr über Davis erfahren und werden niemanden verhaften, bevor wir sie nicht auf frischer Tat in einem Raum voller Waffen erwischen und einen Haufen Überwachungsbänder und Stimmaufzeichnungen haben, um unsere Geschichte zu beweisen. Erst dann können wir sie für lange Zeit wegsperren.«

»Das kann ja Monate dauern. Und«, James grinste, »ich bin mir nicht sicher, wie lange ich noch mit dieser bekloppten Frisur leben kann.«

John grinste zurück. »Na, wir lassen uns eine Ausrede einfallen  – du willst zu deiner Tante fahren, oder so  –, damit du wenigstens Weihnachten auf dem Campus bist.«

»Und was ist mit Ihnen?«, fragte James.

John wirkte für einen Moment verletzt. »Meine Tochter wird Weihnachten mit meiner Ex und ihrem neuen Lover verbringen, daher bin ich wahrscheinlich auch auf dem Campus. Wenn wir am siebenundzwanzigsten nicht arbeiten, gehe ich mit meiner Tochter einkaufen und lasse sie mein Geld ausgeben.«

»Hört sich gut an«, lachte James und sah dann auf die Uhr. »Viertel nach sechs. Ich muss mir die Sachen für das Treffen zusammensuchen.«

»Ja.« John unterdrückte ein Gähnen, als er den Fernseher ausschaltete. »Ich setze Wasser auf und rufe meinen Verbindungsmann beim MI5 an. Davis wird euch die Handys abnehmen, bevor er euch den Treffpunkt sagt, also zieh die Stiefel mit den Ortungsgeräten an. Ich werde etwa einen Kilometer hinter dir herfahren.«

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Der Senior-Controller und Top-Einsatzleiter Dennis King saß am Steuer eines schäbigen Mini-Vans und holperte mit 90 km/h eine Hauptstraße entlang. Neben ihm saß seine junge Assistentin Maureen Evans, während hinten verschiedene CHERUB-Stimmen eine Radio-Version von Jingle Bells lautstark mitgrölten.

Rat und Lauren saßen nebeneinander und drehten voll auf. Sie spielten Luftgitarre und stampften mit den Füßen. Andy und Bethany schmetterten begeistert mit, während Ronan in der Reihe dahinter seine runde Wange an die Fensterscheibe gedrückt hatte und halbherzig summte.

Nur Jake und Kevin hielten sich völlig raus. Jake war beliebt und hatte jede Menge Freunde. Und der ein wenig jüngere Kevin wollte ihn gerne beeindrucken, um ein Mitglied seiner coolen Clique zu werden.

»Ich sag dir, das ist echt der Hammer«, flüsterte er, als er sein Handy aus der Tasche zog. »Aber zeig es nicht Lauren!«

Jake warf einen flüchtigen Blick auf das unscharfe Bild auf dem Display. In der oberen Hälfte war eine Harley Davidson zu sehen.

»Das Poster kenne ich«, sagte Jake unbeeindruckt. »Das ist das Zimmer von James Adams. Und wenn schon? Ich hab schon tausendmal gesehen, wie James und Dana rumknutschen.«

Kevin grinste. »Wenn das James ist, dann ist er aber ziemlich braun geworden.«

Jake sah noch einmal hin. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Typ auf dem Display dunkle Haut hatte.

»Verdammt noch mal!«, stieß er hervor. »Deshalb hast du so lange gebraucht, bis du endlich beim Steinschleuder-Training warst!«

Er riss Kevin das Handy aus der Hand und begann darauf herumzutippen.

»Was machst du denn da?«

»Ich verschicke das Bild«, erklärte Jake. »Ich will eine Kopie auf meinem Handy haben.«

»Das darfst du nicht verbreiten«, warnte Kevin ihn nervös. »Michael Hendry weiß sofort, dass ich das Bild gemacht hab. Hast du schon mal die Muskeln von dem Kerl gesehen? Der rupft mich wie ein Hühnchen!«

»Ich will es ja nur auf meinem Handy haben«, versicherte ihm Jake. Jingle Bells ging zu Ende und Dennis King bat sie, das nächste Lied mit Rücksicht auf seine Nerven lieber nicht mitzusingen. »Ich schicke es schon nicht weiter.«

Kevin war davon zwar nicht überzeugt, aber Jake sah ihn an, als wolle er sagen: Willst du jetzt cool sein oder nicht?

»Aber sei vorsichtig«, mahnte Kevin. Da tauchte Ronans Kopf zwischen ihnen auf.

»Was habt ihr zwei Mädels da zu flüstern?«, fragte er.

Mit Ronan war nicht leicht auszukommen. Zwar konnte er an einem Tag an die Tür klopfen, Sachen verschenken und verzweifelt auf besten Freund machen. Doch das hielt ihn nicht davon ab, einen am nächsten Tag die Treppe hinunterzuschubsen oder einem in der Umkleidekabine die Sporttasche unter die Dusche zu stellen, um einen billigen Lacher abzustauben. Er war genauso schlau wie die anderen Cherbus, aber er kapierte einfach nicht, was Freundschaft bedeutete.

»Kümmer dich um deinen Kram, Ronan«, verlangte Jake. »Du bist so ein Idiot!«

»Leere Worte…«, höhnte Ronan. Er tat so, als interessiere es ihn gar nicht mehr. Doch dann, gerade als Jake das Handy zurückgeben wollte, schnappte er es vor Kevins Nase weg.

»Gib das her!«, schrie Kevin und griff nach Ronans Arm.

»Ronan!«, stöhnte Jake. Dann wurde er plötzlich ernst und verkündete mit der Stimme eines Nachrichtensprechers: »Die heutige Schlagzeile: Eine Umfrage auf dem Campus hat ergeben, dass sechsundneunzig Prozent der CHERUB-Agenten einen akuten Durchfall-Anfall der Fahrt in einem Mini-Van mit dem Schwachkopf Ronan Walsh vorziehen würden.«

Kevin löste seinen Sicherheitsgurt und sprang auf. Er packte Ronan um die Taille und schob ihn bis zum Ende des Vans.

»Gib mir mein verdammtes Handy!«, schrie er.

»Lasst das!«, rief Maureen ärgerlich nach hinten. »Setzt euch gefälligst auf eure Hintern, sonst setzt es Strafrunden!«

Der kräftige Ronan verpasste Kevin einen Stoß, der ihn zwischen die Sitze plumpsen ließ. Dann sah er kurz auf das Handy-Display und warf es dann Lauren zu.

»Hier, Miss Schwarzhemd«, schnaubte er. »Ein Weihnachtsgeschenk für deinen Bruder. Vielleicht kannst du es ihm ja ausdrucken und rahmen lassen.«

Lauren mochte Ronan nicht, und das Letzte, was sie wollte, war, ihm die Befriedigung zu verschaffen, ihr eine unangenehme Überraschung zu bereiten. Doch als sie Kevins Handy auffing und das Bild auf dem Display sah, klappte ihr der Kiefer herunter.