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James beschloss, aus der Not eine Tugend zu machen und die Dunkelheit und seine US-Armeeuniform zu nutzen, um sich möglichst unauffällig durch einen Checkpoint an der Hauptstraße zur Barackensiedlung zu schmuggeln. Zum Glück interessierte sich der dort verantwortliche Offizier mehr für einen zwanzigjährigen Studenten und seine eingeschmuggelte Handykamera als für James′ Ausweis.
Schließlich gelangte er in ein dreistöckiges, leeres Gebäude, kaum einen Kilometer von den Wohnblocks entfernt. Da das elektrische Licht zu auffällig gewesen wäre, nutzte er seine Taschenlampe, um die Treppe in einen Raum im zweiten Stock hinaufzusteigen. An der Wand befand sich ein Wasserhahn und in der Toilette auf dem Gang schwammen Hunderte von toten Insekten.
Da es keine Möbel gab, setzte er sich auf den rauen Beton. Ein kalter Wüstenwind heulte durch die klapperigen Türen und Fenster. Er versuchte, seinen Rucksack als Kopfkissen zu nutzen, was jedoch viel zu unbequem war, abgesehen davon, dass ihn die Sandkörner auf seinem Rücken und in seinen Boxershorts fast in den Wahnsinn trieben. Aber zum Schlafen war er sowieso zu angespannt.
Ab und zu hörte er einen Armee-Hummer auf der engen Straße vorbeifahren, Schießereien zwischen den regulären Truppen und den SAS-Heckenschützen oder auch die dumpfe Explosion einer Farbgranate. Der Menge der Schüsse nach zu urteilen, hatten die SAS-Teams begonnen, auch die Sympathisanten mit Waffen zu versorgen.
James füllte seine Flasche am Wasserhahn auf und da er hungrig war, durchsuchte er seinen und Sarges Rucksack nach etwas Essbarem. Er fand zwar nichts, aber dafür entdeckte er die kleine Geschenktüte aus dem Hotel mit dem Kartenspiel und dem Ultimativen Blackjack-Handbuch.
James klemmte seine Taschenlampe so zwischen die Rucksäcke, dass der Lichtkegel unauffällig aber hell genug auf die Buchseiten fiel. Dann blies er den Sand vom Boden weg, breitete die Karten zwischen seinen Beinen aus und begann zu lesen.
Nach ein paar Seiten über die grundlegenden Blackjack-Regeln und einer kurzen Biografie der Mitglieder der »Blackjack Hall of Fame« – die ein Vermögen gemacht hatten und nun in keinem Casino der Welt mehr Zutritt hatten – kam James zu den Kapiteln, die sich mit der Mathematik und der Strategie der erfolgreichsten Kartenzähler befassten.
Wahrscheinlich hätten die meisten schon bei der ersten einfachen Gleichung aufgegeben, aber das Mathematikgenie in James fand den Gedanken ziemlich reizvoll, mit ein paar einfachen Kopfrechnungen und Taktiken ein Casino zu schlagen und Millionen von Dollar zu gewinnen.
Beim Weiterlesen stellte er fest, dass man dazu nicht mal unbedingt ein Genie sein musste. Man musste nur fünf Dinge gleichzeitig im Kopf behalten können: das Blatt des Croupiers, sein eigenes Blatt, den Stand der positiven und negativen Karten, die Gesamtzahl der noch im Kartenschlitten verbliebenen Karten und schließlich – wenn man einen zusätzlichen Vorteil haben wollte – die Anzahl der noch im Spiel verbliebenen Asse.
Laut diesem Buch konnte sich jeder, der ein paar Stunden am Tag mit einem Kartenspiel übte, die grundlegenden Kenntnisse des Kartenzählens aneignen. James verstand bereits das Grundprinzip, wann man besser aufhören und wann man noch eine Karte nehmen sollte. Der nächste Schritt war, das schnelle Austeilen zu üben, mit perfekter Strategie zu spielen und dabei den Überblick über alle ausgeteilten Karten zu behalten.
Er begann, die Karten auf dem Betonboden auszuteilen, erst langsam, dann immer schneller, bis er das richtige Gefühl dafür bekam. Er hatte keine Eile: Bis Sonnenaufgang waren es noch zehn Stunden – und noch weitere viereinhalb Jahre, bis es ihm erlaubt war, sich an einen Casino-Tisch zu setzen.
»Guten Morgen, Döskopp!«
James zuckte zusammen und riss die Augen auf. Sein Kopf schmerzte furchtbar. Die niedrig stehende Sonne blendete ihn und er erwartete fast, einen Gewehrlauf vor seiner Nase zu sehen. Doch zu seiner Erleichterung erkannte er schließlich Gabrielles spindeldürre Beine, die in ein paar Laufshorts steckten.
»Was willst du denn mit den Karten?«, fragte sie.
»So ist mein Bruder«, grinste Lauren. »Spielt immer gerne mit sich selbst!«
James hatte in dieser Nacht kaum geschlafen und brauchte eine Weile, bis er alle Fakten wieder beisammen hatte: Sein Kopf und sein Nacken taten ihm weh, weil er an eine Betonwand gelehnt über den Karten eingeschlafen war. Lauren und Gabrielle waren da, weil er seine Koordinaten noch am Abend zuvor per GPS an Kazakov durchgegeben hatte. Und sie hatten Zivilklamotten dabei, damit er sich wieder ans Tageslicht wagen konnte.
»Wie steht′s?«, erkundigte er sich und hielt sich stöhnend den Rücken, als er aufstand.
»Kazakov schwebt auf Wolke sieben, weil die Army durchdreht. Die Drohnen sind erledigt. General Shirley läuft auf seinem Kommandoposten Amok, widerruft alle paar Stunden seine Befehle, rennt herum wie ein kopfloses Huhn und sorgt dafür, dass er niemals einen zweiten Stern an seinen Helm bekommt. Die SAS-Leute haben sechzig gelangweilte Collegestudenten rekrutiert und bewaffnet und über hundertfünfzig US-Soldaten ausgeschaltet. Oh ja, und Andy hat Bethany einen gewaltigen Knutschfleck verpasst.«
Die letzte Information brachte James zum Lachen. »Ist ja der Hammer! Und mit wie vielen Jungs hat sie geknutscht?«
Lauren ignorierte den Seitenhieb auf ihre beste Freundin und hob James′ Buch vom Boden auf. »Das ultimative Blackjack-Handbuch«, schnaubte sie. »Ich fasse es nicht! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du die Casinos schlagen kannst, oder?«
»Das ist eine erprobte Technik«, entgegnete James und schnappte sich sein Buch wieder.
»Na, immerhin erwische ich dich zum ersten Mal mit einem Buch, das keine Pop-ups hat.«
»Du bist ja wahnsinnig witzig drauf heute Morgen«, gab James ironisch zurück, während ihm Gabrielle seine Kleidung reichte. »War es schwer, hier herüberzukommen?«
»Wir haben den richtigen Moment abgewartet«, erklärte Gabrielle. »Durch die Wanze, die Kazakov im Hauptquartier installiert hat, wissen wir noch vor den Soldaten, welche Befehle sie bekommen. General Shirley hat den Befehl gegeben, die Anzahl der Checkpoints zu reduzieren, weil unsere Heckenschützen sie ins Visier genommen und mit Farbgranaten beworfen haben.«
»Der einzige Haken war, dass wir dich über Funk nicht erreicht haben, du taube Nuss«, beschwerte sich Lauren.
»Tut mir leid«, gähnte James. »Das Headset muss mir im Schlaf heruntergefallen sein.«
»Den Amerikanern gefällt das alles gar nicht«, freute sich Lauren. »Eines der Erfolgskriterien des Generals ist ein Minimum an Verlusten unter der Zivilbevölkerung, aber jedes Mal, wenn an einem Checkpoint eine Granate hochgeht, wird ein halbes Dutzend Zivilisten in die Luft gesprengt.«
James tauschte die Uniform gegen seine zerrissenen Jeans und die alten Laufschuhe ein. »Kazakov ist der geborene Kriegstreiber«, stellte er fest. »Ich meine, er ist ein Psycho, aber man muss ihn auf gewisse Weise auch bewundern.«
»Er hasst die Amis so sehr«, bestätigte Lauren, »dass ich glaube, er wünschte sich echte Waffen.«
Im Laufe des zwölf Stunden andauernden Katz- und Maus-Spiels in den Straßen von Reaganistan entdeckten die Amerikaner unweigerlich einige Waffenverstecke, brachten einige Aufständische zur Befragung ins Armeelager und sorgten für ein paar Verluste unter ihnen.
Sobald General Shirley den Befehl gab, dass sich die Truppen zum Hauptquartier zurückziehen sollten, befahl Kazakov – der kaum eine Stunde geschlafen hatte –, dass alle Aufständischen die Positionen wechseln sollten. Daher gingen Lauren und Gabrielle mit James nicht mehr in die Wohnung zurück, sondern in Kazakovs Einfamilienhaus.
Unterwegs hielten sie an einem der kleinen Supermärkte an und gaben fünfzehn Reaganistan-Dollar für Mehl, Eier, Milch, Schinken, Orangensaft, Puderzucker, Nutella, Sprühsahne und Ahornsirup aus, damit Lauren das Frühstück zubereiten konnte.
Rat, Bethany und Andy waren bereits mit einer Ladung Waffen im Haus, während Mac im Nebenhaus von einem fünfköpfigen SAS-Team bewacht wurde. Gabrielle bot ihre Hilfe beim Pfannkuchenbacken an, doch da Lauren gern kochte, wollte sie ihr Geheimrezept nicht preisgeben.
Also setzte sich Gabrielle James gegenüber auf eines der großen Wohnzimmersofas.
»Gemütlich«, gähnte James, legte sich zurück und rutschte herum, um seinen Rücken zu kratzen. »Nur dieser Sand ist echt überall.«
»Man kann nichts dagegen machen, weil die Türen und Fenster nicht richtig schließen«, nickte Gabrielle und ließ sich von seinem Gähnen anstecken. »Gestern Abend habe ich in der Wohnung geduscht und frische Sachen angezogen, aber zehn Minuten später hat es schon wieder wie wahnsinnig gejuckt.«
»Wem sagst du das«, meinte James.
»Du schürfst dir noch die Haut ab«, warnte Gabrielle und kam zu ihm hinüber. »Lass mich das mal machen.«
James setzte sich auf und sie legte ihre Handfläche auf sein T-Shirt und rieb auf und ab.
»Oh ja, genau da«, schnurrte James. »Ich dusche nach dem Frühstück, wenn ich mich so lange wach halten kann.«
»Wie kommst du eigentlich mit der ganzen Sache klar?«, erkundigte sich Gabrielle. »Ich meine, das mit Dana.«
Es war eine unangenehme Frage. James wusste, dass es Gabrielle viel mehr verletzt hatte als ihn, dass Michael und Dana miteinander herummachten.
»Ich hatte schon geahnt, dass da irgendwas nicht stimmt«, meinte James. »Erst war noch alles bestens: Ich habe eine Megageburtstagsparty zu meinem Sechzehnten bekommen, und in den Wochen darauf waren wir wie die Karnickel, und dann will Dana ganz plötzlich nicht mehr, dass ich sie anfasse und behauptet, es sei ihr alles zu viel.«
Gabrielle lächelte. »Das war bei Michael anders. Ich glaube, es hat ihm gefallen, gleich zwei Mädchen am Start zu haben. Ich war auf dem Campus, ich wusste also, dass er Zeit mit Dana verbrachte. Aber als ich ihn darauf angesprochen habe, sagte er, ich wäre paranoid und dass sie zusammen an einem Geschichtsprojekt arbeiteten.«
»Geschlechtsprojekt scheint es eher zu treffen«, grinste James.
»Schätze, das muss ich wohl auf die Liste mit den Erfahrungen setzen«, seufzte Gabrielle. »Aber es heißt, dass man die erste große Liebe am schwersten überwindet und ich habe ihn wirklich, wirklich geliebt.«
James legte Gabrielle die Hand auf den Arm. »Ihr zwei hattet eine richtig intensive Beziehung. Wir Jungs haben mal allen Mädchen Preise verliehen und du hast den für das Mädchen, das als erstes heiratet, gewonnen.«
Gabrielle lachte. »Wann war das denn?«
»Vor Ewigkeiten, irgendwann im Sommer oder so. Bei einem dieser langweiligen Missionssicherheitskursen haben die Jungs über Mädchen geredet und alle möglichen Kategorien erfunden.«
»Und was haben die anderen bekommen?«
»Das sollte ich wahrscheinlich gar nicht verraten«, lächelte James. »Amy Collins hat den Preis für den sexiesten Ex-Cherub bekommen. Kerry den für die schönsten Beine und am schwersten ins Bett zu kriegen .«
»Das sage ich ihr«, kicherte Gabrielle.
»Bethany hat den Preis für das beste jüngere Mädchen bekommen, auch wenn ich bei ihr für den Preis für das Mädchen, dem man am liebsten eins aufs Maul geben würde, gestimmt habe«, fuhr James fort. Ihm war klar, dass er gerade viel mehr ausplauderte, als er eigentlich sollte, aber es freute ihn, dass er Gabrielle zum Lachen brachte.
»Hat Dana auch was bekommen?«
»Beste Titten«, nickte James. »Mann, war ich stolz!«
»Ihr Jungs seid klasse«, prustete Gabrielle und ließ sich vor Lachen neben James auf die Armlehne des Sofas plumpsen. »Was noch?«
»Ach, das war jede Menge«, meinte James. »Aber es ist schon ewig her, das meiste hab ich vergessen.«
»Du bist echt witzig, James«, stellte Gabrielle fest. »Ich glaube, das ist auch der Grund dafür, warum du mit so vielem durchkommst.«
»Du weißt, dass ich dich schon immer gern hatte«, sagte James vorsichtig und legte ihr den Arm um den Rücken. »Ich meine, wir beide …«
»Nein, nein, neiiiinnn!«, schrie Gabrielle, sprang auf und lachte noch lauter. »Wir Mädels haben darüber gesprochen, dass du neulich Kerry angemacht hast. Und Lauren und Kerry haben beide gesagt, dass du so ein scharfer Idiot bist, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bevor du es bei mir versuchst.«
James spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. »Kerry hat euch davon erzählt?«
»Du weißt doch, wie Mädels sind«, zog Gabrielle ihn auf, »wir lieben ein bisschen Tratsch.«
»Weiß Bethany davon?«, fragte James ernst. »Sie hat eine große Klappe und wenn Bruce das erfährt, haut er mir den Schädel ein.«
Gabrielle schüttelte den Kopf. »Nein, das wissen nur Lauren und ich.«
»Pfannkuchen!«, rief Lauren fröhlich und kam mit zwei Tellern frisch gebackenen Pfannkuchen herein. »Was ist denn so lustig?«
Gabrielle zeigte auf James und musste schon wieder lachen. »Rate mal, was er gemacht hat!«
»Hab ich dir doch gleich gesagt«, quiekte Lauren, als sie James einen Teller, Messer und Gabel reichte. »Fünf Minuten allein mit etwas, das auch nur annähernd weiblich ist …«
James war verlegen, aber mindestens genauso hungrig und der Duft von Laurens frischen, reichhaltigen Pfannkuchen ließ seinen Magen knurren.
»Oh, jetzt schmollt er«, neckte ihn Lauren, als er auf seinen Teller starrte. »Der arme Kleine!«
James hatte sich völlig zum Idioten gemacht und war klug genug, um zu wissen, dass alles, was er zu seiner Verteidigung hervorbrachte, die Sache nur noch verschlimmern würde.
»Die Pfannkuchen sehen lecker aus«, sagte er deshalb nur und versuchte, das Kichern zu ignorieren und sein rot angelaufenes Gesicht zu verbergen.
»Ich wünschte, ich hätte mein Handy, um Kerry eine SMS zu schicken«, schniefte Gabrielle. »Das wird ihr gefallen!«