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Die Opfer der letzten Schlacht  – es waren weitere siebzig  – mussten sich alle im Verwaltungsgebäude in der Nähe des Stadions für tot erklären lassen, bevor sie in die Reinigungsstation nebenan gehen konnten.

Die meisten von ihnen hatten nur oberflächliche Treffer auf der Kleidung und ein paar Farbspritzer auf der bloßen Haut abbekommen. Da die Farbe bei Kontakt mit Wasser aufschäumte und sich ausbreitete, wurden die Opfer mit einer süß duftenden Lösung eingesprüht, bevor sie die einzelnen Duschkabinen aufsuchen konnten. Stark verschmutzte Kleidung wurde durch billige Baumwollhosen und T-Shirts ersetzt und danach gewaschen und getrocknet. Währenddessen verbrachten die Toten vierundzwanzig Stunden in einem Schlafsaal, bevor sie wieder ins Manöver einrücken durften.

Bei Treffern aus nächster Nähe oder Farbe in den Augen war der Reinigungsprozess jedoch nicht ganz so einfach. Die Farbe war zwar nicht giftig, konnte aber zu Reizungen führen, wenn sie zu einer kalkigen Kruste eintrocknete, und musste daher sorgfältig entfernt werden.

James war nackt und stand mit den Handflächen an einer gefliesten Wand, während ihn ein schlaksiger Soldat mit lauwarmem Wasser abspritzte. Eine Kollegin im Gummianzug übernahm die weitere Arbeit, besprühte ihn mit einem Anti-Schaum-Gel und rubbelte ihn mit einer Bürste an einem langen Stiel von oben bis unten ab. Eine würdelose Prozedur.

»Backen auseinander«, befahl sie und James lief ein Schauer über den Rücken, als sie ihm einen Sprühstoß eisigen Gels verpasste.

»Umdrehen.«

Gerade in diesem Moment erklang eine Ankündigung über den Lautsprecher.

»Hier spricht General Sean O′Halloran, der Kommandant des Hauptquartiers. Aufgrund der erfolgreichen Aktion der Aufständischen wird diese Übung jetzt ausgesetzt. Das Zivilpersonal kehrt in die Unterkünfte zurück, das militärische Personal ins Lager. Bitte achten Sie auf weitere Meldungen. Ende der Durchsage.«

James hörte ein paar Jubelrufe von den Aufständischen, die hinter einer Trennwand aus Sperrholz in der Schlange zur Dusche standen.

»Alles fertig, Süßer«, sagte die Frau in Gummi und warf James ein Handtuch zu. »Setz dich da drüben hin und warte auf die Untersuchung.«

James trocknete sich schnell ab, nahm dann seinen Rucksack und eine Tüte mit seinen schmutzigen Sachen und setzte sich mit dem Handtuch um die Hüften auf einen der Plastikstühle. Ein kräftiger Mann mit grauer Körperbehaarung war der Einzige, der außer ihm dort wartete.

Am anderen Ende des Raums lag ein dunkelhäutiger Soldat und wurde unter grellem Licht von ein paar Sanitätsoffizieren untersucht, die sichergehen wollten, dass keine Farbreste mehr auf seiner Haut waren. Besondere Aufmerksamkeit richteten sie auf die Reinigung seiner Augen mit destilliertem Wasser und Wattepads.

James hörte das Funkgerät in seiner Tasche knistern und zog es hervor.

»Kazakov, sind Sie das?«

»Ahh!«, rief Kazakov fröhlich. »Was habe ich gehört? Du hast uns wegen einer Frau im Stich gelassen?«

James war die Geschichte peinlich und er war sich nicht sicher, ob er die Wahrheit sagen sollte.

»Die Sache hatte einen ziemlichen Haken«, sagte er zögernd. »Der Geheimdienst der Armee hat mich auf einer Überwachungskamera wiedererkannt. Am Ende haben mich drei weibliche Geheimdienstoffiziere festgehalten und mir mit allen möglichen ekelhaften Sachen gedroht.«

Kazakov schnaubte und es hörte sich an, als ob mehrere Cherubs im Hintergrund lachten. »Von einer hübschen Frau reingelegt! Die ganze Erfahrung, die tolle Ausbildung und du fällst auf die Femme fatale herein! Auf den ältesten Trick der Welt!«

»Sie hat gedroht, mich mit einer Sonde zu verbrennen«, beschwerte sich James. »Das war echt nicht okay!«

»Der alte General Shirley ist am Ende ziemlich verzweifelt gewesen«, lachte Kazakov. »Hast du ihre Namen mitbekommen? Dann werde ich mich in meinem offiziellen Bericht über sie beschweren.«

»Land, Sahlin und Jones«, antwortete James. »Sahlin war der Boss. Wo sind Sie denn jetzt?«

»Ich bin mit dem Commander in der Kommandozentrale und warte auf Shirley. Ich bin schon gespannt, wie er versucht, sich aus dem Schlamassel herauszureden.«

»Warum ist er denn nicht da?«, fragte James.

»Klein Kevin hat ihn mit einer Granate erwischt«, lachte Kazakov. »Und da er keine Brille aufgehabt hat, muss er erst gereinigt werden.«

Bis dahin hatte James keine Verbindung zwischen dem uniformierten General, der ihnen im Stadion die Einweisung gegeben hatte, und dem schlaffen Kerl auf dem Stuhl neben ihm hergestellt. Doch der sah ihn jetzt böse an.

»Gib das her«, verlangte General Shirley und riss James das Gerät aus der Hand. »Kazakov, Sie Betrüger, glauben Sie ja nicht, dass Sie damit durchkommen!«

»General«, antwortete Kazakov herzlich, »ich freue mich immer, wenn ich einen würdigen Gegner habe. Wenn aber keiner greifbar ist, freue ich mich fast ebenso sehr, kleine Scheißer wie Sie auszulöschen.«

James musste sich beherrschen, um nicht laut zu lachen.

»Sechs Millionen Dollar teure Drohnen!«, tobte Shirley. »Das steht nicht im Regelbuch, Kazakov. Sind Sie wahnsinnig geworden?«

»Wir haben fünf Teenager dorthin geschickt«, brüstete sich Kazakov. »Eine Pfadfindertruppe! Und Sie haben Ihre wertvollste Informationsausrüstung nur von ein paar Technikern bewachen lassen!«

»Und das mit dem verdammten Abführmittel ist so was von hinterhältig und niederträchtig!«, schrie Shirley. »Die Kanalisation ist verstopft und die Männer müssen in ihre eigenen Helme scheißen!«

Kazakov knurrte, was sich für James wie das Schnurren einer Katze anhörte.

»Im Krieg geht es darum, die schwächsten Stellen des Gegners zu finden und auszunutzen. Es gibt keine Regeln, General, da hält man sich nicht an eine Vorlage. Ohne sauberes Wasser ist eine Armee geschlagen. Hat man Ihnen das auf der Militärschule nicht beigebracht?«

»Kazakov, ich führe diese Manöver seit über dreißig Jahren durch und eine so hinterhältige Gemeinheit ist mir noch nie begegnet!«

»Wissen Sie, was Ihr Problem ist, Shirley?«, brüllte Kazakov zurück. »Als Sie in West Point ihre glänzenden Schuhe poliert und Bücher gelesen haben, war ich in Afghanistan. Bei minus fünfzehn Grad und bis zu den Knöcheln in gefrorenem Matsch und dem Dreck anderer Männer. Ich habe gegen Guerillas gekämpft, die ihre eigene Großmutter gefressen hätten, wenn es für sie von Vorteil gewesen wäre. Krieg ist gemein und hinterhältig. Wenn man kämpft, dann kämpft man, um zu gewinnen. Im Krieg gibt es keine Regeln, General. Vergessen sie Humanität, vergessen Sie NATO-Richtlinien, entmilitarisierte Zonen und Nahrungsmittelabwürfe. Aus diesen Gründen habt ihr Amis in Vietnam verloren und aus diesen Gründen treten sie euch im Irak in den Arsch!«

»Immerhin haben wir den Kalten Krieg gewonnen«, gab der General zurück. »Wir haben euch in euren kommunistischen Hintern getreten. Und da wir schon von Afghanistan reden, haben die Russen diesen Krieg nicht auch verloren?«

»Den Krieg hat nicht die Armee verloren, das haben die Politiker erledigt!«, schrie Kazakov.

Gleich darauf erklang eine andere Stimme aus dem Funkgerät.

»General Shirley, diese Streiterei ist sinnlos«, sagte General O′Halloran ruhig. »Im Augenblick hängen tausend Soldaten, achttausend bezahlte Zivilisten und das teuerste Militärübungsgelände der Welt in der Luft. Ich schlage vor, wir treffen uns um zwanzig Uhr im Büro und beraten über eine Strategie, wie wir diese Übung mit einem überarbeiteten Szenarium neu starten können.«

»Ich werde da sein«, knurrte Shirley. »Aber ich arbeite nicht mit diesem Russen zusammen. Ich will meine Männer nicht seinen illegalen Methoden aussetzen und ich will, dass er aus Fort Reagan verschwindet!«

»Wir wollen keine übereilten Entscheidungen treffen«, entgegnete General O′Halloran und James musste lächeln, als er im Hintergrund Kazakov brüllen hörte: »Ich bin kein Russe, verdammt noch mal, ich bin Ukrainer!«

Das Funkgerät knisterte. General Shirley machte Anstalten, es James wiederzugeben, doch im letzten Augenblick holte er aus und schmetterte es gegen die Wand, dass die Kunststoffhülle zerbrach. Dann stand er ruckartig auf und nahm die Plastiktüte mit seinen schmutzigen Sachen.

Die Sanitäter drehten sich nervös zu ihm um.

»General, wir sollten nachsehen, ob Ihre Augen …«

»Ich sehe ausgezeichnet«, grollte der General, stürmte um die Trennwand herum und schob sich bis ans vordere Ende der Schlange zu den Duschen vor.

Theoretisch gesehen unterstand General Shirley während der Übung den Befehlen des festangestellten Personals von Fort Reagan, aber niemand hatte Lust, sich mit ihm anzulegen. Bevor er in der ersten frei werdenden Dusche verschwand, drehte er sich mit rotem Gesicht noch einmal um und erkannte mehrere seiner Leute in der Schlange hinter ihm.

»Auf der anderen Seite der Trennwand sitzt ein Junge«, kläffte er wütend. »Kurze Haare, blaue Augen, kaum älter als sechzehn. Er ist der Grund dafür, warum ihr in den letzten Stunden so viel Zeit auf dem Klo verbringen durftet. Ihr wollt euch doch sicher dafür bei ihm bedanken, oder?«

James wand sich auf seinem feuchten Plastikstuhl, als die kräftig gebauten Soldaten von der anderen Seite an die Wand hämmerten und ihm eine Reihe von ziemlich unangenehmen Dingen androhten  – von Hintern versohlen über Kastrieren bis hin zur guten alten Schlagstockzüchtigung.

»Du bist tot!«, schrie einer und hämmerte so wild gegen die Wand, dass sie erzitterte.

James hatte sich im Laufe der Zeit schon einige Feinde gemacht, aber ein ganzes Bataillon Soldaten, das war neu für ihn. Und es gefiel ihm nicht im Geringsten.