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Da James nicht länger beobachtet werden wollte, schwang er den Hammer zuerst gegen die Überwachungskamera. Nach zwei Schlägen brach das Gehäuse auseinander  – und einer der Fahrgäste sprang von seinem Platz auf.

»Was zum Teufel machst du da?«

James versuchte, möglichst bedrohlich auszusehen.

»Ich werde Ihnen nichts tun«, sagte er. »Hinsetzen !«

Doch sein Gegenüber war groß und ließ sich von einem Sechzehnjährigen nicht einschüchtern. James war hin- und hergerissen: Wenn er auf einer Mission zuschlagen musste, dann diente das letztendlich einem guten Zweck, aber wie war das jetzt? Es gefiel ihm nicht, jemandem die Nase einzuschlagen, nur damit er ein paar schnelle Dollar machen konnte.

Der Kerl blieb einen Augenblick lang stehen und James dachte schon, dass seine Drohung doch gewirkt hätte. Als er aber mit dem Hammer die Kamera aus der Halterung riss, trat der Mann einen Schritt näher und versetzte ihm mit beiden Händen einen Stoß.

James war verzweifelt. Er konnte sich unmöglich einfach hinsetzen und auf die Handschellen warten, also schlug er zu. Nach einem harten Schlag ins Gesicht rammte er ihm das Knie in den Magen, und der Mann krümmte sich und taumelte zurück. Ein letzter Stoß ließ ihn mit dem Kopf gegen die erste Tür schlagen.

»Ich habe Sie gewarnt, sich da rauszuhalten«, brüllte James ihn an, als seine Frau aufschrie. »Und die da soll gefälligst mit dem Krach aufhören!«

Es war einer der furchtbarsten Momente in James′ Leben. Er hatte Angst. Er hatte jemanden geschlagen, der ihn nur daran hindern wollte, den Zug zu demolieren. Trotz einer langen Reihe von schlechten Entscheidungen und dummen Handlungen schien dieser Moment der schlimmste zu sein.

Doch das bedeutete nicht, dass James bereit war, aufzugeben und sein ganzes Leben in den Sand zu setzen. In einer Ecke des Fensters klebte ein dreieckiger Aufkleber mit einem roten Punkt in der Mitte, um den herum zu lesen war: Hier einschlagen.

James schlug kräftig zu. Der erste Schlag ließ das Verbundglas splittern, der zweite verwandelte es in ein Netz aus kleinen Scherben. James trat zurück, umfasste mit beiden Händen den Haltegriff über ihm und trat mit beiden Füßen zu. Seine Turnschuhe stießen durch das Glas, drückten das Scheibenrechteck hinaus und ließen es auf die Straße darunter krachen.

James beugte sich durch das Loch, doch was er sah, entsprach ganz und gar nicht seiner Vorstellung. Das einspurige Gleis wurde vom Zugwagen gänzlich umfasst, sodass ihn draußen nur der Sturz auf die sechsspurige Straße in fünfzehn Metern Tiefe erwartete. Nervös sah er zu dem großen Kerl zurück, der an der Tür auf dem Boden saß, sich den Bauch hielt und prüfte, ob seine Sonnenbrille noch heil war.

James war bei der ganzen Sache unwohl. Aber zugleich stellte er sich vor, wie Lauren und all seine Freunde reagieren würden, wenn man ihn hinauswarf  – und aus irgendeinem Grund schien ihm diese Erniedrigung schlimmer als das Risiko, zu Tode zu stürzen.

Aus dieser Höhe konnte er definitiv nicht springen. Selbst wenn er sich bei der Landung nicht beide Beine brach, würde er zwei Sekunden später von einem Auto überfahren werden. Er musste also zuerst aufs Dach klettern, um sich von dort irgendwie auf den Betonfahrbalken des Zuges fallen zu lassen.

Auf dem Höhenhindernis des Campus′ hatte er zwar schon schwierigere Abschnitte überwunden, doch hier war das Problem, dass er keine Ahnung hatte, ob er überhaupt irgendwo hinunterkommen würde  – abgesehen von den Bahnhöfen, an denen bestimmt die Cops auf ihn warteten.

Außen am Zug befand sich ein Haltegriff für die Wartungscrews und Putzteams, die für den Außenbereich zuständig waren. James hielt sich daran fest, trat auf einen Plastiksitz und dann aufs Fensterbrett.

»Du bringst dich um!«, rief die Frau.

»Gut so!«, antwortete der Mann.

James war stark und konnte sich problemlos zum Zug umdrehen und die Beine aufs Dach schwingen. Da die Einschienenbahn ihre Energie von den Gleisen darunter bezog, gab es keine Überleitungen oder Kabel, die ihn daran hinderten, rasch über das gewölbte Dach zum anderen Ende der Bahn zu laufen.

An beiden Enden hatte der Zug eine aerodynamisch abgeflachte Nase. James beugte sich über das Heck, um zu sehen, wie es dahinter weiterging, und blickte direkt in das Gesicht eines etwa sechsjährigen Mädchens, das drinnen auf einem Sitz stand und hinaussah. Sie kreischte erschrocken auf und ein Tourist drehte sich um und filmte James mit seiner Videokamera, als er über die Glasnase glitt und unsicher auf dem etwa einen Meter breiten Betonstreifen vor dem Zug landete.

Erst jetzt wurde ihm klar, dass der Zug mit seinen beiden Nasen in beide Richtungen fahren konnte. Vielleicht erwartete ihn im Reef ein Begrüßungskomittee, aber vielleicht lenkten sie den Zug auch einfach wieder zum Vancouver zurück und überfuhren ihn dabei.

Er durfte nicht darüber nachdenken. Die Elektroschiene und die Antriebe für den Zug waren an beiden Seiten des Fahrbalkens eingebaut, sodass vor James ein schmaler, aber völlig ebener Streifen Beton lag, der sich in der Dunkelheit verlor.

Rennen wäre zu gefährlich gewesen, daher ging er so schnell wie möglich bis zu dem ypsilonförmigen Stützpfeiler des Fahrbalkens zwanzig Meter hinter dem Zug. Jeder Arm des Y trug eines der Gleise, aber es gab weder Fußstützen noch Sprossen, an denen er hätte hinunterklettern können. Selbst wenn er in die Gabel des Y gerutscht wäre, wäre er noch zu hoch oben gewesen, um zu springen.

Als er weiterging, hörte er ein verdächtiges Rumpeln. Zuerst dachte er, sein Zug würde ihn tatsächlich verfolgen, doch es war ein anderer, der aus dem Bahnhof beim Reef auf einer zweiten, gegenüberliegenden Spur angefahren kam. Er beschleunigte stark und als er an ihm vorbeisauste, war er an die achtzig Stundenkilometer schnell. Der Luftzug ließ James zusammenkauern und sich an den Seiten des Betonstreifens festhalten.

Als er sich wieder aufrichtete, suchte er erneut verzweifelt nach irgendeiner Stütze mit Sprossen oder einem Punkt, an dem die Gleise über ein Gebäude führten, sodass er auf ein Dach springen konnte. Während sich der Zug auf dem Nebengleis entfernte, entdeckte James im Schein der Rücklichter endlich einen möglichen Ausweg: Keine fünfzig Meter weiter war unter den Schienen eine alte Reklametafel für einen Call-Girl-Service angebracht.

James warf nervös einen Blick nach hinten und joggte dann auf das Schild zu. Der Zug bewegte sich zwar nicht, aber vom Strip bogen drei Polizeiwagen mit blitzenden Blaulichtern auf den Reef Drive ein.

Die Tafel war etwa zehn Meter hoch, aus Aluminiumblech und wurde von drei hölzernen Streben gehalten, die auf dem Dach eines Fast-Food-Restaurants befestigt waren. Sie endete nur ein paar Zentimeter unterhalb des Fahrbalkens. James ließ sich über den Betonrand gleiten und setzte den Fuß auf das Aluminium.

Da die Reklametafel dem Wüstenwind standhalten musste, wusste er, dass sie sein Gewicht tragen würde. Doch er erschrak trotzdem, als er den Aluminiumholm am oberen Rand der Tafel packte: Der ganze Rahmen bog sich und das Aluminium wölbte sich unter seinem Gewicht.

Das nächste Stück, das er zu bewältigen hatte, erinnerte ihn an das Herunterrutschen an der Stange des Campus-Höhenhindernisses, außer dass man hier — um die Sache ein wenig komplizierter zu gestalten — auch noch an den Scheinwerfern vorbei musste, die oben an der Tafel montiert waren. Die Gehäuse waren so heiß, dass James aufpassen musste, um sich nicht daran zu verbrennen, und Schwärme von Wüstenmotten schwirrten darum herum.

James brauchte eine halbe Minute für die drei Meter vom Gleis bis zu einer der hölzernen Streben. Er hielt sich an der Seite fest und rutschte langsam an der um fünfundvierzig Grad geneigten Holzstrebe hinunter, bevor er sanft auf dem Flachdach des Fast-Food-Restaurants landete.

Abseits des Strips waren die Straßen von Las Vegas relativ einsam. Soweit James es beurteilen konnte, hatte ihn niemand hinunterklettern gesehen, aber die Polizei würde natürlich ziemlich schnell herausfinden, welchen Weg er genommen hatte, wenn sie mit den Taschenlampen auf die Schienen leuchtete.

James duckte sich und schlich über das Dach des einstöckigen Gebäudes. Als er über die Regenrinne sah, bemerkte er erfreut, dass er sich an einer Ziegelmauer vor einem leeren Parkplatz befand und nicht etwa an einer Seite mit Glasfenstern, hinter denen die vielen Gäste saßen.

Er sprang vom Dach und lief zur Vorderseite, während ihm der Geruch von Essensresten und Frittieröl in die Nase stieg. James stellte fest, dass hier eine ganze Reihe von Fast-Food-Restaurants um einen kleineren Parkplatz hinter dem Reef Drive herum gebaut waren.

An den Tischen vor den Restaurants saßen die Gäste in der kalten Nachtluft und genossen ihre Burger und Hühnchen und achteten nicht auf James, der sich bemühte, sein Aussehen zu verändern. Er nahm die Baseballkappe ab und zog sich das dunkle Sweatshirt aus, unter dem er ein helloranges Polohemd trug.

Der Weg von hier führte direkt zum Reef Drive. An den Casinos am Strip erstrahlten die Lichter und davor verliefen die Zuggleise und der erhöhte Gehweg. James′ Zug fuhr jetzt im Schritttempo in den Bahnhof am Reef ein, während direkt unter der Brücke zwei Polizeiwagen parkten. Wegen des zerschmetterten Zugfensters hatten sie eine Seite der Straße gesperrt.

James ging an ein paar Souvenirläden vorbei auf das hell erleuchtete Dennys-Schild zu und wartete auf eine Lücke im Verkehr. Er sprang vor einen Reisebus, hechtete über die metallene Leitplanke in der Straßenmitte und ging dann die andere Seite entlang, die von den Cops abgesperrt wurde.

Zu seiner Erleichterung sah er, dass Kazakov in dem schwarzen Ford wartete. Er riss sich den Rucksack von der Schulter und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.

»Was ist passiert?«, stieß Kazakov hervor. »Hast du etwas mit den ganzen Cops da zu tun?«

»Erst fahren, dann reden«, befahl James. »Die finden schnell raus, wohin ich verschwunden bin und dann sperren sie den ganzen Block ab.«

Kazakov setzte aus der Parklücke. »Wenn die Cops hinter uns her sind, sollten wir lieber die Stadt verlassen.«

»Ja«, nickte James, »der Flughafen hier könnte ein wenig heiß werden. Wir sollten nach Los Angeles fahren. Von da aus gehen jede Menge Flüge nach Großbritannien.«

Kazakov sah James an. »Wir fahren die Nacht durch und nehmen morgen Früh einen Flieger. Du rufst auf dem Campus an und bittest sie dort, uns die Flüge zu besorgen.«

»Mach ich«, stimmte James zu. »Aber was ist, wenn sie fragen, warum wir nicht von Vegas aus fliegen?«

»Mir doch egal«, entgegnete Kazakov, »erzähl ihnen, wir hätten Lust auf eine Rundfahrt gehabt oder so.«

»Und was ist mit dem Auto? Es gehört Fort Reagan.«

»General O′Halloran hat gesagt, wir sollen es am Flughafen stehen lassen. Er hat nicht gesagt, an welchem«, grinste Kazakov.

Die Hauptautobahn zwischen Kalifornien und Nevada verlief auf der westlichen Seite parallel zum Strip. James war zunächst viel zu überwältigt gewesen, um darauf zu achten, wohin sie fuhren. Jetzt bemerkte er überrascht, wie der Wagen beschleunigte. Als er aus dem Fenster sah, erkannte er, dass Kazakov eine Auffahrt auf die achtspurige Interstate 5 genommen hatte.

Es war elf Uhr abends. Es herrschte viel Verkehr, aber es gab keinen Stau und James lehnte sich erleichtert in seinen Sitz zurück und freute sich über den unauffälligen schwarzen Ford. Das Südende des Strips verschwand bereits hinter ihnen und James realisierte zum ersten Mal, dass sie tatsächlich davongekommen waren mit … Mit was eigentlich?

Er schoss hoch.

»Wie viel?«, stieß er hervor.

»Die Quittung ist im Handschuhfach«, lächelte Kazakov.

James klappte das Fach auf und fand eine durchsichtige Plastikhülle mit einem Stapel Banknoten darin. Er öffnete die Hülle und warf einen Blick auf die Quittung.

Vancouver-Casino

92 300 $

Bitte beehren Sie uns wieder, wenn Sie in der Stadt sind!

»Nicht schlecht für einen Abend«, fand James grinsend. »Gar nicht schlecht.«

Knapp zehn Minuten vorher hatte er einen der schlimmsten Augenblicke seines Lebens durchgemacht. Er war ein wahnsinniges Risiko eingegangen und fühlte sich immer noch miserabel, weil er den Typ im Zug niedergeschlagen hatte. Doch zugleich erfasste ihn eine Welle der Begeisterung und in seinem Kopf schwirrten tausend Dinge herum, die er sich mit über dreißigtausend Dollar leisten konnte: tolle Klamotten, Ausgehen, teures Essen, nette Kleinigkeiten für Freundinnen, Ferien, ein richtig scharfes Motorrad.

»Erzähl niemandem auf dem Campus davon«, warnte ihn Kazakov. »Und gib das Geld vorsichtig aus. Protz bloß nicht damit herum!«

»Ich weiß, Boss«, lächelte James. »Ich bin ja nicht blöd.«

In diesem Moment scherte ein großer Geländewagen vor ihnen ein und zwang Kazakov, auf die Bremse zu steigen.

»Amerikanischer Idiot!«, brüllte er und drückte auf die Hupe. »Los, ruf endlich auf dem Campus an und besorg uns die Flugtickets«, befahl er James dann. »Ich halte es in diesem Land keinen weiteren Tag aus!«