Doch wahrscheinlich ist es ziemlich egal. Rechts von mir sehe ich, wie sich eine Gelbjacke aus dem Luftkampf löst und im Tiefflug über den Fluß auf uns zuschrammt. Ich drehe den Kopf ein wenig und rufe Ar-gent zu: »Ist das unsere Luftunterstützimg?«
Ich spüre, wie er die Achseln zuckt, und höre ihn dann in sein Kehlkopfmikro murmeln. Wenn er sich mit dem Hubschrauber kurzschließen kann, ist der Fall erledigt. Der Otter hat zwar ein Maschinengewehr, aber die Art Lafette, auf der es montiert ist, eignet sich nicht dazu, die Waffe steil genug in den Himmel zu richten, um sie zu einem Flakgeschütz umzufunktionieren. Die Gelbjacke kann dem Otter eine Salve vor den Bug knallen und ihm befehlen zu stoppen. Wir holen das Boot ein, während der Hubschrauber alles überwacht, und dann heißt es game over.
Das heißt, falls die Gelbjacke eine von unseren ist...
Der Gedanke schießt mir mit jäher Plötzlichkeit durch den Kopf, und meine Eingeweide verknoten sich. Argent murmelt immer noch in sein Mikro, scheint aber nicht die Antwort zu bekommen, die er hören will. Der kleine Hubschrauber kommt näher, und er fliegt direkt hinter uns und nicht hinter dem Otter.
Ich werfe mich nach rechts und reiße den Watersport in eine enge Kurve. Schieres Glück bewahrt uns davor, von einer Welle erwischt zu werden und abzufliegen. Das gleiche schiere Glück bewahrt Argent davor, mir die Arme abzureißen, als er sich wieder an meine Schultern klammert.
Gerade noch rechtzeitig. Die Schnellfeuerkanone der Gelbjacke sprüht Funken, und der Feuerstrom wühlt das Wasser an der Stelle auf, wo wir uns noch vor einer Sekunde befunden haben. Der Pilot versucht zu korrigieren und geht mit der Kanone nach, aber der Hubschrauber ist zu schnell und schießt an uns vorbei.
Ich lege den Schlitten in eine weitere enge Kurve, während die Gelbjacke zu einem neuen Anflug ansetzt. Der Pilot scheint seine Lektion gelernt zu haben. Er hat die Geschwindigkeit stark verringert und kommt langsam näher, anstatt mit Höchstgeschwindigkeit heranzudonnern. Der Hubschrauber liegt tödlich ruhig in der Luft, eine perfekte, solide Waffenplattform. Ich kurve weiter, und der erste langgezogene Feuerstoß der Schnellfeuerkanone verfehlt uns um zehn Meter.
Ich höre und spüre, wie Argent hinter mir mit seiner Sturmkanone ringt, da er versucht, die Waffe anzulegen. Keine leichte Aufgabe. Er hat einfach nicht genug Platz, um sich viel zu bewegen, ohne gleich baden zu gehen, und meine brutalen Manöver sind auch nicht gerade hilfreich. Wieder eine Salve aus der Schnellfeuerkanone, diesmal nur ein paar Meter hinter uns.
»Halt still, verdammt!« bellt Argent.
»Den Teufel tue ich!« rufe ich zurück. Die Gelbjacke schwebt jetzt auf der Stelle, und der Pilot folgt uns nur noch mit dem Lauf der Schnellfeuerkanone. Eine weitere längere Salve liegt fast im Ziel, und es ist reines Glück, daß wir noch nicht tot sind.
»Wir sind tot, wenn du es nicht tust«, faucht der Runner hinter mir.
»Wir sind tot, wenn ich es tue.«
Aber er hat natürlich recht, die Schnellfeuerkanone wird uns irgendwann erwischen. Also beiße ich die Zähne zusammen, gebe Vollgas und fahre im rechten Winkel zur Schußlinie des Hubschraubers, um dem Pilot das Zielen so schwer wie möglich zu machen, ohne wilde Manöver zu fahren. Die Schnellfeuerkanone schießt wieder, aber die Kugeln schlagen weit hinter uns ins Wasser. Der Pilot hält inne. Ich sehe, wie sich das Geschütz dreht, und weiß, was als nächstes kommt.
Und richtig, vor uns schäumt das Wasser auf, als er den Kugelhagel einfach vor dem Watersport ins Wasser setzt. In einer oder zwei Sekunden kreuzen wir die Schußbahn, und das war's dann. »Mach schon, Ar-gent!«
Die Panther-Kanone brüllt auf, und der Rückschlag reicht fast aus, um den Schlitten kentern zu lassen. Perfekter Schuß - das Hochexplosivgeschoß trifft die Kanzel der Gelbjacke, die wild schwankt, und dann von einer zweiten Explosion in Stücke gerissen wird.
Die Erleichterung ist so groß, daß ich vor Freude laut aufheulen möchte, aber ich muß noch eine Weile cool bleiben. Während wir mit der Gelbjacke beschäftigt waren, hat der Otter, der mit Höchstgeschwindigkeit durch das Wasser pflügt, seinen Vorsprung beträchtlich vergrößert. Wir müssen ihn einholen, aber ich befürchte fast, daß wir es nicht schaffen werden.
»Fährt dieses Ding ohne mich schneller?« fragt Ar-gent.
Ich nicke.
»Dann steige ich hier aus«, sagt er. »Bis später, Wolf.«
Und dann ist er verschwunden, einfach über Bord gegangen. Ich zucke innerlich zusammen bei dem Gedanken an den Aufprall auf das Wasser, das bei diesem Tempo so weich wie Beton ist. Viel Glück, Priyatel, wünsche ich ihm im stillen. Ich hoffe, du brichst dir nicht die Knochen.
Und ich hoffe, du kannst schwimmen.
Von dem zusätzlichen Gewicht befreit, beschleunigt der Watersport, als hätte ein Turbolader eingesetzt. Die Geschwindigkeit steigt auf knapp unter achtzig, und die Erschütterungen, wenn der Schlitten kleine Wellen überspringt, lassen meine Zähne klappern. Die Hochstimmung ist wieder da, doch mit echter Angst gekoppelt. Ein Watersport verhält sich in mancherlei Hinsicht wie ein Motorrad, aber Wasser läßt sich nicht mit einem ebenen Highway vergleichen. Wellen und das Kielwasser anderer Boote sind echte Gefahren, und wenn man sie auf die richtige - oder eher falsche - Weise kreuzt, können sie einen ausheben und über das Wasser schleudern.
Diese Befürchtungen nehmen noch zu, als ich mich dem Otter nähere. Das offene Boot erzeugt ein beachtliches Kielwasser und Wellen, die hoch genug sind, um den Watersport in die Luft zu schleudern. Ich muß verdammt vorsichtig sein, wie ich mein Gewicht verlagere, wenn ich wieder auf dem Wasser aufsetze.
Nun, da ich den Abstand auf weniger als fünfzig Meter verringert habe, ist es an der Zeit herauszufinden, was die beiden Maschinengewehre leisten... und, was noch wichtiger ist, wie sie das Handling des Schlittens beeinflussen. Ich schieße mit beiden MGs, wobei ich eine leichte Kurve fahre, um den Kugelhagel über das Heck des Otter zu lenken. Ich spüre, wie der Rückschlag den Watersport beben und flattern läßt - beunruhigend, aber nicht kritisch. Nur mit einem MG zu schießen, wäre wahrscheinlich riskanter, aber solange ich den Rückschlag ausbalancieren kann, dürfte es eigentlich keine Probleme geben.
Aber ich bin nicht der einzige, der Waffen hat. Ich sehe die Mündungsblitze, als das mittelschwere MG das Feuer eröffnet. Es ist keine Schnellfeuerkanone mit grotesk anmutender Feuergeschwindigkeit, so daß ich den Kugelhagel nicht sehen kann, was alles noch viel beängstigender macht. Wenn mich der Schütze im Otter im Visier hat, merke ich das erst, wenn ich getroffen werde. Ich kurve nach links, wobei ich hoch durch die Luft fliege, als ich das Kielwasser kreuze, und ich verlagere verzweifelt mein Gewicht, um der Tendenz des Watersport zu begegnen, die einmal eingeschlagene Kurve auch in der Luft fortzusetzen. Praktisch sofort schwenke ich wieder nach rechts und überspringe das Kielwasser ein zweitesmal. Dann wieder nach links.
Ich bin wie ein Wasserskifahrer, der hinter dem Boot Slalom fährt und mit jedem Schwenk näher kommt. Diese Vorgehensweise hat etwas Selbstmörderisches, aber mir will nichts anderes einfallen. Der Schütze an Bord des Otter kann seine Waffe schwenken, um mich im Visier zu behalten - bisher, den Göttern sei Dank, mit bescheidenem Erfolg. Bei mir sieht die Sache anders aus. Meine Waffen sind starr eingebaut, wenn ich also etwas treffen will, muß ich vorher die Nase des Watersport darauf ausrichten. Was wiederum bedeutet, daß ich mein Ziel überhaupt nur an zwei Punkten meiner Zickzacklinie aufs Korn nehmen kann, und das sind auch noch die beiden Punkte mit dem ungünstigsten Einschlagswinkel, was die Durchschlagskraft meiner MG-Munition anbelangt.
Was darauf hinausläuft, daß meine Chancen, einigermaßen ernsthafte Treffer zu erzielen, gleich Null sind, während die Chancen des Schützen auf dem Otter, mich in ein Sieb zu verwandeln, um so besser werden, je näher ich komme. Etwa zum hunderttausendstenmal in der letzten Minute erwäge ich ernsthaft, die ganze Sache sausen zu lassen. Aber dann denke ich daran, was Auge Eins, unser Beobachter, gesagt hat: drei Kon-zernexecs. Würden Execs verduften, ohne so viel belastendes Material wie eben möglich mitzunehmen? Nicht sehr wahrscheinlich, Priyatel. Selbst wenn die Decker das Computersystem knacken, ist vielleicht nichts mehr zu holen, weil sich sämtlicher Drek auf ein paar Chips an Bord des Otters befindet.
Bevor ich es mir anders überlegen kann, lege ich mich in eine enge Rechtskurve und fahre dann einfach geradeaus weiter, bis ich achtzig oder neunzig Meter weit rechts vom Otter bin. Dann eine leichte Linkskurve, bis ich parallel zum Otter fahre. Und wieder nach links, bis der Bug des Watersport genau auf den Otter zeigt, Vollgas und mit beiden Waffen Dauerfeuer. Ich kann sehen, wo mein Beschuß landet, etwa ein Dutzend Meter vor dem Otter im Wasser, also verlagere ich mein Gewicht nach hinten, bis meine Arme gerade ausgestreckt sind. Der Bug hebt sich aus dem Wasser -nicht viel, aber es reicht -, und die Wasserspritzer der einschlagenden Kugeln nähern sich der Bootswand. In der Zwischenzeit fliegen mir die Kugeln des anderen Schützen um die Ohren, aber bei meinem Tempo und bei der Art, wie der Watersport über die Wellen hüpft, bin ich ein verdammt schweres Ziel. So, wie sich der Schlitten bewegt, wird mein MG-Feuer in alle möglichen Richtungen gelenkt und deckt den gesamten Raum ab, den der Otter einnimmt. Zumindest hoffe ich das. Das Boot vor mir wird immer größer - noch dreißig Meter Entfernung, zwanzig. Etwas prallt jaulend vom Rumpf des Schlittens ab, und eine andere Kugel durchschlägt glatt die rechte Verkleidung. Ich muß abdrehen...
Doch dann sehe ich, wie der Schütze nach hinten geworfen wird. Das MG versprüht noch eine Salve in den Himmel und verstummt dann. Nun, da ich mir keine Sorgen mehr um das MG machen muß, drossele ich das Gas, überspringe wieder das Kielwasser und schwenke direkt hinter den Otter ein. Aus fünfzehn Meter Abstand lasse ich wieder die beiden MGs sprechen und sehe mir an, wie sie das Heck des Otter zu Kleinholz verarbeiten. Es gibt eine Stichflamme, der eine ölige schwarze Rauchwolke folgt, als ich ein Dutzend Kugeln in den Motor jage, und dann wird der Otter schlagartig langsamer, so daß ich fast sein Heck ramme.
Ich drossle den Watersport ebenfalls und jage noch zwei kurze Feuerstöße direkt in das offene Steuerhaus.
Es dauert vielleicht zehn Sekunden, um längsseits zu gehen. Ich fahre den Watersport nur mit der rechten Hand und halte das Sturmgewehr in der linken. Ich bin zwar Rechtshänder, aber mit einer automatischen Waffe spielt das auf diese Entfernung keine Rolle. Ich schwinge meinen Hintern auf das Dollbord des Otter, ziehe die Beine nach und bin an Bord.
Und ganz plötzlich inmitten eines Schlachthauses. Von den vier Personen an Bord sind drei offensichtlich tot, von den MG-Kugeln zu Hundefutter verarbeitet. Die vierte Person lebt noch, aber auch nur noch so eben und nicht mehr lange. Ihr rechter Arm ist praktisch abgetrennt, und aus einer Schlagader spritzt hellrotes Blut auf das Bootsdeck. Der Mann ist bei Bewußtsein, seine Augen sind glasig und vor Schmerz und Schock trübe. Sein Gesicht ist blutüberströmt, aber ich erkenne ihn sofort.
»Hallo, Mr. Nemo«, sage ich leise. »Oder ist Ihnen Gerard Schräge lieber?«
Der Lone Star-Pinkel sieht mich verständnislos an. Bei unserer letzten Begegnung hat er mich erkannt, aber ich nehme an, daß er im Moment andere Sorgen hat.
Ich bin innerlich hin und her gerissen. Schrage ist ein Wichser - er ist derjenige, der mein Todesurteil unterschrieben hat, er hat Drummond und die anderen dazu veranlaßt, den Anschlag vorzubereiten, bei dem Cat Ashburton ums Leben gekommen ist. Er hat den Deal mit Timothy Telestrian abgeschlossen, um sich in den Besitz des Virus als Waffe für sein MV-Projekt zu bringen. Er ist für den Tod von Paco und den anderen Cutters im Rahmen eines verdammten Feldtests verantwortlich. Aber wie sehr ich ihn auch hasse, es nervt mich trotzdem, ihn hier liegen und verbluten zu sehen.
Drek, wie oft habe ich mir in den letzten Tagen vor-gestellt, ihm eine Kugel durch den lausigen Schädel zu jagen? Aber jedesmal ging es nur darum: Leg ihn um, und das war's. Sauber und ohne bleibende Nachwirkungen.
Jetzt, wo ich mit den Konsequenzen meiner Rache konfrontiert werde, ist alles anders. Ich mag nicht gewußt haben, daß er an Bord ist, aber es waren meine Kugeln, die ihn erledigt haben. Sein Blut breitet sich auf dem Bootsdeck aus, und ich stehe darin. Das ist die Realität. Ich sollte bei Schrages Tod ein Gefühl der Befriedigung empfinden, ein Gefühl der Vollendung und des Abschlusses. Doch ich empfinde nur Übelkeit.
Ich wende mich ab. Ich kann nichts zu seiner Rettung tun, selbst dann nicht, wenn ich mich dazu überwinden könnte, etwas zu tun, aber das bedeutet nicht, daß ich ihm beim Sterben zusehen kann. Ich sollte wohl das Boot nach Datenchips und anderem Material durchsuchen, das Schrage und seine Chummer aus der Anlage mitgenommen haben, aber ich bringe es einfach nicht über mich. Zum Teufel damit, wenn Schrages Tod diesem ganzen Drek kein Ende setzt, will ich es gar nicht wissen.
Das Feuer im Motor des Otter ist erloschen, aber die Maschine ist völlig tot. Während ich dastehe und sie anstarre, fällt mein Blick auf einen Hilfsmotor, einen kleinen Elektromotor mit niedriger Leistung. Ich stehe noch einen Moment in dem Blut, dann spüre ich, wie sich ein Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitet. Ja, genau, das ist es.
Ich gehe zum Dollbord, wo mein Watersport treibt, und nehme mir die Zeit, um den kleinen Schlitten sorgfältig festzumachen. Dann gehe ich wieder zurück und starte den lautlosen Hilfsmotor. Ich lege den Vorwärtsgang ein und stelle den Fahrthebel auf Schrittempo. Der Otter setzt sich langsam in Bewegung. Als ich einigermaßen sicher bin, daß das Boot in Bewegung bleiben wird - daß ich es nicht leckgeschossen habe -, schwinge ich mich über Bord und auf den Watersport. Ich mache die Leine los und starte die Wasserjets des Suzuki. Mit dem Schlitten bringe ich den Otter auf den von mir gewünschten Kurs. Nach Süden auf das Tir-Ufer des Columbia zu. Wer weiß, wie sich die Grenzpatrouillen in Tir das Boot mit den Leichen, zu denen auch ein ranghoher Pinkel von Lone Star gehört, erklären werden. Aber wenn James Telestrians Verbindungen zum Tir-Militär so gut sind wie seine Verbindungen zur Geschäftswelt, sollten sich die Beweise an Bord des Bootes zu einer Keule verarbeiten lassen, mit der James seinen Sohn Timothy windelweich prügeln kann.
Als ich einigermaßen sicher bin, daß das Ruder mittschiffs ausgerichtet ist und das Boot nicht abtreiben wird, gebe ich Gas und fahre nach Norden, wo Flammen und schwarzer Rauch von der NVC-Anlage aufsteigen.