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Ich war bisher noch nie bei einem offiziellen Kriegsrat der Cutters, und Ranger ist total genervt, mich bei diesem zu sehen. Nominell bin ich einer seiner Leute, ein kleiner Lieutenant, dessen einzige Aufgabe darin bestehen sollte, den Verbindungsmann zwischen den Straßenmonstern in den Reihen der Cutters und ihm und den anderen oberen Chargen der Bande zu spielen. Doch in letzter Zeit habe ich ein wenig... Schwarzarbeit geleistet, so könnte man es vielleicht nennen, indem ich mit anderen Bonzen in der Hierarchie zusammengearbeitet und mich generell so unentbehrlich wie möglich gemacht habe. Dabei habe ich ganz langsam mit dem sozialen Anpassungsdrek begonnen, der mir immer schon leichtgefallen ist, auch vor meiner intensiven Ausbildung. Die eigentliche Idee besteht darin, immer dann, wenn man jemand Wichtigen trifft, dieser Person genau das zu vermitteln, was sie sehen oder hören will. Wenn der Knabe Leute mag, die zeigen, was sie draufhaben, kehre ich den Draufgänger und Macho raus. Wenn ihm Leute gefallen, die erst denken und dann handeln, überrasche ich ihn mit einem ausgeklügelten Plan, wie man bei gewissen Unternehmungen Konfrontationen mit Lone Star vermeiden kann. Etcetera etcetera drekcetera. Danach braucht man nur noch ein paar Handlangerarbeiten für sie zu erledigen, wenn sie darauf angewiesen sind - der Job darf nicht zu groß und nicht zu klein sein -, bis sie mir vertrauen und sich schließlich auf mich wie auf eine Art inoffiziellen Berater stützen. So habe ich mich zu einem von Rangers Lieutenants hochgearbeitet. Nachdem ich dort angelangt und meine Stellung zumindest halbwegs gesichert war, hatte ich alle Möglichkeiten, meinen Wirkungsbereich auszudehnen.
So kommt es, daß ich hier im ›Besprechungsraum‹ der Cutters bin. Ranger würde vermutlich lieber sein linkes Ei hergeben, als mich hier zu sehen, aber der Kriegsboss hat nicht den Schneid, Vladimir und der Hirschschamanin Frühlingsblüte zu widersprechen -zwei Führungskräfte der Cutters, die meine Anwesenheit ausdrücklich erbeten haben.
Der Besprechungsraum befindet sich im Keller des größten Unterschlupfs der Cutter - demjenigen auf der 164. Straße Süd direkt unter der Einflugschneise für die Transpazifik-Suborbitalflüge. Das Zimmer ist düster und muffig und hat keine Belüftung, um mit dem Rauch von Frühlingsblütes Super King-Size Ultra-Js mit Menthol fertigzuwerden - die sie in Ketten raucht, um ›die Geister zu spüren‹. Ganz bestimmt. So wie ich mich nur vom Einatmen ihres Qualms fühle, ist es ein Wunder, daß hier unten überhaupt noch jemand eine vernünftige Entscheidung treffen kann.
Kernstück des Raumes ist ein Konferenztisch im Konzernstil - ein echtes HiTech-Modell, in dessen Mahagoniplatte an jedem Platz Bildschirme und Buchsen für Datenkabel eingelassen sind. Außerdem ist er mit 3-D-Vorrichtungen und genug Rechenpower bestückt, um einen Ultra-VAX vor Neid erblassen zu lassen. Keine Ahnung, wie die Cutters an dieses Baby gekommen sind - die Tech alleine muß eine knappe Million kosten, von dem Mahagoni ganz zu schweigen. (Ganz recht. Echtes Holz, kein Makroplastfurnier.)
Alle, die bei den Seattier Cutters was zu sagen haben, sitzen am Tisch. Blake, der Oberboss, an der Stirnseite mit Vladimir zu seiner Rechten, Frühlingsblüte, die sich das Hirn ausräuchert, zu seiner Linken und Ranger, der ganz allgemein genervt aussieht, ihm gegenüber. Auf den übrigen Stühlen sitzen Musen, der Buchhalter, Fahd aus der Abteilung Geschäftsentwicklung, ein richtig schwerer Junge namens Cain (meiner Einschätzung nach ein Talent von außerhalb, vielleicht ein unter Vertrag stehender Shadowrunner oder ähnlicher Drek) sowie ein paar andere, die ich nicht kenne. An den Wänden stehen die kleineren Lichter, die zwar Grund für ihre Anwesenheit, jedoch keinen Anspruch auf einen Platz am Tisch haben. Dazu gehören zum Beispiel ich selbst und Blakes persönliche Prätorianergarde -darunter auch Box der Troll, der wie ein Alptraum aus der unzensierten Ausgabe von Grimms Märchen aussieht - und noch ein paar andere Handlanger.
Jedenfalls hat im Augenblick Vladimir das Wort. Er trägt wahrhaftig einen Anzug und sieht eher aus wie ein europäischer Banker als ein Gangmitglied. Wegen seiner ruhigen, vernünftigen Stimme und seiner ewig gelassenen, sanften Art könnte man ihn sogar für einen Waschlappen halten. Doch der gute alte Vladimir hat mehr Blut an seinen Händen kleben als jeder andere an diesem Tisch - möglicherweise mit Ausnahme von Blake - und ist immer bereit, noch mehr hinzuzufügen. Aber selbstverständlich nur, wenn es geschäftlich sinnvoll ist.
»Ich stimme nicht mit dem Kriegsboss überein«, sagt er gerade mit gelassener Stimme. »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir durch einen Krieg mit den Ancients mit Sicherheit nichts gewinnen, von den potentiellen Risiken ganz zu schweigen. Ein Krieg wäre für beide Seiten kostspielig und könnte... hmmm, genug Substanz verzehren, um eine oder mehrere der Seoulpa-Ringe zu einem Versuch zu ermutigen, die Situation auszunutzen.« Er zuckt die Achseln und wischt ein unsichtbares Staubkorn von seiner Manschette. »Jedenfalls haben die Ancients nichts getan, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Kriegserklärung rechtfertigen würde.«
Fahd, der wie ein tollwütiges Wiesel aussieht, mischt sich ein: »Sie haben einen von unseren verdammten Umschlagplätzen ausgehoben, reicht das nicht? Wir haben fünftausend BTL-Chips mit einem Straßenverkaufswert von zweieinhalb Millionen verloren.« Musen nickt zustimmend, macht ansonsten aber einen unschlüssigen Eindruck. Er ist mit den Zahlen einverstanden, nicht aber mit Fahds Schlußfolgerungen.
Vladimir zuckt erneut die Achseln. »Zugestanden«, sagt er bedächtig. »Aber alle Informationen weisen darauf hin, daß den Ancients nicht bewußt war, daß es sich um einen unserer Umschlagplätze handelte, und sie sich wahrscheinlich ein anderes Ziel vorgenommen hätten, wäre es ihnen bewußt gewesen. Richtig?« Dabei sieht er mich an.
»Das stimmt«, sage ich den Leuten am Tisch. Vladimir glaubt, ich hätte massenhaft Kontakte auf der Straße und in den Schatten, und er vertraut meinen Informationen und den daraus resultierenden Beurteilungen in vielen Fragen. (Das würde sich ziemlich schnell ändern, wenn er herausfände, daß die meisten meiner Kontakte für den Star arbeiten, aber ich will verdammt sein, wenn ich ihn das herausfinden lasse.)
»Schwachsinn«, faucht Ranger, bereit, Gift und Galle zu spucken, und die Fronten sind gezogen. Ranger und Fahd sind für Krieg, Vladimir und Musen sind dagegen. Frühlingsblüte spürt die Geister offenbar so sehr, daß ihre Augen blicklos sind, so daß sie eine unbekannte Größe darstellt. Was Cain anbelangt, dessen kalte Augen herumzucken, so sieht er aus, als lehne er sich einfach nur zurück, genieße die Vorstellung und erwäge höchstens noch, ein paar Nebenwetten auf den Ausgang abzuschließen. Box will nur jemandem den Kopf abreißen, aber das will Box immer. Die anderen halten sich raus - schlau von ihnen -, und Oberboss Blake zeigt noch weniger Regung als die Mahagoni-Tischplatte.
Und ich? Den Blicken nach zu urteilen, die Ranger und Fahd mir zuwerfen, muß ich mich durch die Bestätigung von Vladimirs Lagebeurteilung unverrückbar in dessen Lager begeben haben. Einfach entzückend.
Vladimir fixiert Ranger über den Tisch hinweg, und man kann beinahe spüren, wie die Raumtemperatur plötzlich um ein Dutzend Grad sinkt. Er hält seinen langen, durchdringenden Blick zehn Sekunden oder noch länger aufrecht, dann verziehen sich seine Lippen zu einem schwachen und ach so herablassenden Lächeln. »Wenn du das sagst«, bemerkt er gelassen, und Ranger wird erst rot und dann weiß, als habe man ihn gerade beschuldigt, es mit Teufelsratten zu treiben. Der gute Vladimir kümmert sich nicht darum, sondern fährt gleich fort: »Um es noch mal zu wiederholen: Ich glaube, ein direkter, offener Krieg mit den Ancients wäre unseren Interessen höchst abträglich.« Er betrachtet die Leute am Tisch, als wolle er ihnen Stellungnahmen entlocken. Derzeit scheint niemand eine abgeben zu wollen - abgesehen natürlich von Ranger, dessen Augen alles sagen.
Vladimir nickt, als habe er damit seine Auffassung durchgesetzt. »Aber«, fährt er fort, »wir haben Geld verloren. Ich würde vorschlagen, an die Führung der Ancients heranzutreten, und zwar mit einer umfassenden Aufstellung unserer Verluste.« Er richtet seinen kühlen Blick auf Musen. »Zweikommafünf Millionen Nuyen. Ist das richtig?«
Musen nickt, wobei sein vorstehender Adamsapfel auf und ab hüpft, als versuche er gerade einen Tennisball zu verschlucken. »Hinzu kommen Gebäudeschäden in Höhe von fünfhunderteinundzwanzig-tausend, außerdem eine Entschädigung für die Terminierung von vier Personaleinheiten.« Damit meint er tote Cutters. »Insgesamt beläuft sich die Summe« -einen Moment lang verdrehen sich seine Augen, als er auf seine Headware zugreift - »auf drei Millionen einhundertzweitausend Nuyen. Mal vorsichtig geschätzt.« Ich frage mich, wie sich die vier terminierten Personaleinheiten‹ fühlen würden, wenn sie wüßten, daß Musen den Wert ihres Lebens auf etwas über zweiundzwanzig K Nuyen pro Person beziffert.
»Dann also dreikommaeins Millionen.« Vladimir akzeptiert die Korrektur mit äußerstem Gleichmut. »Ein Krieg wäre wesentlich teurer, und darum würde ich nachgeben. Ein Krieg wäre für beide, für Cutters und Ancients, wesentlich teurer. Ja, ich denke, ein Krieg käme beide Seiten wesentlich teurer zu stehen, wenn man die verlorenen Einkünfte und Werte und die Beeinträchtigung unserer Fähigkeit in Betracht zieht, während der Wiederaufbauphase aus neuen Geschäftsgelegenheiten Kapital zu schlagen.« Er lächelt -jedenfalls glaube ich, daß er das tut -, wobei seine Lippen einen dünnen geraden Strich bilden. »Ich glaube, die Führung der Ancients wird Vernunft walten lassen.«
»Was ist mit unserem Ruf?« knirscht Ranger. »Was werden die anderen Gangs von uns denken, wenn sie sehen, daß uns die Ancients einen harten Schlag verpassen und wir nicht zurückschlagen?« Er grinst Vladimir höhnisch an, der lediglich eine Augenbraue hebt, und ich verspüre den plötzlichen Drang, mich hinter Box zu verstecken. Doch Ranger schnauzt einfach weiter. »Was werden die Seoulpa-Ringe von uns denken, wenn sie sehen, wie uns Schaden zugefügt wird und wir uns dann zieren und nichts anderes tun, als den Müslifressern 'ne verdammte Rechnung zu präsentieren? Und was werden sie dann tun?«
»Sie werden nichts tun«, erwidert Vladimir, dessen zivilisierte Stimme in beängstigendem Kontrast zu seinem mörderischen Blick steht, »gar nichts. Das einzige, was sie sehen werden, ist, daß wir immer noch auf gutem Fuß mit den Ancients stehen und uns nicht durch einen idiotischen Krieg ablenken und schwächen lassen. Sie werden sehen, daß wir stark sind und bereit, jeden Schritt, den sie gegen uns unternehmen, zu kontern. Wenn wir den Ancients andererseits den Krieg er-klären, werden sie sehen, daß wir genau die Ressourcen in die Schlacht werfen, die sie bisher davon abgehalten haben, gegen uns aktiv zu werden.«
Absolut logisch, aber für Ranger ist Logik zu oft das, was für einen Stier ein rotes Tuch ist. Der Kriegsboss ist aufgesprungen und holt gerade tief Luft, um etwas zu sagen, das ihn in bezug auf Vladimir in echte Schwierigkeiten bringen wird. Na los doch, Ranger, sage ich.
Doch Blake unterbricht ihn. Nicht dadurch, daß er ihm sagt, er solle die Klappe halten, nicht einmal dadurch, daß er die Hand hebt und auf diese Weise um Ruhe bittet. Nein, er hebt lediglich den Zeigefinger der rechten Hand, die flach auf dem Tisch liegt. Der Finger bewegt sich vielleicht einen Zentimeter, aber das reicht, um Ranger abrupt verstummen zu lassen. Das ist Macht. Und außerdem ist das Blake.
Er wartet schweigend, während Ranger herunterschluckt, was er gerade sagen wollte, und sich wieder hinsetzt. Dann mustert er der Reihe nach die Leute am Tisch. Einen Moment lang erinnert Blake mich an Sims, die ich über Löwen in der Wildnis gesehen habe, bevor sie alle ausgestorben waren. Er hat das gleiche Flair von Lässigkeit und latenter Gewalttätigkeit wie eine Raubkatze, deren Blick über die Savanne streift. Oder so ähnlich. Es hilft, daß er groß ist - fast zwei Meter und gebaut wie ein Catcher -, aber das ist nicht alles. Ich habe noch nie gesehen, daß er sich schnell bewegt hat, und wäre sein breites, hübsches Gesicht -das noch ein paar Schattierungen dunkler als der Mahagonitisch ist - noch etwas unbewegter, würde ihn wahrscheinlich jeder Quacksalber auf der Stelle für tot erklären. Er hat einfach etwas an sich, das Macht ausstrahlt, schlicht und ergreifend. Ich habe schon Leute gesehen, die den Dicken raushängen ließen, Leute, die wie der Tod auf zwei Beinen waren, wenn sie mit Blake in einen Raum gingen, und die sich dann plötzlieh auf den Rücken wälzen und wie ein Wolf heulen wollten, der sich dem Anführer des Rudels unterwirft. Ja, das ist Blake.
Fast in Zeitlupe betrachtet er die Gesichter der Leute am Tisch, wobei sein Blick von einem zum anderen wandert. Wenn er jemanden fixiert, schrumpft der betreffende sichtbar. Nicht Frühlingsblüte, weil sie es wahrscheinlich gar nicht wahrnimmt, und auch nicht Vladimir. Aber alle anderen, was Ranger so sicher wie nur was einschließt.
Dann richtet Blake seinen Laserblick auf mich, und wiederum will ich mich hinter Box verstecken. »Du bist Larson, richtig?« fragt er mit einer Stimme wie Samt und Mitternacht.
Ich muß einen Augenblick darüber nachdenken und nicke dann.
»Und du bestätigst, was Vladimir gesagt hat? Daß die Ancients nicht wußten, daß der Umschlagplatz uns gehört?«
»Das hört man jedenfalls auf der Straße«, antworte ich, und meine Stimme hört sich an wie die eines Kindes. »Ich habe einen Haufen Quellen angebohrt, und alle sagen das gleiche«, plappere ich weiter. Er nickt bestätigend, und ich halte schleunigst die Klappe.
Blake sieht Vladimir an, der unmerklich eine Augenbraue hebt. Dann ruht Blakes Blick wieder auf mir. »Ich würde gern deine Meinung hören, Larson«, sagt er. »Sollen wir den Ancients den Krieg erklären oder nicht?«
Und plötzlich ruhen aller Augen auf mir, manche überrascht, manche neugierig, zwei, deren Pupillen unterschiedlich geweitet sind, und manche mit Blicken, die töten könnten. Ich versuche einen klaren Gedanken zu fassen, aber das einzige, was mir ständig durch den Kopf geht, ist Pacos Bemerkung aus der vergangenen Nacht - Scheißwas? -, und irgendwie kommt mir die unangemessen vor. »Nun, ich...«, stammele ich und halte dann inne.
Doch Blake sieht mich immer noch an, also schüttele ich innerlich mit dem Kopf. Rick Larson, null Defekte. »Kein Krieg«, krächze ich.
»Ranger ist anderer Ansicht«, stellt Blake fest.
»Ranger hat unrecht«, sage ich.
Keine sehr diplomatische Bemerkung, nehme ich an. Ranger ist bereits aufgesprungen, und seine Wangen sind so gerötet, daß er aussieht, als seien ihm sämtliche Äderchen im Gesicht geplatzt, und ich bin plötzlich der Sündenbock, an dem er all die Wut auslassen kann, die er zu feige ist, gegen Vladimir oder Blake zu richten. »Was, zum Teufel, verstehst du schon davon, du rotz-näsiger Punk?«
Die Verdrahtung ist heute eine andere - ich habe einen Escrima-Chip anstelle desjenigen für meine H&K Smartgun eingeworfen -, aber sie will Ranger dennoch umlegen. Und das ist meine Entschuldigung für die Antwort, die ich ihm vor den Latz knalle: »Mehr als du, Drekhead.« Meine Hand gleitet in meine Jackentasche. Bei Versammlungen werden keine Schußwaffen getragen - eine Regel, die auch für Leibwächter wie Box gilt (nicht, daß er eine brauchte); die Elektronik, die ich gar nicht tragen dürfte, verrät mir, daß in den Türrahmen des Versammlungsraums Hardware eingebaut ist, die eingeschmuggelte Holdouts entdeckt.
Aber null Problemo. Chemoschnüffler und Metalldetektoren reagieren nicht auf meinen ›Klick-Stock‹, einen Teleskopstab, wie ihn die japanischen Cops benutzen. Er besteht aus modifiziertem Hartplast, das die Dichte von Eisen und somit einige Schlagkraft hat, jedoch völlig nichtmagnetisch ist. Eingefahren ist der Stock ein etwa zwölf Zentimeter langer Zylinder mit dem richtigen Durchmesser, um ihn bequem packen zu können. Ein Ruck mit dem Handgelenk, und er fährt mit einem Dreifachklick auf eine Länge von dreißig Zentimetern aus, wobei auch die Spitze noch genügend Masse hat, um Knochen brechen zu können.
Rangers Miene verfinstert sich noch mehr. Er knurrt etwas, das verdächtig nach Scheißwas? klingt, und wirft sich dann vorwärts. Seine rechte Hand verschwindet hinter seinem Rücken und taucht mit einer Kompositklinge wieder auf, seinem ganz persönlichen nicht-metallischen Holdout-Äquivalent.
Ich greife auf die Talentsoft zurück, und die brutale Einfachheit des Escrima erfüllt mich. Escrima stammt von den Philippinen, und ich würde es nicht als Kampfsportart bezeichnen, weil es nichts Sportliches an sich hat. Es gibt keine Manieren, keine offiziellen Regeln oder Wettkämpfe. Es ist ungefähr so brutal und pragmatisch wie die militärische Art der Selbstverteidigung, die auf der Akademie gelehrt wird, für meine Erfordernisse jedoch besser geeignet, weil es grundsätzlich davon ausgeht, daß der Gegner bewaffnet ist. Mit Ausnahme des balinesischen ›Schmetterlingsmessers‹ ist die einzige Waffe, deren Gebrauch Escrima lehrt, ein kurzer Stock oder Stab - die Art ›Gelegenheitswaffe‹, die man praktisch überall findet -, der zufällig ungefähr dieselbe Größe wie mein Klick-Stock hat. Welch ein Zufall.
Als Ranger losprescht, ziehe ich meinen Klick-Stock. Ein Ruck meines Handgelenks, klick-klick-klick, und ich bin kampfbereit. Ich will irgendwas Cooles knurren, irgendwas wie: »Also gut, Bubi, mal sehen, was du draufhast«, aber mir bleibt nicht mal annähernd genug Zeit.
Er kommt geduckt auf mich zu und setzt zu einem geraden, direkt auf meinen Bauch gezielten Stoß an, eines der Manöver mit einem Messer, die am schwierigsten abzuwehren sind. Ich springe einen halben Meter rückwärts, fange sein Handgelenk in der Klammer, die von meiner linken Hand und dem Klick-Stock in meiner rechten gebildet wird, und lenke den Stoß links an mir vorbei. (Knapp vorbei: Ich spüre, wie die Klinge an meinem Hemd zupft.) Dann führe ich einen raschen Rückhandschlag mit dem Stock gegen seinen Kopf. Das scharfe Knacken, als der Stock Rangers Stirn trifft, hallt durch den Raum, und Blut spritzt aus seiner Kopfhaut. Einen Augenblick lang ist er erstarrt, die Augen sind blicklos und weit aufgerissen. Es wäre so leicht, die Spitze des Stocks in seine Kehle zu rammen, ihm das Zungenbein und den Kehlkopf zu zerschmettern und dann einfach abzuwarten und zuzusehen, wie er stirbt. Leicht und auf lange Sicht wahrscheinlich auch ein kluger Zug.
Aber im Augenblick wahrscheinlich politisch nicht der geschickteste Zug. Jemanden bei einer Versammlung zu töten, wird irgendwie nicht gern gesehen und ist kaum der beste Weg, sich Freunde zu machen und Leute zu beeinflussen. Anstatt in die Kehle ramme ich ihm den Stock in den Solar Plexus, aber nicht annähernd so hart, wie ich eigentlich will. Er sagt uff, setzt sich abrupt auf den Hintern - wobei er seinen Stuhl um mindestens einen Meter verfehlt, ach, wie bedauerlich - und hört ganz einfach auf, den Vorgängen weiterhin Aufmerksamkeit zu schenken.
Aus dem Augenwinkel sehe ich etwas wie eine lederbedeckte Wand seitlich auf mich zukommen. »Alles cool«, sage ich rasch zu Box, indem ich mich von Ranger entferne. So cool wie möglich stoße ich die Stock-' spitze gegen die Stahlbetonwand des Besprechungsraums, um die Muffen zu lockern, dann schiebe ich ihn zusammen und lasse ihn zurück in die Tasche gleiten. Mit leicht erhobenen und sichtlich leeren Händen wende ich mich an Blake. »Was sagten Sie gerade?« frage ich.
Einen Augenblick lang verziehen sich die Lippen des großen Mannes zu etwas, das ein Lächeln sein könnte. Sein Laserblick ist unverwandt auf mein Gesicht gerichtet. Er hat mit so etwas gerechnet, wird mir plötz-lieh klar. Er hat den ganzen Vorfall als eine Art Prüfung inszeniert. Aber als Prüfung für wen? Für mich oder für Ranger? Wenn für mich - habe ich bestanden oder bin ich durchgefallen? Durchgefallen, weil ich Ranger aufgestachelt habe, oder bestanden, weil ich ihn besiegt habe? Wer weiß?
»Ich sagte, du hast gegen den Krieg gestimmt«, sagt Blake so kühl, als sei nicht das geringste vorgefallen. »Warum?«
»Zu teuer«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen. »Zu hohe Kosten, zu wenig Gewinn.«
»Was ist mit der Reputation?« faucht Fahd.
Hier könnte ich politisch argumentieren, aber irgend etwas - vielleicht der Ausdruck in Blakes Augen - verrät mir, daß ich damit nicht durchkommen werde. Vielleicht ist es an der Zeit, ein Risiko einzugehen. Wenn ich gewinne, habe ich Zugang zum inneren Kreis, was meinen Wert exponentiell steigern würde. »Was soll damit sein?« schieße ich zurück. »Wenn es nach euch geht, stehen wir bald in dem Ruf, dämlich zu sein, weil wir uns in einen kostspieligen Krieg gestürzt haben, den wir hätten vermeiden können.« Fahds Wieselgesicht wird weiß, und ich weiß, daß ich mir noch einen Feind gemacht habe. Ereignisreicher Tag. Ich erwäge kurz, an dieser Stelle aufzuhören, aber Scheißwas? »Wenn ihr unbedingt eurem Ego schmeicheln wollt«, sage ich direkt zu Fahd, »dann nehmt euch jemanden zur Brust, bei dem ihr euch keine blutige Nase holen könnt. Macht einen Handel mit den Ancients, wie Vladimir vorschlägt, aber vermöbelt die Eighty-Eights.« Das ist eine der hiesigen, den chinesischen Verhältnissen nachempfundenen Triaden. »Die werden in letzter Zeit sowieso zu dreist.«
Und an dieser Stelle brennen sich Blakes Laseraugen wieder in meinen Schädel, und ich habe ein Gefühl, als zähle er meine Zahnfüllungen oder durchforste meinen Verstand. Einen Augenblick lang habe ich eine Scheißangst, daß er vielleicht ein Schamane oder Magier ist, der tatsächlich meine Gedanken lesen kann. Doch ich verwerfe diese Idee sofort wieder. Wenn Blake das könnte, hätte er es bereits getan, und ich würde mittlerweile längst an einer Neun-Millimeter-Migräne leiden.
Die Stille dehnt sich unerträglich, und ich verspüre den irrationalen Drang loszuplappern, nur um die Zeit schneller verstreichen zu lassen. Doch bevor ich die Beherrschung verliere, nickt Blake zögernd. »Die Eighty-Eights«, sinniert er, »ja. Ein warnendes Beispiel für andere, hmm?« Er lächelt Vladimir zu, der ebenfalls nickt. »Du hast freie Hand, hinsichtlich einer Entschädigung an die Führung der Ancients heranzutreten«, sagt Blake zu seinem Ratgeber. »Schließlich ist es dein Baby.«
Dann wendet sich der Anführer an Fahd, und das Wiesel scheint unter seinem spekulativen Blick zu schrumpfen. Wiederum dehnt sich die Stille unerträglich, dann tippt Blake mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte - für ihn eine überwältigende Zurschaustellung von Emotion. »Es wird keine Vergeltungsmaßnahmen gegen die Ancients geben«, sagt er entschlossen. »Keine. Ich mache dich persönlich dafür verantwortlich, ihm das zu sagen.« Er deutet auf den immer noch bewußtlosen Ranger. »Aber ich will, daß ein paar Überfälle auf die Eighty-Eights stattfinden. Schlagt mit aller Härte zu, tut ihnen weh. Und sorgt dafür, daß man auf der Straße erfährt, wer dafür verantwortlich ist. Sag ihm auch das.«
Der Bandenboss hält inne, und diesmal gibt es keinen Zweifel: Er lächelt schwach. »Und sag ihm, ich meine, er sollte Larson als bedeutenden Aktivposten einsetzen«, fügt er hinzu.
Der Art nach zu urteilen, wie Fahd mich ansieht, kann ich mir ganz gut vorstellen, wie er Ranger diese Botschaft präsentieren wird. Ich behalte meine ausdruckslose Miene bei, als ich einen flüchtigen Blick auf Blake werfe. Die Frage, die ich mir zuvor gestellt habe, gewinnt plötzlich sehr an Bedeutung. Wen von uns beiden versucht er zu testen? Weil so, wie sich die Dinge entwickeln, einer von uns beiden die ganze Sache nicht lebend überstehen wird.
Und genau das scheint Blake vorzuschweben.