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Zum Teufel mit diesem Argent! Der elende Hurensohn muß gewußt haben, was mir durch den Kopf ging, was ich von ihm dachte. Und er hat es mich denken lassen, hat mich mein moralisches Überlegenheitsgefühl richtig auskosten lassen, bis ich den Boden haßte, auf dem er geht.
Und dann, als ich bereit war, ihm seinen gottverdammten Kopf abzureißen, hat er im wesentlichen gesagt: »Hey, ich will auch das Richtige tun, Chummer«, und mich wissen lassen, daß er nur ein wenig an den Fäden gezogen hat. Erbärmlicher Hurensohn.
In kürzester Zeit hat er den Flug und all den Drek organisiert, und schon sitzen wir im Wagen und fahren zum Flughafen. In der Zwischenzeit rege ich mich immer mehr auf und gebe mir gleichzeitig alle Mühe, mir nichts anmerken zu lassen.
Es ist mir egal, wenn der Runner weiß, daß ich genervt bin, Priyatel. Mich stört es. Argent hat an den Fäden gezogen, um etwas klarzustellen. Er hat etwas getan, das meine Sichtweise der Shadowrunner zu bestätigen schien, eine Sichtweise, die ich mir aus Cop-gerede und dem, was ich auf der Akademie gehört habe... und, ja, wahrscheinlich auch dem, was ich im Trid aufgeschnappt habe, aneignete. Dieser verdammte Argent hat das gewußt und beschlossen, dafür zu sorgen, daß ich mich an meinen liebgewonnenen Vorstellungen verschlucken soll. Indem er ihnen zuerst perfekt entsprochen und dann eine hundertprozentige Kehrtwendung vollzogen hat. Und was ich daraus lernen soll, ist, daß Shadowrunner nicht die seelenlosen Söldnerschweine sind, für die ich sie immer gehalten habe. Ich hasse es, wenn mir bewiesen wird, daß ich mich irre, besonders von einem Drek-sack wie Argent.
Und darum sitze ich kochend auf dem Beifahrersitz des Westwind, während Argent erst nach Westen und dann nach Süden durch die südliche Innenstadt und zu jenem Teil des Flughafens fährt, wo die Privatflugzeuge stehen. Ich werde zunehmend rappelig, als wir uns dem bewachten Tor nähern, das zum Parkplatz der Flugzeugbesitzer führt, doch Argent läßt nicht das kleinste Anzeichen der Unruhe erkennen.
Die Augen des Wachpostens glitzern unnatürlich im wäßrigen Schein der Nachmittagssonne, und ich sehe das Glasfaserkabel, das von seiner Datenbuchse zum Computer an seinem Gürtel verläuft. Er sieht uns an, und unsere Bilder werden von seinen Cyberaugen direkt zum Computer und von dort aus wahrscheinlich zu irgendeinem Analyse-/Erkennungssystem in einem der umliegenden Gebäude übermittelt. Das bestmögliche Ergebnis ist, daß zwischen uns und der Datenbank der hier zugangsberechtigten Personen keine Übereinstimmung besteht. Im schlechtesten Fall läßt mein Bild alle möglichen Alarmglocken klingeln, und von da an geht es dann steil bergab.
Ich hätte mir die Aufregung genausogut für etwas Wichtiges sparen können - zum Beispiel den bevorstehenden Flug. Der Wachposten mustert uns kurz, richtet den Blick einen Augenblick lang in die Unendlichkeit und nickt dann Argent mit viel mehr Hochachtung zu, als er ihm noch einen Augenblick zuvor zugestanden hat. »Fahren Sie direkt durch, Sir«, sagt er. »Sie wissen ja, wo Sie parken können.«
Argent lächelt zur Erwiderung - das perfekte Ebenbild eines hochrangigen Konzernpinkels, dem von einem Untergebenen der ihm gebührende Respekt gezollt wird - und fährt weiter. Ich frage mich, welche Identität der Computer ausgespuckt hat, nachdem er Argents Bild überprüft hatte, aber ich werde mich nicht demütigen und danach fragen. Ich schätze, für heute bin ich schon genug gedemütigt worden.
Als der Runner mir sagte, er hätte ein Flugzeug organisiert, habe ich mir irgendein heruntergekommenes einmotoriges Propellerflugzeug vorgestellt, das ungefähr so alt ist wie ich, wenn nicht älter. Eine Piper Club vielleicht, oder eine verdammte Comanche von der Jahrhundertwende. (Als Kind habe ich alles über Flugzeuge, alte und neue, gelesen, was ich in die Finger kriegen konnte. Eigentlich nicht als Hobby, sondern in dem Versuch, die irrationale Angst zu überwinden, die ich schon immer vor dem Fliegen hatte. Hat übrigens nicht funktioniert.) Als wir an den Hangars vorbeifahren, sehe ich genug von diesen überholten Flugzeugen, Todesfallen, die aussehen, als würden sie nur noch von Kaugummi, Klingeldraht, Klebestreifen und positivem Denken zusammengehalten.
Doch Argent hält nicht an. Statt dessen fährt er weiter, und wir begegnen jetzt auch Flugzeugen, die auf den sozioökonomischen, chronologischen und Zuver-lässigkeits-Skalen weiter oben rangieren. Cessnas und Fiat-Fokkers, die erst zehn oder zwanzig Jahre alt sind, lösen scheintote De Havillands ab, und mir wird langsam etwas wohler hinsichtlich der ganzen Sache.
Und er hält immer noch nicht an. Statt dessen biegt er nach rechts ab, und jetzt sind die Flugzeuge, die wir passieren, ein oder zwei Jahre alt, wenn überhaupt. Lear-Cessna Turboprops der Exec-Klasse und Agusta-Cierva ›Plutocrat‹ Rotormaschinen stehen neben Drek, den ich noch nie gesehen habe, wobei die meisten Vögel mit irgendwelchen Konzernemblemen geschmückt sind. Der Runner wird doch wohl nicht etwa einen ganz bestimmten Deal für diesen Transport abgeschlossen haben?
Doch nein, vor uns kann ich erkennen, womit wir fliegen werden, und plötzlich ist meine alte Angst wieder da und krallt sich in meinen Magen. Nicht, daß es ein altes Schätzchen von einem Flugzeug wäre. Absolut nicht. Es ist ein brandneuer McDonnell-Douglas Merlin, ein kleiner, schlanker Vetter des Federated-Boeing Computer. Es ist eine Kipprotormaschine mit zwei Turboprops, deren Konstruktion offenbar auf einem Design der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts namens Osprey beruht, einem Senkrechtstarter, der von horizontalem auf vertikalen Flug umschaltet, indem er die Flügel dreht und damit die Propeller in helikopterähnliche Rotoren verwandelt.
Drek, jeder Stadtbewohner in Nordamerika kennt den Computer. Und jeder weiß, wie unzuverlässig er ist - natürlich entgegen den Behauptungen des Herstellers - und wie anfällig für Leistimgsverlust während des Wechsels vom horizontalen in den vertikalen Flug und umgekehrt. Vor langer Zeit habe ich mir geschworen, nie mit einem Computer zu fliegen, und jetzt soll ich in den kleineren - und noch unzuverlässigeren - Merlin steigen. Einfach Sahne, und dafür will ich dir echt aus tiefstem Herzen danken, Argent.
Natürlich versuche ich auch hier, mir mein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Ich richte den Blick auf die blauweiße Maschine und versuche mich auf die beiden Techs oder Mechaniker im Overall zu konzentrieren, die an der Maschine herumfummeln. Um mich von Statistiken über Abstürze und Todesopfer abzulenken. Ich versuche das rechteckige Logo auf dem Rumpf auszumachen.
»Mach dir keine Sorgen wegen der Konzernzugehörigkeit«, meldet sich Argent, der wieder in seine alte Routine des Gedankenlesens verfällt. »Yamatetsu hat die Maschine vor einer Weile an einen Chummer verkauft, und sie ist noch nicht dazu gekommen, das Logo zu überpinseln.« Aha. Und ich frage mich, ob sie je dazu kommen wird, den Radartransponder zu ändern, so daß sie unter Zivilflugzeug und nicht unter Konzernflugzeug firmiert.
Agent parkt in der Nähe des Merlin, und wir steigen aus. Ich sehe Bewegung in der offenen Luke, dann taucht eine Gestalt auf. Eine Elfe, doch kleiner und breiter als der durchschnittliche Vertreter ihres Metatyps. Zuerst halte ich sie für fett, ändere meine Meinung jedoch, als sie die Leiter heruntersteigt. ›Angenehm gepolstert‹ ist vielleicht eine bessere Beschreibung. Ihr Gesicht ist ebenfalls breiter als das des typischen Elfs, und ihre Augen und stachelig geschnittenen Haare sind dunkel anstatt hell. Aber sie hat die Elfenohren, und ihr Lächeln beim Anblick Ar-gents hat etwas an sich, das ich nicht näher bezeichnen kann, das aber, soweit es mich betrifft, ihren Me-tatyp vollauf bestätigt. Sie trägt einen formlosen schwarzen Overall mit viel zu vielen Taschen, die anscheinend alle mit irgendwelchem Zeug vollgestopft sind.
»Hoi, Argent«, ruft sie, und ihre Stimme und das breite Grinsen erinnern mich an ein Kind mit einem neuen Spielzeug.
»Hoi, Raven.« Er nimmt die dargebotene Hand, und sie schütteln sich die Hände wie alte Chummer.
Nun, da ich sie aus der Nähe sehe, versuche ich das Alter dieser Raven zu erraten. Ihrer Stimme und ihren Bewegungen nach zu urteilen, hatte ich sie zunächst auf etwa zwanzig geschätzt. Jetzt lege ich jedoch noch zehn, vielleicht sogar fünfzehn Jahre drauf. Ihr Gesicht ist wettergegerbt, und um die Augen zieht sich ein dichtes Faltennetz. Ihre Modifikationen sehe ich jetzt erst, drei Datenbuchsen, je eine in den beiden Schläfen und eine dritte, die wegen der rosa und zart aussehenden Haut darum herum ziemlich neu aussieht, auf der rechten Seite direkt über dem Kiefergelenk. Wahrscheinlich ganz auf Rigger ausgelegt. Man trifft nicht viele Decker, die abgelegte Konzernflugzeuge kaufen und fliegen.