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In einer Flohkiste wie der Verheißung abzusteigen, hat einige Vorteile. Zum Beispiel braucht man sich keine Sorgen zu machen, daß der Zimmerservice hereinschneit und einen beim Nachdenken stört.
Ich sitze in einem unbequemen Halblotus auf dem Bett, einen brandneuen, brandheißen Taschensekretär auf dem Schoß. (›Brandheiß‹ bezieht sich dabei auf seine Herkunft und ganz gewiß nicht auf seine Leistung.) Meine Headware ist nicht dafür konzipiert, über eine Textdatei wie dem Drek zu brüten, den ich von Cats Telekom kopiert habe, und meinen kleinen Palmtop scheine ich irgendwo unterwegs verlegt zu haben. Ziemlich gedankenlos. Ich sollte auf meine Spielzeuge echt besser aufpassen. Jedenfalls brauchte ich offensichtlich etwas, womit ich den Job erledigen konnte, und ebenso offensichtlich würde ich in den Tiefen des Tarislar-Ghettos keinen Radio Shack- oder Fuchi-Händler finden.
Glücklicherweise gibt es in Ghettos und dergleichen andere Händler, und eine Kredzahlung an einen verbissenen Elf, der mir vom Empfangsportier meiner Absteige empfohlen worden war - natürlich erst nach einer weiteren Kredzahlung -, brachte mir einen ›fast neuen‹ Yamaha PDA-5 ein, der irgendwo im Sprawl ›vom Laster gefallen‹ war. Der Preis war hoch - zwei K, fast soviel, wie ich für einen neuen mit Bedienungsanleitung und Garantie und dergleichen Drek bezahlt hätte -, aber ich brauchte ihn eben, und der Elfen-Heh-ler wußte das. Wir machten den Deal, und ich trabte wieder ›nach Hause‹, um mich an die Arbeit zu machen.
Mittlerweile gehe ich die Datei, die Cats Smartframes über die fünf Namen zusammengestellt hat, zum drittenmal durch in der Hoffnung, daß es an irgendeiner Stelle bei mir klingelt. Bis jetzt Fehlanzeige. Bei den fünf Namen handelt es sich um Konzerne - Crystalite Environmental Research Corporation, Griffin Technologies Incorporated, Telestrian Industries Corporation, Margaux Enterprises und Starbright Advanced Synergetics (ein verdammt guter Name für einen Müslifres-ser-Konzern) -, alle mehr oder weniger bedeutende Spieler in der Tir-Liga und in einigen Fällen auch woanders in der Welt. Cat hat mir selbst gesagt, daß keiner dieser Konzerne offiziell Geschäfte in Seattle und ganz allgemein in den UCAS betreibt. Telestrian Industries Corporation - allgemein unter dem Kürzel TIC bekannt - ist bei weitem der größte Konzern. Ein großes, aggressives Konglomerat, dessen Finger in hundert verschiedenen Torten stecken. Jährliche Umsätze im Multimilliarden-Nuyen-Bereich. Die Hauptniederlassung befindet sich in einer verdammten Arcologie irgendwo in Portland. Beschäftigt sich mit allem von der Gentechnik bis zur Software-Entwicklung, darunter auch ein paar echt abgefahrene Seitenlinien, die parallel gefahren werden.
Im Gegensatz dazu sind die anderen eher mittelmäßig. Nicht klein - immer noch im Milliarden-Nuyen-Bereich -, aber viel weniger diversifiziert als TIC. Cats Smartframes bestätigen, daß alle so etwas wie besondere Sicherheitstruppen‹ - sprich ›Leute für verdeckte Unternehmungen - haben, und es gibt Hinweise, daß sie das eine oder andere Mal die eine oder andere Aktivität im Sprawl an den Tag gelegt haben.
Und, Drek, warum auch nicht? Seattle ist ein bedeutender Markt mit einer mehr als doppelt so hohen Bevölkerungsdichte wie Portlands Innenstadt. In Seattle sind mehr Megakonzerne präsent als sonstwo in Tir, und daher gibt es hier auch mehr Geschäftsmöglichkeiten für einen ehrgeizigen, aggressiven Konzern, der den restriktiven Gesetzen hinsichtlich der ›Geschäftspraktiken‹ ausweichen will, die vom elfischen Prinzenrat durchgesetzt worden sind. Warum sollte ein Konzern aus Tir sich nicht nordwärts in den Sprawl ausbreiten wollen?
Doch warum sollten alle diese fünf Konzerne ›besondere Sicherheitstruppen‹ in den Sprawl schicken, anstatt offen zu agieren? Dafür kann ich gleich mehrere Gründe aus dem Handgelenk schütteln. Erstens, um gesetzliche Beschränkungen ihrer Aktivitäten außerhalb Tirs zu vermeiden. (Ich kenne die Geschäftsgesetze in Tir nicht im Detail, aber ich habe gehört, daß sie ziemlich drakonisch sein sollen.) Zweitens, weil sie ihre Konkurrenten daheim nicht wissen lassen wollen, daß sie sich zum Beispiel Aztechnology mit einem Angebot für ein größeres gemeinsames Projekt nähern. Drittens, weil das, was sie vorhaben, gegen die Gesetze der UCAS und des Seattier Metroplex verstößt. Und viertens, nach allem, was ich von der Geschäftswelt weiß, haben Konzerne manchmal eine Menge für diesen Mantel-und-Degen-Drek übrig, und zwar ganz einfach deshalb, weil es die Bosse cool finden. Von diesen Gründen scheint nur der dritte die Möglichkeit zu beinhalten, einen Deal mit den Cutters abzuschließen.
Drek, das Puzzle wird immer umfangreicher, aber alle Teile sind weiß, und nichts gibt mir einen Hinweis darauf, wie sie zusammenpassen könnten. Wie halten die Spionage-Gegenspionage-Freaks, die täglich mit derartigen Problemen zu tun haben, das nur aus? Ich würde es einen oder zwei Tage schaffen - höchstens eine Woche -, bevor mir das Hirn aus den Ohren herausquellen würde...
Augenblick mal, was, zum Teufel, ist das?
Während ich im Geiste all die weißen Puzzle-Teile herumgeschoben habe, waren meine Finger mit dem Mini-Trackball des Taschensekretärs beschäftigt, so daß die Textdatei über den Bildschirm gewandert ist. Ich habe den Schirm zwar angesehen, aber eigentlich nicht hingesehen. Dann ist mir plötzlich etwas aufgefallen. Keine Ahnung, was. Die fragliche Stelle ist vorbeige-scrollt, bevor ich reagieren konnte. Ich weiß nicht, was ich gesehen habe. Nicht bewußt - mein Bewußtsein war in dem Augenblick offensichtlich nicht mit meinen Augen gekoppelt -, aber es ist ebenso offensichtlich, daß das, was meine Augen registriert haben, eine Bedeutung für mein Unterbewußtsein hatte. Eine Bedeutung, die immerhin groß genug war, um einen inneren Alarm auszulösen, der mich fast von dem verdammten Bett geworfen hätte.
Ich versuche mich wieder zu fangen und zwinge meine Finger, mit dem Zittern aufzuhören. Vorsichtig -ganz vorsichtig - lege ich den Daumen auf den Trackball und arbeite mich langsam durch den Text. Ich bin am Anfang des TIC-Eintrags und ziemlich sicher, daß ich den Text rückwärts durchgegangen bin, als es geschah, also scrolle ich langsam vorwärts. Ich versuche nicht, jedes Wort zu lesen - das würde meinen Verstand mit Sicherheit betäuben aber ich sorge dafür, daß meine Augen jede Zeile überfliegen. Wenn mein Unterbewußtsein einmal aufgesprungen ist und gerufen hat: »Hier, du dämlicher Hund«, tut es das vielleicht wieder. Wo ist die Stelle... wo ist sie nur...?
Da. Ich blockiere den Trackball, so daß ich ihn nicht ungewollt bewegen kann, und hole tief Luft.
Ich habe euch, ihr Wichser. Die erste Spur - ach so winzig, aber vielleicht ach so wichtig -, das erstemal, daß ihr nicht alle losen Enden verknüpft habt. (Warum nicht? Wart ihr zu sehr in Eile? Oder ist das nur eine falsche Fährte, die ihr mir gelegt habt? Nein, Kommando zurück, ich kann mir keine Zweifel erlauben, nicht jetzt.) Ich beuge mich tiefer über den Schirm und lese den Text vor und hinter den Worten, die mir aufgefallen sind.
Ich befinde mich mitten in einer langen Liste kleinerer Gesellschaften, mit denen TIC gemeinsame Unter-nehmungen betreibt, Gesellschaften in ganz Nordamerika und in der ganzen Welt. Alle sind klein, so klein, daß mir alle unbekannt sind ... alle außer einer.
Lightbringer Services Corporation. Eine kleine Telekomgesellschaft mit Hauptsitz in Honolulu im Königreich Hawaii. Zweigstellen in Tokio, Macao, Singapur, Palembang, Quezon City, Sydney, Quito, Mexico City... und Seattle.
Lightbringer. Dieser Elf - Pietr Tal-sowieso -, der Nicholas Finnigan aufgesucht hat, sagte, er sei bei Lightbringer. Damals dachten wir beide, das sei eine Tarnung. Eine logische Annahme, wenn man bedenkt, daß wir beide noch nie etwas von Lightbringer gehört hatten, und es gab keinen Hinweis auf eine Verbindung zwischen diesem Konzern und den anderen Vorgängen. Und jetzt? Jetzt gibt es eine, Priyatel, und zwar eine dicke, fette.
Oder nicht? Wieder habe ich das Gefühl, als hätte mir jemand einen Kübel Eiswasser über die Seele geschüttet. Genau wie bei dem Versuch, Drummond und Konsorten die Schuld für den Anschlag in Montlake zu geben, ist die Sache auch in diesem Fall nicht ganz so einfach. Ich weiß nicht, ob TIC der Konzern aus Tir ist, der sich an die Cutters herangemacht hat. Ich weiß nicht, ob dieser Pietr Tal-Drek tatsächlich für Lightbringer arbeitet. Drek, vielleicht hat sich der Elf, der Finnigan besucht hat, nur zufällig Lightbringer als Tarnmantel ausgesucht, und vielleicht liegt Lightbringer auch nur zufällig mit TIC im Bett, und vielleicht ist TIC auch nur zufällig einer von vielen Tir-Konzernen, die ein Interesse daran haben, in Seattle geschäftlich aktiv zu werden. Bedeutet die Lightbringer-TIC-Verbindung dann wenigstens, daß Telestrian Industries Corporation tatsächlich mein sogenannter ›IrrelKonzern‹ ist? Nein, zum Teufel. Es könnte reiner Zufall oder sogar Teil einer echt schlau eingefädelten Desinformationskampagne sein, die mich nur auf die falsche Fährte locken soll für den Fall, daß ich Finnigans Besucher unter die Lupe nehme.
Zum Teufel mit diesem paranoiden Mist, mein Verstand ist dafür einfach nicht geeignet! Gebt mir eine Gang - oder, noch besser, eine Truppe verdammter Ork-Pfadfinder oder so einen Drek -, die ich infiltrieren kann, und ich bin der glücklichste kleine Cop auf der ganzen Welt. Überlaßt den vielschichtigen paranoiden Schwachsinn den Neurotikern, die so verdreht sind, daß sie sich an einer Ecke treffen, das ist meine Meinung dazu.
Und, hey, ist das nicht ein Gedanke?
Ich widme mich wieder dem Taschensekretär und speichere die Textdatei sorgfältig ab. Dann sehe ich mir das Hilfssystem der kleinen Einheit an. Es gibt da einen kleinen Trick, den mir ein Chummer vor einem Jahr oder so gezeigt hat und der mir in dieser Situation wirklich helfen könnte. Natürlich nur, wenn der Sekretär das hat, was ich brauche. Ich wünschte, ich hätte tausend Nuyen extra bezahlt und die verdammte Bedienungsanleitung bekommen...
Dieses öffentliche Telefon hat auch schon bessere Tage gesehen. Jeder freie Fleck ist mit Graffiti besprüht, die meisten davon in Englisch oder Cityslang, manche aber auch in dieser verdrehten Pseudosprache, die die Elfen Sperethiel nennen - einige davon sind sogar wirklich lustig (»Hilf der Polizei: Schlag dich selbst zusammen«), Das Metallgehäuse des Telefons ist verbeult, und die Beulen stammen unverkennbar von kleinka-librigen Kugeln. (Ich nehme an, die beruhigenden, ag-gressionsabbauenden Farbmuster, die immer auf dem Schirm erscheinen, wenn eine Verbindung hergestellt wird, haben in diesem Fall ihre Wirkung verfehlt.) Die Elektronik scheint jedoch noch zu funktionieren - abgesehen von der Videokamera, die ich selbst unbrauchbar gemacht habe.
Es dauert eine Ewigkeit, bis die Verbindung zustande kommt. Was weiter keine Überraschung ist, echt nicht. Das Telefon ruft die Mobileinheit in meinem Taschensekretär an, der auf dem verwanzten Bett in Zimmer 2LR in der Verheißung liegt. Der Sekretär hält die Verbindung aufrecht und benutzt einen parallelen Kanal, um einen weiteren Anruf zu tätigen - das war das Leistungsmerkmal, nachdem ich so lange in den Hilfe-Dateien gesucht habe, Multiphontauglichkeit -, und zwar bei einer Nummer, die ich vor dem Verlassen der Absteige einprogrammiert habe. Wenn der Empfänger dieses zweiten Anrufs den Hörer abnimmt, koppelt der Sekretär die beiden Leitungen. Simpel (ja, klar).
Und der Empfänger hebt ab. »Ja?«
Ich höre einen Mischmasch aus Klicken, Summen und elektronischen Echos. Einen Moment lang befürchte ich, zuviel von dem Taschensekretär verlangt zu haben und daß er emsig dabei ist, sich kurzzuschließen und mein Bett in Brand zu setzen. Doch dann stabilisiert sich die Leitung. Nur audio, was bedeutet, mein Anruf könnte von einer Mobileinheit empfangen worden sein. »Ja?« wiederholt die präzise Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Ich bin's, Nicholas«, sage ich, und wie beim letztenmal warte ich darauf, daß er mir sagt, was Sache ist.
»Richard«, erwidert Finnigan, und ich höre die aufrichtige Freude in seiner Stimme. Ich entspanne mich - er würde weder meinen Namen benutzen noch so freudig klingen, wenn er in Schwierigkeiten steckte. »Nichts liegt mir ferner, als einen Bekannten davon abzuhalten, am Telefon ein Schwätzchen mit mir zu halten, aber bist du wirklich sicher, daß das klug ist?«
Ich muß grinsen. Als ich den alten Furz kennenlernte, dachte ich, diese geschraubte Art zu reden sei nur Schau. Nach kurzer Zeit wurde mir dann aber klar, daß er immer so redet und wahrscheinlich auch so denkt. »Klug genug.«
»Anrufe kann man zurückverfolgen«, sagt er zweifelnd.
»Von mir aus, das kümmert mich nicht«, stelle ich fest. Wenn der Drek wirklich zu dampfen anfängt, können IrrelKonzern, die Cutters oder der Star den Taschensekretär gerne haben, und sie sind auch herzlich eingeladen, sich Flöhe oder Wanzen oder sonstwas in der Verheißung einzufangen.
Ich kann Finnigans Achselzucken beinahe hören. »Wie du meinst«, räumt er ein, aber seine Stimme klingt immer noch zweifelnd. Er seufzt. »Also gut. Welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen dieses Anrufs?«
»Zunächst mal Lightbringer Services Corporation«, antworte ich.
»Ach?« Jetzt ist der Zweifel einer gewissen Neugier gewichen, und ich weiß, daß ich ihn am Haken habe. »Deinem Tonfall entnehme ich, daß du bereits weißt, daß Lightbringer tatsächlich existiert und keine Fassade ist?«
»Du hast's erfaßt. Der Laden ist echt. Und er liegt mit Telestrian Industries Corporation im Bett.«
»Tatsächlich?« fragt er mit mäßigem Interesse. »Nun, ich muß zugeben, daß ich darin wenig Bemerkenswertes erkennen kann. Viele Gesellschaften liegen, wie du es ausdrückst, ›mit Telestrian im Bett‹. TIC ist mit Abstand das aggressivste Konglomerat in Tir Tairngire, und seine Ambitionen gehen weit über die Grenzen des Elfen-Territoriums hinaus.«
»Dann weißt du über TIC Bescheid?«
»Ein wenig«, gibt Finnigan zu. »Aber vielleicht nicht genug, um deine Neugier zu befriedigen, weil ich mal annehme, daß deine Frage darauf abzielt.« Er hält inne, und ich weiß, was er jetzt fragen wird.
Also fahre ich dazwischen. »Ich kann dir nicht sagen, warum ich die Verbindung mit TIC für wichtig halte, Nicholas. Du wirst den Grund sicher verstehen.«
Finnigan schweigt einen Augenblick, dann: »Ich verstehe«, sagt er zögernd, »ja, ich glaube, ich verstehe tatsächlich. Es ist nicht einfach die Tatsache, daß Light-bringer in einer Gemeinschaftsunternehmung mit TIC steckt - weil ich davon ausgehe, daß Lightbringer ähnliche Vereinbarungen mit einer ganzen Reihe anderer Organisationen getroffen hat. Es muß etwas anderes sein, das deine Neugier geweckt hat. Ich frage mich, was?«
»Laß es lieber, Nicholas«, warne ich ihn ruhig.
»Hmm. ›Seltsam und immer seltsamer!‹ sagte Alice. Irgendwann mußt du mir wirklich die ganze Geschichte erzählen.« Er hält inne. »Ich nehme an, du willst etwas ganz Bestimmtes von mir, Richard. Stimmt das nicht?«
Jetzt ist die Reihe an mir zu überlegen. »Ich brauche jemanden, der sich bei TIC umsieht«, sage ich schließlich. »Und zwar gründlich, Nicholas. Der jeden verdammten Stein umdreht und richtig im Drek herumstochert.«
Finnigan begnügt sich zunächst mit einem weiteren »Hmm«. Dann: »Offensichtlich weißt du bereits einiges über den Konzern«, denkt er laut. »Sonst wärst du zum Beispiel nicht über die Verbindung zu Lightbringer informiert.«
Ich zucke die Achseln, obwohl ich weiß, daß er mich nicht sehen kann. »Ein Chummer hat ein paar Smartframes für mich darauf angesetzt.«
»Also eine einleitende Suchaktion«, sagt er zögernd. »Autonome Datensuchkonstrukte« - er nennt die Dinge nur selten so, wie wir anderen es tun - »sind für extremere Dinge ungeeignet.« Er denkt einen Augenblick nach, dann fährt er fort. »Der, äh, Kollege, der die Konstrukte programmiert hat, ist unabkömmlich?«
Schmerz und Wut verknoten sich in meinem Magen. »Ja«, sage ich, und meine Stimme klingt kalt und emotionslos - fast unmenschlich - in meinen Ohren.
Am anderen Ende tritt ein längeres Schweigen ein.
Schließlich sagt Finnigan: »Tja, nun...« Eine weitere Pause, jedoch nicht annähernd so lang wie die erste. »Ich glaube, ich kann dir in dieser Hinsicht helfen«, sagt er zögernd.
»Du?« Das überrascht mich. »Du schreibst Romane.«
Er kichert trocken, und mir wird klar, daß das, was ich gerade gesagt habe, jeden anderen verärgert hätte. Finnigan ist aber nicht jeder andere, den Göttern sei Dank. »Ja, ich schreibe Romane. Aber um eine fiktive Realität zu erschaffen, muß man die eigentliche Realität verstehen. Man muß die Gesetze kennen, wenn man sie brechen will.« Er denkt einen Augenblick lang nach, und ich kann beinahe sehen, wie er an seiner Oberlippe zupft, wie er es immer tut, wenn er über etwas nachdenkt. »Ja«, sagt er schließlich - entschlossen, als sei er nicht bereit, sich von irgend jemandem in seine Entscheidung dreinreden zu lassen. »Ich habe den Zugang und die Fähigkeiten - und, wie es scheint, auch die Motivation -, um das für dich zu regeln. Es ist schon lange her, seit ich zum letztenmal gründliche Nachforschungen in den Konzerngefilden unternommen habe, und es wird höchste Zeit, daß ich mich wieder daran versuche.« Eine weitere Pause. »Es könnte eine Weile dauern. Ich nehme an, ich kann dich nicht anrufen.«
Ich lächle grimmig und würdige diese Frage keiner Antwort. »Wie lange?« frage ich statt dessen.
»Das kommt darauf an«, sagt er mit einem weiteren Kichern. »Ich mache mich sofort an die Arbeit, aber je nachdem, wie tief die Sachen vergraben sind, könnte es schon eine Zeitlang dauern. Wahrscheinlich ein paar Tage, vielleicht länger.«
Mir kommt ein unangenehmer Gedanke. »Du hast doch wohl nicht etwa vor, direkt in das TIC-System zu decken, oder?«
Diesmal schallt ein herzhaftes Lachen aus dem Telefonlautsprecher. »Nicht mal, wenn mein Leben davon abhinge. Oder auch deines. Damit würde ich nichts weiter erreichen, als mir sämtliche Sicherheitstruppen auf den Hals zu hetzen, die TIC in Seattle unterhält. Nein, nur sekundäre Quellen, das versichere ich dir. Die damit verbundene Mühe und das erforderliche Fachwissen mag hoch sein, aber dafür ist die Gefahr relativ gering. Übrigens, hast du je von Shadowland gehört?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein. Was ist das, ein Club?«
»Könnte man sagen«, sinniert Finnigan. »Kein Nachtclub, aber ein Club im traditionelleren Wortsinn mit einer äußerst, äh, dünnen Mitgliederschaft.«
»Ein Poli?«
»Nein. Shadowland ist der Name, den manche Leute einem ausgedehnten elektronischen BTX-System gegeben haben.«
»Wie UOL?« frage ich. »Nie gehört.«
»Das Gegenteil hätte mich auch überrascht«, sagt er trocken, dann korrigiert er sich, »oder vielleicht doch nicht.« Er hält inne, um seine Gedanken zu ordnen, dann fährt er fort. »Wie ich schon sagte, Shadowland ist ein BTX-System ohne feste geographische Lage. Die Knoten und Anschlüsse, aus denen das Netz besteht, sind ständig in Bewegung wie illegale Würfeltische. Sie bleiben kaum einmal länger als eine Woche an einem Ort. LTG-Nummern und Kommunikationsprotokolle werden ebenfalls ständig geändert.«
»Warum so viel Sicherheit? Wer ist hinter ihnen her?«
»Die Megakonzerne«, antwortet Finnigan sofort. »Regierungen. Gesetzeshüter. Im wesentlichen jeder.«
Und plötzlich weiß ich, wovon er redet. »Shadow-runner«, sage ich mürrisch.
Finnigan kichert wieder, und mir wird klar, daß ihm meine Reaktionen einen weiteren Hinweis für das verdammte Puzzlespiel geliefert hat, das er spielt: raten, wer/was Larson ist. »Manchmal sind sie ganz nützlich«, stellt er fest.
Ich schnaube. Zu viele Leute - insbesondere in Seattle, habe ich festgestellt - scheinen Shadowrunner auf ein Podest zu heben und sie als › Helden des kleinen Mannes‹ oder einen ähnlichen Drek zu betrachten. Vielleicht auch Finnigan. Wer weiß? Ich halte sie jedenfalls für Abschaum - für käuflichen Straßendrek, der nicht heroischer ist als die Informanten und Spitzel und Ratten, mit denen ich mich in Milwaukee viel zu lange abgeben mußte. Für ein paar Nuyen würden sie ihre Mutter verkaufen, und der einzige Grund, warum sie mit ihrem Vater nicht das gleiche machen würden, ist der, daß sie im allgemeinen nicht wissen, wer ihr Vater ist.
»Ich gebe dir die Kontaktdaten trotzdem, Richard«, drängt Finnigan. »Sie könnten ganz nützlich sein.« Auf dem Datenschirm des Telefons erscheinen eine LTG-Nummer, eine Rufnummer und eine komplizierte Zeichenkette, bei der es sich um ein Zugangsprotokoll handeln muß. Aus reinem Instinkt speichere ich die Daten. »Ich glaube, sie sind auf dem neusten Stand«, versichert mir der alte Kauz.
»Woher willst du das wissen?« frage ich, plötzlich neugierig geworden.
»Geschichten kommen von überall her, Richard, die meisten vielleicht sogar von Shadowland.« Er seufzt. »Unglücklicherweise kann ich die besten nicht ausschlachten.«