27

Warten war schon immer unerträglich für mich, und diesmal ist keine Ausnahme. Vor dem Anruf haben Argent und ich uns überlegt, wieviel Zeit wir Lynne für den Rückruf geben sollen, und wir einigten uns auf eine Stunde. Lange genug, um meinen Bericht zu lesen und zu verdauen, und lange genug, um sich zumindest in Ansätzen für all das Bestätigungen zu holen, was sie noch nicht weiß. Nicht lange genug - jedenfalls hoffen wir das -, um irgendeine Gegenoperation zu inszenieren. (Die Tatsache, daß uns keine überzeugenden Ideen kamen, was für eine Gegenoperation sie inszenieren könnte, ließ uns in dieser Hinsicht keineswegs aufatmen.) Also einigten wir uns wegen all der netten, vernünftigen, logischen Gründe auf eine Stunde.

Dabei haben wir jedoch nicht in Betracht gezogen, wie es für uns sein würde, diese Stunde zu warten. In den ersten fünfzehn Minuten marschierte ich auf und ab und war so rappelig, daß ich jedem den Kopf schon wegen eines lauten Wortes abgebissen hätte. Argent lag nur gedankenverloren auf dem Bett. Zuerst glaubte ich, das Warten würde ihm nichts ausmachen, und haßte ihn dafür. Doch dann, nach etwa fünfzig Minuten, walzte Jean Trudel mit einem Teller Sandwiches und ein paar kalten Bieren zur Tür herein - und der verchromte Runner war schon halb vom Bett gesprungen, bevor er sich bremsen konnte. Ein wenig schreckhaft, Argent? wollte ich sagen, hielt jedoch meine Zunge im Zaum.

Bei T minus zwei Minuten hocke ich mich vor das Telekom, während Argent an derselben Stelle wie zuvor außerhalb des Aufnahmebereichs der Kamera sitzt. Ich lasse zweimal die Selbstdiagnose des Tele-koms laufen - und knurre Argent ein freundliches »Scher dich zum Teufel« zu, als er kichert -, dann habe ich in dieser letzten, endlos langen Minute nichts mehr zu tun. Die Wecker an unseren Uhren fangen beide innerhalb von einer Sekunde an zu summen, und ich kann mir vorstellen, wie irgendwo in San Francisco Peg die Deckerin emsig ein weiteres Sieben-Knoten-Relais zusammenschustert, diesmal für einen Anruf, der eingeht. Auf dem Telekomschirm nimmt ein Kalibrierungsgitter Gestalt an, das Signal, daß wir bereit sind und auf Lynne Telestrians Anruf warten... vorausgesetzt, daß sie ihn tätigt.

In einem Trideofilm müßten wir jetzt die angegebene Zeit bis zum Ende ausschwitzen, bevor der Anruf käme, nur um künstlich die Spannung zu steigern. Ich schätze, ganz tief in mir gehe ich davon aus, daß die Realität genauso funktioniert, so daß ich fast an die Decke gehe, als das Telekom weniger als fünf Sekunden, nachdem es auf Sendung gegangen ist, durchdringend summt. Ich hole tief Luft und drücke auf die Sprechtaste.

Lynne Telestrians eisiges Gesicht erfüllt den Schirm. »Ich muß Ihren Eifer loben, Mr. Larson«, beginnt sie mit cooler, distanzierter Stimme. »Als ich Ihnen nahelegte, sich mit Timothys Aktivitäten zu beschäftigen, habe ich nicht so ein Ergebnis erwartet.«

Ich muß die Frage einfach stellen. »Was haben Sie denn erwartet?«

Sie zuckt die Achseln. »Ganz ehrlich? Ich habe erwartet, daß Sie sich für Timothy als geringfügiges Ärgernis, als geringfügige Ablenkung erweisen würden -als etwas, das ihn kurze Zeit ablenken würde, bevor er Sie umbringt.«

Ich nicke. Genau das habe ich mir im wesentlichen auch gedacht - sie wirft den Schwachkopf vom Star in die Schlacht und erfährt dann etwas aus den Umständen und der Art und Weise seines Todes. »Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuscht habe, Leäl«, knirsche ich, indem ich ein sehr unanständiges elfisches Wort benutze, das auf eine extrem enge Bekanntschaft hinweist. (Nein, ich spreche nicht Sperethiel, aber vor langer Zeit habe ich entdeckt, wie nützlich es ist, wenn man Leute in ihrer Muttersprache beleidigen kann.)

Ich habe gehofft, Lynne Telestrian dadurch etwas aus der Reserve locken zu können, aber meine Hoffnung wird enttäuscht... obwohl ich verdammt sicher bin, daß Sie sich meine Grobheit in irgendeiner eiskalten Ecke ihres Verstandes merkt. Sie betrachtet mich nur ein paar Augenblicke lang ungerührt, und dann sagt sie: »Botschaft überbracht, Mr. Larson. Wenn das alles ist...« Ein Arm taucht auf dem Schirm auf, und ich weiß, daß sie das Gespräch beenden will.

»Hey, warten Sie!« Die Sache läuft nicht so, wie ich gewollt oder auch erwartet habe. »Was werden Sie deswegen unternehmen?«

Sie zuckt die Achseln. »Ich sehe nicht, warum Sie das etwas angehen sollte.«

»Es geht mich etwas an, weil ich sage, daß es so ist«, fauche ich. Die Wut windet sich wieder in meinem Bauch, und mir wird langsam klar, wie sehr ich diese verdammte Ms. Lynne Telestrian hasse. Nicht nur dafür, wer und was sie ist, sondern insbesondere dafür, was sie darstellt. »Was, zum Teufel, werden Sie wegen Timothy und seinem verdammten Killervirus unternehmen, Lynne? Was?«

Zum erstenmal erscheint ein Lächeln - dünn und gemein - auf ihrem Gesicht. »Das ist nicht Ihre Sache, Mr. Larson.«

»Dann mache ich es eben zu meiner.« Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Argent mir anzeigt, daß fünfzig Sekunden um sind. Ich zeige ihm einen Vogel und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf das Tele-strian-Miststück.

»Ach? Und wie?« Ihre Stimme hat einen amüsierten Unterton, was meine Wut zusätzlich anstachelt.

»Die Datei, Sie verdammte Schnepfe! Die Datei, die ich Ihnen geschickt habe. Sie sagen mir, was Sie deswegen unternehmen wollen - und zwar sofort -, oder ich verteile in der Sekunde, in der Sie aufgelegt haben, dieses kleine Juwel an alle Nachrichtenmedien und warte in Ruhe ab, was dabei herauskommt. Vielleicht lenke ich Sie von Ihrem kleinen internen Machtkampf ab, wenn Sie sehen, wie Ihre Aktienkurse purzeln. Und wer weiß, vielleicht haben Sie ja noch mehr Spaß, wenn Sie dem Arm des Gesetzes ausweichen müssen. Ich bin sicher, die Stadtverwaltung wird begeistert sein, wenn sie erfährt, daß der Telestrian-Clan Ravenna als Biowaffenlabor benutzt. Vielleicht interessiert sich sogar die Bundesregierung dafür. Und was ist mit dem Salish-Shidhe-Council? Schließlich treiben die Winde von Ravenna direkt ins Stammesland. Und weiß die Regierung in Tir, was los ist? Biowaffen gegen das Gebiet einer anderen Nation einzusetzen, könnte als kriegerischer Akt betrachtet werden...«

Ich halte inne, um Luft zu holen, und sie ergreift die Gelegenheit, um sich einzumischen. »Na schön, Sie haben Ihren Standpunkt dargelegt...«

»Ich bin noch nicht fertig«, brülle ich. »Wenn Sie mir sagen, was Sie deswegen unternehmen, sind wir einst-weüen miteinander im reinen. Aber wenn sich herausstellen sollte, daß Sie Ihre Ankündigung nicht in die Tat umsetzen - weil Sie zum Beispiel den Schwanz einziehen -, können Sie Ihren hübschen kleinen Arsch darauf verwetten, daß NewsNet, ABS, NABS und die anderen Vereine ein kleines Päckchen erhalten, das ihre Neugier erregen dürfte... Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Sie antwortet nicht sofort, noch ändert sich ihr Gesichtsausdruck im geringsten. Aber ich kann ihre Wut und ihren Haß spüren wie Wellen, die von ihrem Bild auf dem Telekomschirm ausgehen. Danke gleichfalls. Schließlich fragt sie ruhig: »Liegt dieses starke Interesse nur im Tod dieses Bandenmitglieds, Paco, begründet?«

»Zum Teil«, fauche ich, »aber nur zum Teil.«

»Und der Rest darin, daß Timothys Handlungen irgendeinen Moralkodex verletzen, an dem Ihnen besonders viel liegt?«

»Timothys Handlungen und Lone Stars Handlungen, und das ist immer noch nicht alles, und das ist verdammt noch mal nicht Ihre Sache!«

Von Angesicht zu Angesicht hätte ihr mein Ausbruch die Haare nach hinten geweht. Auf dem Schirm besteht ihre einzige Reaktion in einem weiteren ironischen Lächeln. »Um Sie zu zitieren«, sagt sie gelassen, »vielleicht mache ich es zu meiner Sache.«

»Warum?«

Sie zuckt die Achseln. »Weil das eine Möglichkeit ist, den Grad Ihrer Wut richtig einzuschätzen. Den Grad Ihres Engagements.«

Argent signalisiert wieder - ich winke wieder ab. »Engagement wofür?«

»Dafür...« - sie hält nachdenklich inne - »...›daß der Gerechtigkeit genüge getan wird‹, drückt es vielleicht am besten aus.«

Ich bekomme langsam ein komisches Gefühl, was diese Unterhaltung anbelangt. »Wovon reden Sie überhaupt?« frage ich mißtrauisch.

Sie lächelt wieder, und jetzt vermischt sich die Wut in meinem Bauch mit Angst. »Ich dachte nur, wir könnten einander helfen«, sagt sie. »Wir wollen beide, daß etwas gegen Timothys Biowaffen unternommen wird. Das können Sie mir ruhig glauben. Und unsere Gründe unterscheiden sich auch nicht so sehr voneinander. Sie wollen eine Bestätigung dafür, daß etwas unternommen wird. Und Sie haben auch noch andere Bedürfnisse, aber wahrscheinlich haben Sie die noch gar nicht mit dieser Sache in Verbindung gebracht.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, Ihren Namen bei Lone Star reinzuwaschen«, sagt das Elfen-Miststück gelassen. »Übrigens hat der Exekutionsbefehl für Sie immer noch Bestand. Ich habe das nachgeprüft. Offiziell erteilt von einem gewissen« - sie blickt zur Seite - »Marcus Drummond, tatsächlich aber initiiert von Gerard Schräge von der AMV.« Sie wirft mir ein Henkerslächeln zu. »Offenbar existieren zwischen Mr. Schräge und gewissen anderen Execs innerhalb Lone Star Seattle enge Verbindungen. Verbindungen, von denen der Rest der Führungsspitze Lone Stars nichts weiß.«

Was du nicht sagst, Sherlock. Zum Beispiel Sarah Layton und Vince McMartin. Alles eine nette, glückliche verdammte Familie. »Dafür haben Sie Beweise, nehme ich an«, höhne ich.

»Selbstverständlich«, antwortet sie schlicht.

Ich warte einfach, daß sie die Hose ganz herunterläßt, und natürlich tut sie es auch.

»Ich kann Ihnen den Beweis zukommen lassen, Mr. Larson. Oder Sie können die Sache auch ganz uns überlassen, wenn wir zu einer Übereinkunft gelangen.«

Meine Haut kribbelt. »Was für eine Übereinkunft?«

Ihr Lächeln wird breiter. »Ja, das ist die Frage, nicht wahr? Wir haben beide Probleme, Mr. Larson, und jeder von uns hat eine Antwort auf zumindest einige der Probleme des anderen. Sie wollen zum Beispiel, daß etwas gegen die Biowaffen unternommen wird, und Sie wollen auch, daß Ihr Name reingewaschen wird ... vorzugsweise auf Kosten von Schräge, Drummond, Layton und McMartin. Habe ich recht?« Ich würdige sie keiner Antwort. »Andererseits brauche ich einen Anführer für den Schlag, den ich gegen die NVC-Anlage in Pillar Rock plane.«

Ich starre sie nur an, und dabei ist mir egal, daß ich aussehen muß wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ar-gents Augenbrauen sind ihm bis zum Haaransatz hochgerutscht, wohl die ungezügeltste Gefühlsregung, die ich je bei ihm erlebt habe. »Sie reagieren schnell, Lady«, sage ich mit aufrichtigem Respekt.

Sie akzeptiert das Kompliment mit einem leichten Neigen des Kopfes. »Die Angriffsplanung läuft«, fährt sie fort. »Meine Leute rekrutieren derzeit Truppen. Aber der Posten des Anführers ist noch frei, und ich möchte, daß Sie ihn übernehmen.«

Die Dreistigkeit dieser Frau ist unglaublich. »Auf keinen Fall«, sage ich mit einem grimmigen Lachen. »Finden Sie einen anderen nützlichen Idiot, Leäl.«

Ihre Miene verhärtet sich, und ich weiß, ich habe sie endlich gekränkt, aber ihre Stimme behält die glatte Selbstkontrolle. »Denken Sie darüber nach, Mr. Lar-son«, sagt sie gelassen. »Wir können beide profitieren, wenn Sie akzeptieren.«

»Ach ja? Und wie?«

»Was unsere Seite betrifft, so dürfte das ziemlich offensichtlich sein. Die Leute, die den Angriff ausführen, brauchen den Sinn des Unternehmens nicht zu kennen. Sie brauchen nur über ihre speziellen Aufgaben und über die Tatsache Bescheid zu wissen, daß sie nach Erledigung des Auftrags bezahlt werden. Sie brauchen auch das eigentliche Ziel des Angriffs nicht zu kennen - und aus offensichtlichen Gründen ist das auch genau das, was wir wollen.« Ich nicke. Ja, das ist offensichtlich - Lynne-Miststück will gewiß nicht an die große Glocke hängen, daß Timothy mit Biowaffen herumspielt.

»Mit dem Anführer des Angriffs verhält es sich natürlich anders«, fährt sie fort. »Er muß über den eigentlichen Sinn und Zweck des Unternehmens und den ganzen Hintergrund Bescheid wissen.«

»Also?«

»Also«, fährt sie glatt fort, »wäre es ideal, wenn der Anführer jemand wäre, der bereits in alles eingeweiht ist.« Sie lächelt kalt. »Wir wären sehr zufrieden, wenn wir die Anzahl der Leute, die eingeweiht sind, so klein wie möglich halten könnten.

Dann wäre da noch die Frage Ihres Wissens, Mr. Lar-son. Sie wissen eine Menge, mit dem Sie meinem Konzern schaden können. Ich würde die Gefahr, die von Ihnen ausgeht, sehr gerne - sagen wir - bannen.«

»Indem Sie mich in die vorderste Front stellen und mich geeken lassen? Nein, danke, Lady. Das Spielchen kenne ich schon.«

Sie schüttelt den Kopf. »Sie mißverstehen mich. Sie sind ein Profi, Mr. Larson. Das ist mir klar. Und ein Profi ergreift immer Vorsichtsmaßnahmen. Eine Informationszeitbombe, zum Beispiel. Diese Datei, mit der Sie mir drohen, könnte mit Sendeutility und Verteilerliste in einem sicheren System gespeichert sein. Wenn Sie dem System nicht jeden Tag ein Paßwort senden, schickt die Utility die Datei an all die Nachrichtenmedien, die Sie erwähnt haben. Wird das nicht immer so gemacht?«

Ich nicke. Ich habe nichts Derartiges arrangiert -noch nicht -, aber Sie können darauf wetten, daß ich es tun würde, wenn ich das Gefühl hätte, daß sich etwas zusammenbraut.

»Die beste Methode, diese Gefahr zu bannen«, fährt die Elfe fort, »besteht darin, alles so zu arrangieren, daß es nicht mehr in Ihrem Interesse liegen kann, die Informationen zu benutzen, solange Sie noch leben. Wenn wir Sie töten, werden die Informationen natürlich verbreitet. Aber wenn wir Sie auf eine höchst negative Weise mit den Ereignissen... in Verbindung bringen, können Sie die Informationen niemals zu erpresserischen Zwecken benutzen. Verstehen Sie?«

Ich glaube, langsam dämmert es mir tatsächlich, und es ist auf jeden Fall eine elegante Idee. Okay, ich habe also Beweise, daß eine Fraktion innerhalb des Tele-strian-Imperiums mit Biowaffen hantiert. Aber wenn Lynne-Miststück den Beweis hat, daß ich mich freiwillig auf etwas höchst Illegales - zum Beispiel einen paramilitärischen Angriff auf eine private Konzerneinrichtung - eingelassen habe, kann ich meinen Drek nicht verbreiten, ohne mich selbst anzuschwärzen. Als Lebensversicherung behalten meine Informationen ihren Wert - wenn ich tot bin, ist es mir egal, ob ich mich selbst einer kriminellen Handlung bezichtige oder nicht -, aber ich kann sie nicht mehr zu Erpressungszwecken benutzen. »Geschickter Schachzug, Lady«, sage ich zu ihr, und wiederum ist meine Bewunderung aufrichtig gemeint.

Sie akzeptiert sie als das, was ihr zusteht. »Manchmal besteht die beste Verhandlungsmethode darin, alle Karten offen auf den Tisch zu legen«, bemerkt sie. Dann hält sie inne und schaltet geistig in einen höheren Gang. »Das sind die Gründe, warum wir von Ihrer Teilnahme profitieren würden. Aber Sie fragen sich vielleicht, was für Sie dabei herausspringt.« Ich kann mir denken, worauf sie hinauswill, aber ich halte die Klappe und lasse sie erzählen. »Erstens, das Offensichtliche. Da Sie das Kommando haben, wissen Sie auch, daß der Job richtig ausgeführt wird. Sie werden wissen, daß eine angemessene Reaktion erfolgt ist. Zweitens, als Gegenleistung für Ihre Hilfe werden meine Partner« - womit zweifellos James Telestrian III gemeint ist - »und ich unseren Einfluß geltend machen, um Schrage, Drummond, Layton und McMartin als Gefahr für Sie zu eliminieren und den Exekutionsbefehl gegen Sie aufzuheben.«

Ja, ich habe mit meiner Vermutung richtig gelegen. Ich lasse ein leicht zynisches Lächeln aufblitzen. »War es das, Leäl?« frage ich höhnisch.

Ihre Augen funkeln, aber ihre Miene ändert sich nicht. »Ich hatte gehofft, sie ausschließlich mit der Be- Schreibung des Zuckerbrotes überzeugen zu können«, sagt sie kühl. »Die Peitsche herauszuholen, ist so unelegant. Aber wenn Sie darauf bestehen...« Und jetzt ist ihr Gesicht durch und durch raubtierhaft. »Wenn Sie sich weigern, auf meinen Vorschlag einzugehen, wird es mir ein Vergnügen sein, meinen eigenen Exekutionsbefehl gegen Sie zu erteilen, Mr. Larson. Glauben Sie mir, die Leute, die ich dafür auswähle, werden besser in ihrem Job sein als jeder andere, dem Sie bisher begegnet sind - als jeder, der Ihnen bisher nur in Ihren Alpträumen begegnet ist. Wenn Sie sehr gut sind, dann gelingt es Ihnen vielleicht, sich vor den Vollstreckern Lone Stars zu verstecken. Aber meinen werden Sie nicht entkommen. Darauf können Sie sich verlassen.«

Das tue ich. Wenn es überhaupt etwas an dem Vorschlag des Miststücks gibt, das ich glaube - und zwar von ganzem Herzen -, ist es die Ernsthaftigkeit dieser Drohung. Ich zwinge mich, den Knoten der Angst in meinen Eingeweiden zu ignorieren, und bemühe mich, eine ausdruckslose Miene zu bewahren. »Sie haben einen interessanten Verhandlungsstil«, sage ich so glatt wie möglich.

»Heißt das, Sie akzeptieren?«

Ich seufze. »Ja.« Ich bemühe mich eifrig, nicht in Ar-gents Richtung zu sehen.

Zumindest für ein paar Sekunden. Lynne Telestrians nächste Worte machen meine Bemühungen zunichte. »Ich nehme an, Argent ist bei Ihnen. Habe ich recht?«

Die Augenbrauen des Runners rucken wieder in die Höhe, und seine Metallhände klicken, als sie sich zu Fäusten ballen. Einen Augenblick lang glaube ich, daß er sie ignorieren wird. Doch dann erhebt er sich langsam und tritt in den Erfassungsbereich der Kamera des Telekoms. »Ich bin hier«, sagt er mit einer Stimme wie geöltes Metall.

»Meine... Einladung... gilt auch für Sie«, sagt sie mit einem schwachen Lächeln. »Ihre Fähigkeiten wären bei diesem Angriff von großem Wert.«

Argent lächelt. »Ich denke, mein Gefährte hat es ziemlich prägnant ausgedrückt. Auf keinen Fall. Finden Sie einen anderen nützlichen Idioten, Leäl.«

Sie sieht ein wenig überrascht aus. »Sie wollen sich ein Geschäftsangebot nicht einmal anhören?«

Der Runner reagiert eine oder zwei Sekunden lang nicht, dann zuckt er die Achseln. »Ich höre es mir an.«

Ich knirsche mit den Zähnen. Natürlich hört er es sich an. Er ist ja schließlich ein verdammter Shadow-runner, oder? Und jetzt spricht die Elfe seine Sprache -Kohle und Geschäft. Man braucht ihm nur genügend Nuyen-Zeichen zu zeigen, dann springt Mr. Drek Argent und tut alles, was man ihm sagt. Das bedeutet es schließlich, Shadowrunner zu sein.

»Ich bin bereit, Ihnen die Summe von dreißigtausend Nuyen in Inhaberaktienzertifikaten anzubieten«, sagt die Elfe schneidend, um dann schwach zu lächeln. »Natürlich von Telestrian Industries Corporation. Um Ihnen einen zusätzlichen Anreiz zu geben, gewisse Dinge für sich zu behalten. Wüstenkriegsveteran und Shadowrunner hin oder her, ich denke, Sie werden mir zustimmen, daß das eine faire Bezahlung für die Arbeit eines Tages ist.«

Ich werfe Argent einen raschen Blick zu, sage aber nichts. Wüstenkriegsveteran? Kein Wunder, daß er so ein zäher Schweinehund ist.

Das Lächeln des Runners wird breiter. »Dreißigtausend? Auf keinen Fall, Lady.« Er hält inne, und sein Lächeln verblaßt. »Und bemühen Sie sich erst gar nicht, mir ein zweites Angebot zu machen.«

Lynne-Miststück runzelt die Stirn. »Sie sagten, Sie wollten sich mein Angebot anhören.«

»Nur damit ich Ihnen ins Gesicht lachen kann, Sie Abschaum«, sagt er leichthin. Die Miene der Elfe verfinstert sich, und sie holt tief Luft, um etwas zu sagen, das garantiert sehr giftig sein wird. Doch Argent kommt ihr zuvor. »Nennen Sie mir einen Grund, Chummer. Nennen Sie mir einen verdammten Grund, warum ich mitkommen sollte.«

Das bringt sie aus der Fassung. Ich kann es an ihren Augen erkennen. Sie antwortet zunächst nicht, und ich kann beinahe hören, wie sich ihre Gedanken überschlagen. Dann nickt sie zögernd. »Ich glaube, ich verstehe«, sinniert sie. »Wie wäre es dann mit folgendem: Wissen Sie, warum gegenwärtig magisch zu aktivierende Viren kommerziell weder genutzt noch überhaupt entwickelt werden?« fragt sie mit trügerisch ruhiger Stimme. »Auf den ersten Blick scheint es sich dabei doch um eine unglaublich vielfältige und nützliche Technologie zu handeln. Für Tumorbehandlungen vielleicht. Oder um andere Krankheiten in den Griff zu bekommen. Das Virus wird in den Körper eingeschleust, aber erst im geeigneten Augenblick aktiviert - vielleicht wenn sich ein Symptom manifestiert oder sich das Virus im befallenen Gewebe konzentriert hat.« Sie zuckt die Achseln. »Das sind nur ein paar Möglichkeiten, nämlich diejenigen, die mir in der letzten Stunde eingefallen sind. Ich bin sicher, jeder Virusgenetiker oder Mediziner könnte noch tausend andere aufzählen. Warum findet diese Technologie also keine weitverbreitete Anwendung? Wegen der damit verbundenen Risiken. Alle Versuche, Mana-sensitive Einschübe in genetisches Material einzuschleusen, haben zu einer drastischen Schwächung der DNS- oder RNS-Kette geführt. Wenn diese Einschübe bereits vorhanden sind - wie das in Erwachten Spezies der Fall ist -, findet offenbar keine Schwächung statt... oder nur eine ganz geringfügige. Doch bei allen Versuchen, die Einschübe... äh, nachträglich hinzuzufügen, sind die Ergebnisse völlig unvorhersehbar.«

»Schwächung.« Das Wort rutscht mir heraus, bevor ich weiß, daß ich etwas sage. »Was für eine Art Schwächung?«

»Sie manifestiert sich in Gestalt einer stark erhöhten Empfänglichkeit für Mikro- und Makro-Mutation«, sagt sie kategorisch. »Der genetische Code wird extrem instabil und kann sich von Generation zu Generation drastisch ändern.«

»Antigenische Verwandlung«, murmle ich, da mir Doc Dicers Beschreibung des Virus wieder einfällt, der Paco umgebracht hat.

Ich glaubte nicht, so laut gesprochen zu haben, daß mich jemand verstehen konnte, aber Telestrian greift meine Bemerkung sofort auf. »Ja, antigenische Verwandlung ist eine Konsequenz, aber es sind auch drastischere Veränderungen möglich. Der Grund, warum magisch zu aktivierende Viren nicht benutzt werden, liegt ganz einfach darin, daß niemand weiß, in was sie sich verwandeln.« Ihre Stimme ist kalt - oder vielleicht ist das auch nur meine Reaktion auf das, was sie sagt. »Das Antitumorvirus, das geschaffen wurde, um ausschließlich Krebszellen anzugreifen, verändert sich und greift plötzlich nur diejenigen Zellen an, die nicht befallen sind.

Denken Sie an die potentiellen Konsequenzen«, fährt sie fort. »Wie Sie in Ihrem Bericht angemerkt haben, Mr. Larson, ist das Virus, mit dem die Cutters infiziert wurden, eng mit dem Retrovirus VITAS 3 verwandt. Er ist nicht VITAS 4 - noch nicht. Ich bin kein Virusgenetiker, aber ich habe den Eindruck, als wäre der Unterschied zwischen ansteckend und nichtansteckend -zwischen gezielter Biowaffe und tödlichem Pandämo-nium - kein besonders großer.

Der Angriff wird stattfinden, mit oder ohne Sie, Ar-gent. Aber ich würde sagen, daß die Erfolgsaussichten dafür, das Labor in die Luft zu jagen und sämtliche Vorräte des Virus zu vernichten, mit Ihnen wesentlich größer sind.

Und das«, kommt sie zum Schluß, »scheint mir ein Grund zu sein, der gut genug ist.«

Schweigen. Niemand rührt sich, niemand redet. Das Schweigen dauert immer länger - wahrscheinlich sind es nur Sekunden, aber mir kommt es vor wie eine halbe Stunde. Schließlich nickt Argent einmal. »Ich bin dabei«, sagt er kurz und bündig, beinahe schroff.

»Schön«, gurrt Lynne Telestrian. »Die Einzelheiten folgen.«