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Ranger, der Kriegsboss der Cutters, ist nicht zufrieden, aber das ist er selten. Er behauptet von sich, ein Cutter in der dritten Generation zu sein, was ihn zu einer echten Rarität macht, einem Gangmitglied nämlich, dessen Vater und Großvater beide lange genug lebten, um Kinder zu haben. Vielleicht lügt er ja auch, wenn er den Mund aufmacht, und hat nur das richtige Geld auf die richtige Seite der Gleichung gezogen. Er sitzt in seinem ›Büro‹, einem spärlich möblierten Zimmer im Obergeschoß des Unterschlupfs der Cutter in Ravenna auf der Sechsunddreißigsten Avenue Nordost, einen Block vom Golgathafriedhof entfernt. Er hat seine Doc Marten-Treter auf den Tisch gelegt und erfreut Paco und mich mit dem Bösen Blick, den er uns unter seinen buschigen, zusammengewachsenen Augenbrauen zuwirft.
»Drei Kisten«, mault er. »Drei verdammte Kisten von einem Dutzend, mehr bringt ihr nicht mit. Und ihr habt acht Soldaten verloren, und das Lagerhaus ist aufgeflogen. Gute Arbeit für eine Nacht, Larson.«
»Sie können nichts von dem Drek im Lagerhaus zu uns zurückverfolgen«, stelle ich mit einiger Berechtigung fest. Die Cutters haben wie alle Gangs der ersten Garnitur schon vor langer Zeit die Wunder von Fassaden, Strohmännern und Dachgesellschaften kennen-und schätzengelernt.
»Scheiß auf das Zurückverfolgen«, faucht er. Er haut mit der Faust auf den Tisch, und das halbe Kilo Armbänder und Armreifen scheppert wie ein Haufen Altmetall. »Der Star wird mißtrauisch sein und den Laden überwachen, richtig?« Ich nicke. Er hat recht, genau das wird der Star tun. »Also hast du Drekhead unser Lagerhaus hochgehen lassen«, endet er.
Manchmal scheint die Tech in meinem Kopf zu wissen, daß ich durchdrehe, bevor ich es tatsächlich tue. Dies ist eine dieser Situationen. Ich spüre die Verdrahtung, spüre, wie das Interface nach den Schaltkreisen meiner H&K tastet (die natürlich ganz woanders ist). Und mir wird klar, daß die Drähte Ranger liebend gern umlegen würden, und das gilt auch für mich.
Aber ich schlucke die jähe Wut herunter. Aus dem Augenwinkel sehe ich Paco nervös von einem Fuß auf den anderen treten. Er ist nicht durchgedreht, er ist verlegen oder verängstigt, und das scheint meiner Wut neue Nahrung zu verleihen.
Irgendwie gelingt es mir jedoch, sie unter Kontrolle zu halten. »Was sollten wir denn machen?« frage ich so cool wie möglich. »Wir sind nicht beschattet worden. Wir haben die Beobachter aufgestellt, und Katrina hat sich in das Überwachungssystem eingestöpselt. Nichts deutete auf Ärger hin.« Ich zucke die Achseln. »Und dann haben wir's plötzlich mit zwei von Lone Stars Taktischen Einsatzkommandos zu tun. Wir acht gegen ... wie viele?... zwanzig von denen?« Laut Lone Stars Einsatzplänen sogar vierundzwanzig, aber es wäre nicht sehr klug, mit meinem Wissen zu protzen. »Sie haben Körperpanzer und schwere Waffen, und wir haben verdammte Erbsenpistolen.« Meine Wut steigt wieder, also schlucke ich sie noch mal herunter. »Wie ich es sehe, hatten wir verdammtes Glück, daß wir überhaupt da rausgekommen sind, und dann sogar noch mit drei Kisten und dem Bulldog.«
Ranger sieht weg. Er weiß, ich habe recht, aber er muß jemandem die Schuld geben. Wenn meine Truppe und ich es nicht verpfuscht haben, dann wird es so aussehen, als sei es sein Fehler gewesen, weil er nicht genug Leute geschickt oder keine ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat. Er weiß, ich werde nicht klein beigeben und mich zum Sündenbock machen lassen, und dafür haßt er mich. Tja, ein Jammer und echt zum heulen. »Kannst du mir vielleicht auch sagen, wie, zum Teufel, wir jetzt die Waffenbestellung erledigen sollen?« nörgelt er.
»Wir erledigen sie eben nicht«, antworte ich schlicht. »Sag den...« - fast sage ich ›Sioux‹, was mich in beträchtliche Schwierigkeiten bringen würde - »...Klienten, schade, tut uns echt leid. Oder sag ihnen einfach, sie sollen erst mal abwarten, während wir uns um 'ne andere Connection kümmern.« Ich zucke wieder die Achseln. »Und außerdem braucht das doch sowieso nicht unsere Sorge zu sein, oder?« frage ich. »Sollen sich doch die Jungs in der Geschäftsentwicklung mit dem Verlust rumschlagen. Schließlich ist es deren Unternehmen.«
Rangers Miene verfinstert sich wieder, und mir wird klar, daß der Sioux-Deal tatsächlich sein Unternehmen ist und ihn dieser Fehlschlag einiges kosten dürfte -Geld oder Reputation oder vielleicht sogar beides. Was sehr interessant ist. Die Cutters sind diversifiziert. Es gibt eine... nun, nennen wir es ›Unterabteilung‹ - da einige Mitglieder ohnehin ihren Spaß daran haben, so zu tun, als sei die Gang ein Konzern -, die geschäftliche Deals wie den mit den tschechischen Gewehren regelt. Der Kriegsboss und seine Soldaten sorgen für die Sicherheit, aber was tatsächlich stattfindet, ist so eine Art gegenseitiges Ausleihen von Ressourcen. Normalerweise würde Ranger der Verlust der Gewehre und des Lagerhauses einen feuchten Drek interessieren; und den Verlust von Fraser, En und den übrigen würde er als normalen Verschleiß innerhalb der Personalabteilung abschreiben.
Warum interessiert es ihn also mehr als einen feuchten Drek? Sollten die Hitzköpfe bei den Sioux die Sturmgewehre noch für etwas anderes benutzen außer für ein wenig fröhlichen Antiregierungsterror? Für etwas, das für Ranger in seiner Eigenschaft als Kriegsboss der Cutters wichtig ist? Ich könnte raten, aber raten ist nicht mein Job; wissen schon eher. Wissen -und dieses Wissen an die richtigen Leute weitergeben.
Ranger blickt immer noch finster und steht verdammt kurz davor, vor Wut mit den Zähnen zu knirschen, und meine Drähte wollen ihn immer noch umlegen. Also sage ich zu ihm: »Hör mal, Chummer, wenn du dich dadurch besser fühlst, daß ich sage, tut mir leid, tja, was soll's, tut mir leid. Mea maxima culpa und der ganze Drek. Aber vergiß nicht, ich hab drei Gewehrkisten, den Bulldog und zwei unverletzte Soldaten« - ich zeige auf Paco und mich - »aus einer unhaltbaren Stellung gerettet. Wenn du glaubst, irgend jemand anders hätte sich gegen zwei Taktische Einsatzkommandos besser geschlagen, dann sag es mir.«
Wiederum sage ich die Wahrheit, und wiederum will Ranger sie schlicht und ergreifend nicht hören. Aber er kann mich nicht festnageln, und das macht ihn noch wütender. Klar, ich könnte katzbuckeln und ihm die Füße küssen, aber was hätte ich davon? Ranger haßt mich sowieso - das weiß ich schon lange -, also würde mir die Arschkriecherei bei ihm überhaupt nichts einbringen, aber sie würde mich Pacos Respekt kosten. So habe ich Ranger eine Haaresbreite weiter in die Richtung gedrängt, das Problem Rick Larson endgültig zu erledigen, und gleichzeitig erreicht, daß Paco seinen Chummern erzählen wird, wie sich Rick Larson vor dem Kriegsboss behauptet und ihn dazu gebracht hat, es zu schlucken. Und damit erkaufe ich mir eine Menge Gesicht bei den Soldaten. Scheint mir ein guter Deal zu sein.
»Sonst noch was?« frage ich mit einer Stimme, deren Tonfall irgendwo in der Grauzone zwischen Selbstvertrauen und Unverschämtheit schwebt.
»Geht mir aus den Augen«, bellt Ranger, und ich nehme an, es ist nichts mehr.
Draußen auf dem Flur habe ich das Gefühl, daß Paco etwas sagen will. Ich bleibe stehen und drehe mich zu ihm um. Er ist noch ein junger Bursche. Dünn, knapp zwei Meter groß, kohlschwarze Haare. Wenn er seine harte Miene aufsetzt, könnte er Mitte Zwanzig sein, aber ich weiß zufällig, daß er erst siebzehn ist. Trotzdem ist er ein zäher Hund. Nach allem, was ich gehört habe, ist er in den Slums von Ost-Los Angeles aufgewachsen, hat sich dort früh den Latino-Gangs angeschlossen und sich mit elf Jahren seine drei Punkte verdient, die auf den Sattel zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand eintätowiert sind. Ein Jahr später wechselte er dann zu den Cutters Süd Zentral. Vor zwei Jahren ist er darin hierher nach Seattle gekommen. Niemand weiß, warum, und Paco will nicht darüber reden, aber Paco hat sich seitdem bei den Cutters etabliert. Er ist jetzt seit fünf Jahren bei ihnen und somit ein Veteran. Noch weitere zehn Jahre, und er ist Kriegsboss ... wenn er so lange lebt.
Doch hier und jetzt will er erst mal etwas sagen. »Ja?« frage ich.
Er will mir nicht in die Augen sehen. »Ich wollte mich nur bedanken, 'mano«, murmelt er. »Weil du gewartet hast.«
Ich winke ab. »Geschenkt«, sage ich. Seine Dankbarkeit macht mich verlegen - er mag ein Dutzend Leute umgelegt haben, wie sein Ruf von ihm behauptet, aber in vielerlei Hinsicht ist er noch ein Kind. Wir gehen schweigend die paar Schritte zur Treppe nach unten. Dann sage ich im Konversationston: »Ranger stellt sich ja ziemlich an wegen dieser Gewehre. Als stünde dabei einiges für ihn auf dem Spiel.«
Paco springt sofort darauf an. Er grinst wie ein Schakal. »Wär' ganz nett zu wissen, warum, was, 'mano?« sagt er leise. »Ist immer gut, wenn man 'n As im Ärmel hat.«
Ich zucke die Achseln, aber innerlich lächle ich. Heller Bursche. Hat sofort geblickt, worum es geht. Er glaubt, ich legte es darauf an, Ranger auszutricksen, und suche nach einem Hebel. Soll er. Außerdem glaubt er, in meiner Schuld zu stehen, und überlegt sich vielleicht, daß er sich bei mir revanchieren kann, indem er herausfindet, was bei dem Sioux-Deal für Ranger rumgekommen wäre. Also ein Deal, bei dem beide Seiten gewinnen: Er befreit sich von einer Schuld mir gegenüber, und ich erfahre, was ich wissen will, ohne persönlich den Hals dafür zu riskieren. Ich wünschte, so liefe es immer.
Ich sehe auf die Uhr und bin nicht überrascht, wie spät es bereits ist. Kurz nach 0400. Ich bin total erledigt und habe einen Geschmack im Mund, als sei etwas darin gestorben. Wonach ich mich im Moment am meisten sehne, ist ein Bett - sogar ein leeres -, aber vorher bleibt noch etwas zu erledigen, muß noch eine unausgesprochene Abmachung mit Paco besiegelt werden. Ich klopfe ihm auf die Schulter. »Zeit für 'n Bier.«
»Kannst du laut sagen«, grinst er.