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Das Treffen soll in der Kaffeebohne stattfinden, einem der piekfeinen Kissaten - Kaffeehäuser im japanischen Stil -, die in letzter Zeit in Seattles Innenstadt aus dem Boden sprießen. Mitten im Konzernsektor, schräg gegenüber dem Yamatetsu-HQ, Ecke Fünfte und Pike gelegen, ist die Kaffeebohne wahrscheinlich das einträglichste und renommierteste. Die Einrichtung hat genau den richtigen Grad von Schrägheit, eine Art Retrospektive der Zukunftsbetrachtung - wie jemand im Jahre 1954 vorausgesagt hat, daß 2054 aussieht, oder irgend so ein Drek. Haufenweise Spiegel, haufenweise HiTech, die sich als auf HiTech getrimmte LowTech maskiert, wenn Sie wissen, was ich meine. Die Hintergrundmusik, wenn man sie so nennen kann, besteht aus wahllos erzeugten synthetischen Tönen, die angeblich von einer Art Algorithmus überwacht werden, welcher nur Kombinationen auswählt, die angenehm für das (meta)menschliche Ohr sind. Ganz bestimmt. Wenigstens ist der Kaffee gut - echter Kaffee, kein Soy-kaf -, aber andererseits sollte er das für fünfzehn und mehr Nuyen die Tasse auch sein. Zudem kostet Nachschenken extra.
Die Treffen finden immer an einem anderen Ort statt, und ich weiß nie, wer mein Kontakt sein wird. Es gibt keinen festen Rhythmus für die Treffen, weil ein fester Rhythmus berechenbar wäre. Manchmal vergehen zwei, drei Wochen, ohne daß ich mit jemandem Rücksprache halte. Wahrscheinlich nennen sie es deshalb nicht nur Undercover, sondern Deepcover. Der Star benutzt ein Dutzend verschiedene Kanäle, um mir Nachrichten zukommen zu lassen - und umgekehrt -, aber die besten sind zugleich die simpelsten. Bei den Cutters gelte ich als Techno-Freak. Andere Soldaten verbringen ihre Zeit damit, sich das Hirn rösten, sich flachlegen oder sich in Kämpfe verwickeln zu lassen. Ich auch -die Erfordernisse meiner Tarnung, nicht weil es mir Spaß machen würde, ha! -, aber ich lasse keinen Tag verstreichen, ohne mich zumindest ein paar Minuten in die UCAS Online einzuschalten, dem riesigen öffentlichen BTX-System in der Matrix. (Ich bin ein Nullhead -keine Datenbuchse, nur meine Chipbuchsen -, also benutze ich einen billigen Palmtop.) UOL wartet mit einer ganzen Wagenladung cooler Eigenschaften auf, aber der entscheidende Punkt ist das riesige schwarze Brett. Ein Haufen Leute auf dem Kontinent - manchmal sogar in Europa - schalten sich ein, um sich mit speziellen Interessengruppen oder Privatpersonen über alles und jeden zu unterhalten. Bei so einem hohen Aufkommen von Nachrichtenverkehr ist es leicht, eine codierte Botschaft in den Datenstrom einzuschleusen. Nichts Kompliziertes - das ist gar nicht nötig - und nichts, was auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einem Code hat. Man muß wirklich wissen, wonach man sucht, wenn einem die Botschaften auffallen sollen, die wir austauschen. (Drek, manchmal übersehe selbst ich sie. Auf die Art habe ich nicht wenige Treffen platzen lassen, aber manchmal ist das der Preis, den man zahlen muß.) Die Botschaft, die mir mitgeteilt hat, daß ich mich heute in der Kaffeebohne sehen lassen soll, las sich wie eine typische neo-anarchistische Phrasendrescherei gegen die Monopolisierung der Nachrichtenmedien - schlechte Argumente, schlechte Rechtschreibung und total überholt.
So kommt es also, daß ich kurz vor der Zeit, wenn die Juniorpinkel aus den Wolkenkratzern strömen, um beim Mittagessen ihre Spesenkonten zu plündern, in den Laden schlendere. Ich gehöre nicht in die Kaffeebohne. Jeder Kopf, der sich zu mir umdreht, jedes Lippenpaar, das sich zu einem spöttischen Grinsen verzieht, jede Stimme, die vorübergehend innehält, verrät mir das. Ich stamme offenbar aus irgendwelchen Slums, und das macht mich gefährlich und verdächtig. Ich trage weder Zoé noch Mortimer of London, Gucci oder Bally, weder Satin noch Kunstseide. Mein Outfit tendiert mehr zu Skulz, Doc Marten, Kunstleder und Kevlar. Selbstverständlich sagt mir das niemand ins Gesicht. Beim gegenwärtigen politischen Klima gelten Kleidervorschriften als ›elitär‹ (außer natürlich auf dem Firmengelände eines Megakonzerns, wo alles geht und man sich ebensogut gegen das Gesetz der Schwerkraft verwahren könnte.) Solange ich keine Waffen, illegale Rüstung oder unerwünschte Cyberware trage - zumindest nichts, was der Techdrek in der Tür aufspüren kann -, kann mir niemand sagen, ich gehörte nicht hierher. Das kann natürlich die Penner in dem Laden nicht davon abhalten, mir genau das zu vermitteln, ohne es mir offen ins Gesicht zu sagen. Andere Gangmitglieder in der Gegend könnten sich fragen, warum ich mir das überhaupt antue, aber ich habe mir sorgfältig den Ruf aufgebaut, oft in Pinkelläden rumzuhängen, und zwar nur um des Spaßes willen, die Leute vor den Kopf zu stoßen.
Ich spaziere hinein, spiele mit dem Knaben hinter der großen Espresso-Maschine das alte Spiel Wer starrt Wen nieder, und schlendere in den rückwärtigen Teil des Ladens. Ich sehe meinen Kontakt sofort. Sie sitzt an der Bar, und zwar auf einem dieser Neo-Retro-Barstühle, die von einem frustrierten Proktologen entworfen worden sein müssen. Sie war ein Chummer von mir (und für ein Wochenende im Mayflower Plaza Hotel, an das ich mich immer gern erinnere, vielen Dank, auch mehr als das), als wir beide noch in Milwaukee wohnten und gemeinsam auf die dortige Lone Star-Akademie gingen, und dann später wieder, als ich mich mit der Straße vertraut machte und lernte, dort zurechtzukommen. Nachdem wir in den Westen versetzt wurden, machte sie sich einen Namen im Datenmanagement der Abteilung Organisiertes Verbrechen bei Lone Star. Sie heißt Catherine Ashburton, läßt sich gerne Cat nennen und ist umwerfend, war es immer und wird es immer sein. Zierlich ist, glaube ich, die treffende Bezeichnung: Sie ist kaum größer als einen Meter fünfzig, wiegt knapp fünfzig Kilo, und der Großteil davon entfällt auf ihre Möpse. Glattes, kurzes kupferrotes Haar, die Farbe, bei der man meint, in Smaragdgrün müsse sie heiß aussehen. Doch statt dessen trägt sie immer Preiselbeerrot und gewisse Pinktöne und sieht aus, als sei sie gerade der Titelsequenz eines Mode-Trids entsprungen. Ihre Augen haben heute einen tiefvioletten Farbton.
Cat ist genauso gekleidet wie eine aus den Scharen grellbunter Sekretärinnen, die in der Mittagszeit und nach der Arbeit um die Wolkenkratzer herumflitzen und versuchen, die Barracuda-Manager abzuwehren/anzuziehen. Eine Jungfrau aus dem Eise, unnahbar, es sei denn, man hat einen Monatsverdienst von acht K aufwärts. Dann scheinen sie plötzlich nur noch aus Gekicher und Lächeln und unausgesprochenen Einladungen zu bestehen. Andererseits besteht meine einzige Möglichkeit, acht K im Monat zu verdienen, darin, meine Familie in die Sklaverei zu verkaufen und dann den Haupttreffer in der Lotterie zu landen. Sie sieht mich auf sich zu schlendern und erstarrt.
Also schwinge ich mich natürlich auf den Barstuhl direkt neben ihr und mustere sie vom kupferfarbenen Kopf bis zu den Stilettoabsätzen an ihren Füßen. »Einen doppelten Espresso«, schnauze ich den Mann hinter der Bar an, ohne den Blick von der appetitlichen Braut neben mir abzuwenden. Cat spielt ihre Rolle perfekt. Alles an ihr zeigt ihren innerlichen Aufruhr - sie fürchtet sich vor dem Straßenmonster neben sich, hat jedoch mindestens ebensoviel Angst, daß mich eine falsche Bewegung oder Reaktion provozieren könnte. Einen Moment lang begegnen sich unsere Blicke, und ich sehe ein Aufblitzen kühler Belustigung. Es macht ihr Spaß, aus dem Büro heraus und aufs Schlachtfeld zu kommen. Und wer weiß? Vielleicht hat sie ja ganz tief drinnen auch nichts dagegen einzuwenden, mich wiederzusehen.
Mein Espresso kommt. Der Barista hinter der Maschine arbeitet mit Höchstgeschwindigkeit und führt meine Bestellung schnell aus, damit ich möglichst schnell wieder gehe. Ich stürze die kleine Tasse bitteren Kaffees hinunter und schiebe sie dem Barmann zu. »Noch einen«, sage ich zu ihm.
Ich betrachte Cat noch einmal von oben bis unten, wobei ich ein raubtierhaftes Straßengrinsen aufsetze, während ich mich auf den Austausch vorbereite. Diese Treffen haben zwei Funktionen. Zum einen liefere ich meinen Bericht darüber ab, was seit dem letzten Meeting bei den Cutters abgelaufen ist, und zum anderen nehme ich neue Anweisungen von meinen Vorgesetzten entgegen. Anweisungen? Tatsächlich beschränken sie sich in der Regel auf etwas wie: »Halten Sie sich bedeckt und berichten sie weiter.« Vielleicht ist es in diesem Zeitalter der Spitzentechnologie und der hohen Erwartungen ein wenig überraschend, daß diese Dinge über ein persönliches Treffen abgewickelt werden, aber es ist einleuchtend, wenn man darüber nachdenkt.
Zunächst einmal bin ich, wie ich schon sagte, ein Nullhead, ein Nichtdecker. (Wenn ich Tech, Ausbildung und Neigung besäße zu decken, wäre alles anders.) Damit sind meine Handlungsmöglichkeiten in der Matrix beschränkt. Nur weil mich ein paar Soldaten der Cutters für einen Techno-Freak halten, heißt das noch lange nicht, daß ich tatsächlich einer bin. Es ist nur so, daß ich im Vergleich zu ihrem Computer-Analphabe-tentum geradezu brillant wirke. Tatsächlich ist jedoch das Einschalten in die UOL und das Einschleusen umstrittener Botschaften so ungefähr das einzige, was ich in dieser Beziehung kann. Die Cutters haben selbstverständlich ihre eigenen Decker - ein paar arbeiten für Musen, den Buchhalter, ein oder zwei in Fahds Geschäftsentwicklungsimperium und weitere ein oder zwei direkt für Blake. Ich kann es nicht beweisen, aber ich habe den starken Verdacht, daß ein paar von ihnen manchmal überwachen, was ich tue, wenn ich mich in die UOL einschalte. Was nicht überraschend wäre. Blake wäre ein Dummkopf, wenn er einen Kommunikationskanal wie diesen nicht überwachen ließe.
Also wäre es nicht besonders klug, den Austausch von Berichten und Befehlen über das Netz abzuwickeln. Tatsächliche Treffen klingen gefährlich - und manchmal sind sie das auch -, aber nicht, wenn man es richtig anstellt. Erste Regel: Mit wem ich mich auch treffe - heute ist es Cat -, ich rede mit ihnen nicht über das, was läuft. Sie sind nicht meine Leitung, sondern nur mein Briefträger.
Auf dem Weg zur Kaffeebohne habe ich meinen Bericht im Kopf auf einen Chip ›diktiert‹, der in einer meiner Buchsen steckt. Bevor ich in das Kissaten ging, habe ich den Chip herausgenommen und in einem kleinen zylindrischen Behälter verstaut, der nicht größer als ein Zahnstocher ist. Meine Befehle befinden sich auf einem ähnlichen Chip, der irgendwo an Cat versteckt ist. Wir brauchen sie nur auszutauschen.
Ist das nicht gefährlich? Tja, nun, sicher, aber ein gewisses Risiko muß man schon eingehen. Außerdem habe ich ein paar Schutzmaßnahmen getroffen. Zunächst einmal sind die Chips mit meinem Bericht und auch der mit den Befehlen für mich als ›Schüsse‹ getarnt, jene illegalen SimSinn-Entsprechungen, die man wie Datensoft einwerfen kann, einem aber ein halbstündiges Hoch vermitteln, bevor sie sich löschen. Jemand müßte schon ganz genau wissen, wonach er sucht, um zu erkennen, daß meine Chips etwas anderes als SimSinn-Dateien enthalten. Dann müßte dieser Jemand die Sicherheitscodierung knacken und einen sahnemäßigen kleinen Virus umgehen, der bei der geringsten Provokation alle Daten löscht. Wenn ich meine Befehle entgegennehme, werfe ich den Chip ein und kopiere die Daten direkt in meine Headware, wobei der Chip gleichzeitig gelöscht wird. Nein, nicht nur gelöscht: mit Einsen überschrieben, dann mit Nullen und dann noch einmal mit Einsen. Die Leuchten in der Forschungsabteilung des Star haben mir versichert, daß es danach völlig unmöglich ist, aus dem Chip auch nur eine Spur von Daten herauszuholen. (Ich nehme an, jemand könnte die Daten unter Benutzung von SQUIDs direkt aus meinem Headware-Speicher holen, aber das ist ein echter HiTech-Vorgang, und wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß ich ruhig danebensitzen und zusehen würde? Null.)
Das ist also meine Tarnung, und es ist eine verdammt gute. Schön, ich bin derjenige, der sie sich ausgedacht hat, aber es ist trotzdem die objektive Meinung eines der besten Undercover-Agenten, den der Star hat. Wenn mich die Cutters je bei einem dieser Treffen erwischen sollten, besteht meine Tarnung darin, daß ich dem Affen auf meinem Rücken Zucker gebe - eine geheime Schuß-Sucht. Und warum kaufe ich meine Chips nicht über das Cutters-eigene Verteilernetz? Weil ich die Bosse nicht wissen lassen will, daß ich eine Schwäche habe, Chummer. Das verstehst du doch, oder? Es ist eine gute Erklärung, die auf einem der großen Prinzipien der (meta)menschlichen Psychologie beruht. Versuch die Leute nicht davon zu überzeugen, daß du unschuldig bist. Es ist viel leichter, sie glauben zu machen, daß du eines geringfügigeren Vergehens schuldig bist. (Außerdem gibt es den Soldaten, die mich erwischen, noch einen zusätzlichen Anreiz, mich in Ruhe zu lassen. Sie wissen etwas, das ich nicht an die große Glocke hängen will, und es ist einfach (meta)menschlich, sich darüber zu freuen, etwas gegen einen anderen in der Hand zu haben.)