Argents Blick ist starr nach vorn gerichtet, und er hat die cybermodifizierten Augen vor Wind und Gischt geschlossen. Doch er scheint meinen Blick auf sich ruhen zu spüren. Die Augen öffnen sich, und er dreht den Kopf zur Seite. Er hat eine Panther Sturmkanone, die er senkrecht zwischen den Knien hält, und seine mattschwarzen Hände sind leicht um die Kühlschlitze in dem mächtigen Lauf geschlossen. Seine Miene ist völlig gelassen, fast losgelöst, als sei er auf einer Tageskreuzfahrt zu einem verdammten Picknick anstatt unterwegs zu einem blutigen Feuergefecht. Aber natürlich hat er diesen Drek schon öfter mitgemacht. Er ist ein Soldat -ein Konzernsoldat, denn die Wüstenkriege waren Konzernkriege, aber nichtsdestoweniger ein Soldat -, also ist das nichts Neues für ihn, eine Rückkehr zu seinen verdammten Wurzeln. Plötzlich fühle ich mich sehr allein. Ich bin kein Söldner, ich bin kein Soldat, und kein neuer Chip in meiner Talentbuchse wird daran etwas ändern.

»Wie bist du zur Undercover-Arbeit gekommen, Wolf?«

Argents leise gestellte Frage überrascht mich völlig. Ich mustere ihn mit stahlhartem Blick, aber seine Augen sind klar, und sein Gesichtsausdruck ist milde.

Ich bin so überrascht, daß ich ihm antworte - indem ich ihm die Standardantwort auftische, die ich nach Hunderten von Wiederholungen im Schlaf herunterleiern kann. »Damals schien mir das die beste Möglichkeit zu sein, etwas zu bewegen«, sage ich zu ihm.

Die Lippen des Runners verziehen sich, und er lächelt mich an. Nicht spöttisch, aber eindeutig mit einem Anflug von Ironie.

»Warum nicht?« schnappe ich.

Er antwortet mir nicht, sondern lächelt nur weiter.

Ich könnte ihn einfach ignorieren. Seine Meinung ist mir egal, rede ich mir standhaft ein. Sobald dieser Drek geregelt ist, sehe ich ihn erst wieder, wenn ich ihn zufällig verhaften sollte. Die Antwort, die ich ihm gegeben habe, hat bisher jeden zufriedengestellt - Kollegen, Bekannte, sogar meine Vorgesetzten beim Star. Für wen, zum Teufel, hält er sich, daß er noch tiefer gräbt?

Folglich ist es ein absoluter Schock, als ich mich meine zweite Begründung vorbringen höre, diejenige, welche ich noch niemandem genannt habe. »Okay«, knurre ich, »wegen des Kicks. Wegen der verdammten Aufregung. Okay?«

Sein Lächeln verändert sich nicht im geringsten, und die Wut zerrt wieder an meinen Eingeweiden. Oder ist es wirklich Wut? Im Moment könnte es auch ebensogut Angst sein.

»Tatsächlich?« fragt Argent milde.

»Du bist so verdammt gut im Fragenstellen, warum beantwortest du nicht mal eine?« knurre ich. Ein paar Söldner um uns wenden sich uns zu, ihre verspiegelten Visiere reflektieren verzerrte Bilder von mir und dem Runner. Aber das ist mir egal. »Was ist mit deinen verdammten Armen passiert, Argent?«

Die Worte sind heraus, bevor ich auch nur ansatzweise über ihre mögliche Wirkung auf den Runner nachdenke. Ich vermute, ein Teil von mir ist auf Streit aus, aber was für eine Art von Streit suche ich eigentlich? Ein Sturmgewehr ist keinen feuchten Drek im Nahkampf wert, und obwohl der Escrima-Chip geladen ist, könnten mir die Cyberarme, wegen der ich Ihm zusetze, die Kehle herausreißen, bevor ich reagieren könnte.

Doch seine Miene bleibt immer noch unverändert. »Freiwilliger Austausch«, sagt er gelassen.

Sie können Ihren Arsch darauf verwetten, daß mich das aus der Fassung bringt, Priyatel, und zwar gewaltig. Freiwilliger Austausch? Ich hatte immer gedacht, seine Arme seien ihm zerschossen oder abgehackt oder weggesprengt worden. Als Lyrtne Telestrian Argents Wüstenkriegshintergrund erwähnte, war ich davon überzeugt, er sei irgendwann einer explodierenden Granate zu nah gekommen oder irgendwas in der Art.

Aber freiwilliger Austausch? Chummer, das heißt, in eine Cyberklinik zu schlendern und dem Doc zu sagen: »Nimm mir mal eben die Arme ab und ersetze sie durch Maschinen.« Wie, zum Teufel, kann das jemand auch nur in Erwägung ziehen? (Ja, ja, okay, ich habe selbst ein paar Cybermodifikationen in Gestalt von Talentbuchsen und der dazugehörigen Elektronik. Aber das sind Verstärkungen, Priyatel, Ergänzungen des Fleisches, als pflanze man einen Turbolader auf den Motor seines Motorrads. Ein großer Unterschied zu dem, was Argent getan hat.)

Wenn er mich zum Schweigen bringen wollte, hätte er sich keine bessere Methode ausdenken können. Er sagt auch nichts mehr, und ich glaube nicht, daß ich jetzt reden könnte, selbst wenn ich es versuchte. Dann fährt er gelassen und ein wenig nachdenklich fort: »Ich kannte mal jemanden, der ein Undercover-Infiltrations-agent war. Niemand kannte seinen richtigen Namen -manchmal frage ich mich, ob er ihn kannte -, aber wir nannten ihn damals Steel. Er war gut, Chummer, er war echt gut. Aber...«

Er hält kurz inne. »Aber es dauerte gar nicht lange, bis mir klar wurde, warum er gut war«, fährt er mit ein wenig leiserer Stimme fort. »Aus demselben Grund, warum er sich überhaupt darauf eingelassen hat, vermute ich. Steel war der absolute Einzelgänger. Hatte nie Freunde, weil er nie welche wollte, weil er niemanden an sich ranlassen konnte. Er war immer auf der Hut, so daß ihm nie jemand richtig nah kam.« Der Runner kichert trocken. »Er hatte einen Haufen Bekannte. Versteh mich nicht falsch, er war kein Einsiedler oder so. Novaheiß bei den Frauen. Dutzende von Leuten betrachteten Steel als Freund und glaubten, er empfinde dasselbe. Aber das tat er nicht. Sie waren einfach nur da, sie bedeuteten ihm nichts, obwohl er sich immer richtig verhielt, um sie in dem Glauben zu belassen, er mache sich was aus ihnen.«

Argent zuckt die Achseln. »Ich weiß nicht, warum er so war. Ja, klar, ich könnte raten - das ganze oberflächliche Psychogeschwätz über Familienhintergrund und den ganzen Drek -, aber es spielt im Grunde keine Rolle. Er war ein... ein soziales Chamäleon, besser kann ich es nicht formulieren. Laß ihn auf eine Gruppe los -irgendeine Gruppe -, und binnen einer Stunde hat er die am besten aussehende Frau im Sack und alle anderen glauben, er sei ihr bester Chummer überhaupt, würde sie achten und schätzen. Und das alles, ohne daß ihm auch nur an einem einzigen das geringste liegt. Und ich war immer der Ansicht, das sei der Grund, warum er Undercover-Agent geworden ist«, schließt der Runner. »So war er eben, und der Job als Undercover-Agent war der einzige auf der ganzen Welt, der ihn für diese Art von Verhalten tatsächlich belohnte.« Er richtet seinen leicht silbrigen Blick auf mich. »Neh?«

Meine Eingeweide verkrampfen sich - es muß die Wut sein, was sonst? »Willst du damit sagen, ich bin genauso?« will ich wissen.

Er zuckt kaum merklich die Achseln. »Wie vielen Leuten vertraust du, Wolf?« fragt er. »Bei wie vielen kannst du dich überwinden, ihnen zu vertrauen?«

»Keinem«, kontere ich. »Genau wie ein Shadowrun-ner.«

»Falsch.« Argents Stimme ist fest, aber es liegt nicht mal eine Spur von Verärgerung darin. »Ich kann meinen Chummers trauen. Wie Peg und Jean und Sly und Dirk.« Ich kenne nur die erste Hälfte der Namen, aber das spielt keine Rolle. »Und dann gibt es noch diejenigen, denen ich vertraut habe, bevor ich sie verlor -Hawk und Toshi und Agarwal. Es sind nicht viele, Wolf, aber doch ein paar. Shadowrunner haben nicht viele Freunde, das ist wahr. Aber wir halten an denen fest, die wir haben.«

»Zum Teufel mit dir«, fauche ich. Es ist die einzige Antwort, die ich ihm geben kann. »Scher dich einfach zum Teufel, okay?« schnauze ich das Visier meines Helms an, während ich mich auf die Symbolik meines HUD konzentriere.

Eine Stimme ertönt im Ohrhörer meines gepanzerten Helms, durchdringend und blechern. »Punkt Eins.«

Und wiederum habe ich das Gefühl, als sei die Zeit nur ein großes Rad, das sich immer nur dreht und dreht und dreht. Einen Augenblick lang glaube ich, ich kann die Augen schließen und sie dann wieder öffnen, und dann bin ich wieder mit Paco und den anderen im Bulldog und gerade dabei, das Tor des Lagerhauses der Eighty-Eights zu durchbrechen. Ich verdränge Argents Worte - und die seltsame Wirkung, die sie in meinen Eingeweiden hervorgerufen haben - tief in den Sumpf, um mich später mit ihnen zu beschäftigen. Merkwürdiger Zeitpunkt, um den Psychoquatsch zu spielen, denke ich... aber dann geht mir auf, daß mich diese paar Minuten Gespräch zu stark beschäftigt haben, um Angst vor dem bevorstehenden Einsatz zu bekommen. Hat er es deswegen getan?

Wer, zum Teufel, weiß, und wen, zum Teufel, kümmert es? Im Moment gibt es Wichtigeres. Ich halte mich am Dollbord fest und stehe auf.

Die Riverine braust mit ihrer Reisegeschwindigkeit von fünfunddreißig Stundenkilometern von unserem Aufmarschgebiet auf halbem Weg zwischen Skamo-kawa und Cathlamet flußabwärts nach Westen. Nach allem, was Argent mir erzählt hat, können die Wasserjet-Kreisel das Boot bei Höchstleistung auf das Dreifache dieser Geschwindigkeit beschleunigen, aber im Augenblick würde alles andere als Reisegeschwindigkeit eine Menge Aufmerksamkeit auf uns lenken, die wir schlicht und einfach nicht wollen. Nun, da ich stehe, kann ich über die Treppe, die zum Oberdeck führt, das auf die Kabine gepfropft ist, hinweg und an dem Geschütz vorbei sehen. Das Geschütz - eine Vanquisher Minikanone, ein fieses Teil - ist gegenwärtig unbemannt und gesichert, und ihre Mehrfachläufe sind in den Himmel gerichtet, aber ich weiß, daß ein Besatzungsmitglied den Auftrag hat, sie im geeigneten Augenblick einzusetzen.

Der Anstrich der Riverine ist grellgrün mit goldenen Rändern - diese Farben werden von den meisten Firmen des Telestrian-Imperiums einschließlich Nova Vita Cybernetics benutzt. Der Transponder ist ebenfalls so eingestellt, daß er sich jedem Radarstrahl gegenüber als Telestrian-Fahrzeug ausgibt. (Anstrich und Transponder sind kein Schwindel, zumindest nicht auf dieser Ebene. Die Riverine - und jedes andere an dem Einsatz beteiligte Gefährt - ist tatsächlich ein Telestrian-Fahr-zeug, das irgendeiner Gesellschaft des Telestrian-Imperiums gehört. Die Frage lautet nur, welchem Teil...) Rechts - steuerbord? - und ein wenig hinter uns kann ich eine weitere Riverine erkennen, die genauso aussieht wie unsere. Angriffsteam Baker. Vor unserem Bug erstreckt sich das graue Wasser des Columbia und vielleicht eineinhalb Kilometer voraus die Küste und der düstere, klobige Umriß der NVC-Anlage. Dort wird es gleich hoch hergehen.

Ich fahre mit den Fingern über die winzige Tastatur an meiner linken Hüfte. Die Tasten kontrollieren die komplizierteren Merkmale des ›Commander‹-HUD und der Kommanlage in meiner Rüstung. (Außerdem habe ich eine mit der Zunge zu aktivierende Version am Kinnschutz für den Fall, daß ich mal keine Hand frei haben sollte, aber damit fühle ich mich einfach nicht wohl.) Die Symbole auf dem HUD ändern sich und geben mir eine schematische Darstellung der unter meinem Kommando stehenden Truppen.

Mein Kommando, ein echter Witz. Ja, klar, Lynne Te-lestrian hat darauf bestanden, daß ich nominell die Leitung des Angriffs übernehme, und zwar aus all den Gründen, die sie während des Telekomgesprächs dargelegt hat. Aber das hat genau null Bezug zur Realität. Argent und ein paar von den anderen Söldnern haben auf der Grundlage der von Lynne für das Unternehmen bereitgestellten Mittel Angriffsplan, Logistik und Ausweichmöglichkeiten ausgearbeitet. Was auch gut so ist, wenn man mich fragt. Ich bin kein Militär, ich bin kein Söldner, und ich bin nicht kompetent, was diesen Drek anbelangt. Wenn man mir die Sache überlassen hätte, würde ich sie wahrscheinlich gründlich verpfuscht haben mit dem Resultat, daß wir alle dabei draufgegangen wären und der Laborkomplex keinen Kratzer abbekommen hätte. Nein, Priyatel, das ist etwas für die Profis. Ich spiele gerne Galionsfigur, wenn es das ist, was das Elfen-Miststück will, aber nicht mehr.

Natürlich hat es Vorteile, Galionsfigur zu sein. Das war nämlich der Grund, warum mir Argent und seine ›Berater‹ den grundsätzlichen Plan erklärt haben, anstatt mich wie die anderen Söldner der verschiedenen Angriffsteams im unklaren zu lassen. (Vielleicht hätte er ihn mir sowieso erklärt, Galionsfigur hin oder her, aber auf diese Weise gerate ich deswegen wenigstens nicht ins Schwitzen.) Der Plan ist eine Kombination aus purer Unverschämtheit und Täuschung, wobei einige technische Spielzeuge zum Einsatz gelangen, die wir von Lynne bekommen haben und die mir völlig unbekannt sind.

Im wesentlichen reduziert sich alles auf ein modifiziertes Trojanisches Pferd... oder etwas in der Art. Zwei Riverines mit Transpondern, die sie als Nachschubtransporter von Nova Vita ausweisen und zu dem Zeitpunkt in der NVC-Anlage eintreffen, wo man Nachschub erwartet. Eine kleine, aber gut bewaffnete Sturmtruppe. Und Kavallerie, die nur darauf wartet, über den Hügel geritten zu kommen - eine Abteilung Gelbjacken, die sich gegenwärtig noch mit abgeschalteten Systemen in unserem Aufmarschgebiet befindet, so daß sie für das Radar und die anderen Sensoren unseres Zielgebiets unsichtbar ist. Zwei ›Condor‹-Stealth-Dronen von Aerodesign Systems schweben fünfhundert Meter hoch über uns und übermitteln unseren Einheiten ihre Überwachungsdaten. Und drei Wandjina RPV Kampfdronen, die gegenwärtig ein paar Kilometer hinter uns weniger als einen Meter über der Wasseroberfläche schweben, warten nur darauf, im geeigneten Moment an die Front beordert zu werden, um einige häßliche Überraschungen auszupacken, mit denen ganz bestimmte Verteidigungsanlagen ausgeschaltet werden sollen, auf die wir durch frühere Erkundung aufmerksam geworden sind. Das größte verdammte Unternehmen, an dem ich je beteiligt war... und auch je beteiligt sein will. Alle anderen scheinen spielend damit klarzukommen.

Wir sind noch einen Kilometer entfernt, und ich spüre, wie die Riverine schneller wird, als der Steuermann mehr Gas gibt. Die Baker-Riverine hält mit. Ja, wir ziehen die Aufmerksamkeit auf uns, aber die Zeit des Anschleichens ist sowieso fast vorbei. Jeden Augenblick wird irgendein Funker in der NVC-Anlage ein Paßwort oder Erkennungssignal verlangen, das wir nicht geben können, und dann ist der Drek am dampfen. Je näher wir in diesem Augenblick dem Ufer sind -und je schneller wir fahren -, desto besser. So sieht zumindest der Plan aus.

Und der Augenblick ist da. Eine blinkende Textbotschaft auf meinem HUD fordert mich auf, eine bestimmte Kurzstrecken-Komfrequenz abzuhören. Ungeschickt tippe ich die Frequenz mit der linken Hand ein.

Und lande mitten in einem Gespräch: »...Begleitfahrzeuge unterwegs. Bitte identifizieren Sie sich.« Ich kenne die Stimme nicht, aber die Vermutung liegt nahe, daß sie dem Funker in der NVC-Anlage gehört.

Begleitfahrzeuge, ja? Ich halte angestrengt Ausschau nach ihnen.

Es dauert eine Sekunde, weil sie kleiner sind, als ich erwartet habe. Als ich sie erkenne, spüre ich, wie sich meine Wangen zu einem Grinsen straffen. Vier der kleinen Dinger düsen uns über den Fluß entgegen, wahrscheinlich mit der Absicht, uns zu flankieren. Es sind Suzuki Watersports oder zumindest Wasserfahrzeuge, die ihnen sehr ähnlich sind. Leistungsstärkere Verwandte des Bombardier WaveRunner, auf dem ich als Kind den See unsicher gemacht habe. Ja, warum nicht -auf einem Fluß sind sie wahrscheinlich die schnellsten und manövrierfähigsten Fahrzeuge. Mit etwas Panzerung und der richtigen Ausrüstung lassen sie sich wahrscheinlich zu anständigen Trägerplattformen für Waffen umbauen.

»NVC 1, wir bringen Nachschub, Überstellungsbefugnis Zulu-Kilo-Tango Eins-Fünf.« Das ist der ›Fun-ker‹ der Able-Riverine, der den Genehmigungscode nennt, den Lynne Telestrian von weiß der Teufel woher aufgetrieben hat. Er reicht nicht mal annähernd, um uns unbehelligt durchkommen zu lassen - das wissen wir alle -, aber wir müßten damit weitere kostbare Sekunden gewinnen. »Ich dachte, ihr Jungs könntet in ein paar Tagen vielleicht Hunger kriegen«, fährt unser Mann fort.

Offenbar hat der Bursche am anderen Ende seinen Sinn für Humor zu Hause gelassen. »Erbitte Erkennungscode, Eins-Fünf«, sagt er ungerührt.

Ich drücke eine andere Taste und schicke den Steuermännern der beiden Riverines damit eine vorbereitete Botschaft. Ich verliere beinahe den Halt, als das Able-Boot aufdreht. Neben uns hebt sich der Bug der anderen Riverine höher aus dem Wasser, als sie ebenfalls das Tempo erhöht.

»Erkennungscode... Augenblick...«, murmelt unser Mann. »Gerade hatte ich ihn doch noch...« Lahme Versuche, ein wenig Zeit zu schinden, um noch ein paar Meter näher ans Ufer zu kommen.

Es klappt nicht. Mein HUD füllt sich mit Warnsymbolen, viel zu viele Informationen für einen Grünschnabel wie mich, um schlau daraus zu werden. Aber wenn man die Daten für Impulsmodulation und Amplituden wegläßt, bleibt die Nachricht, daß der Gegner soeben sein Feuerleitradar aktiviert hat. Noch zeichnet es keines der Boote, aber das wird sich rasch ändern. Ich drücke eine weitere Taste, um ein weiteres vorbereitetes Makro abzuschicken, und ein schriller Warnton blökt aus den Lautsprechern beider Boote. Alle Mann auf Gefechtsstation und der ganze Drek. Der Kanonier springt zur Minikanone, schaltet die Elektronik ein und schnallt sich in das Geschirr, während sich die Läufe der Kanone immer schneller drehen.

Plötzlich habe ich ein markerschütterndes piep-piep-piep im Ohr, und ich weiß, das Feindradar zeichnet uns. Augenblicklich greift ein strahlend gelborangefarbener Lichtstrahl von irgendwo am Flußufer nach unserem Boot. Ich weiß, worum es sich handelt, und ich habe damit gerechnet, aber trotzdem habe ich plötzlich große Mühe, meinen Schließmuskel zu kontrollieren. So, wie der Lichtstrahl nach uns tastet und dabei das Wasser dort, wo er mit ihm in Berührung kommt, kochen und aufsprühen läßt, sieht er aus wie ein ›Todes-strahl‹ aus irgendeinem schlechten Science Fiction-Tri-deo.

Es ist kein ›Todesstrahl‹, aber etwas ebenso Tödliches. Es ist der Geschoßhagel einer Requiter Minikanone, eine erschreckende Zurschaustellung von Feuergeschwindigkeit. Wir wissen, daß sie da sind - zwei Stück in gepanzerten Auto-Türmen, welche die Docks der Anlage flankieren -, und wir haben sie bei unserer Planung berücksichtigt. (Korrektur: Argent hat sie in seiner Planung berücksichtigt.) Nach allem, was ich von einer Requiter weiß, ist sie mit ihrer Feuergeschwindigkeit von zweitausend Schuß pro Minute sogar noch tödlicher als die Vanquisher der Riverine. Normalerweise ist nur jede sechste Kugel ein Leuchtspurgeschoß, aber das reicht, um den Kugelhagel wie einen leicht flexiblen Balken aus glühendem Opti-Plastik aussehen zu lassen. Grauenerregend.

Noch grauenerregender, wenn dieser Strom - und der andere, der jetzt nach der zweiten Riverine tastet -sein Ziel erfaßt. Das einzig Gute ist die Tatsache, daß es auch mit Feuerleitradar ein heikles Unterfangen ist, mit solch einer Minikanone zu treffen. Wir haben nur ein paar Sekunden - wenn wir Glück haben -, aber wir sind bereit, diese Gnadenfrist auszunutzen.

»Los jetzt!« schnappe ich in mein Kehlkopfmikro.

›Meine‹ Truppen brauchen diese Worte nicht erst zu hören. Ich habe den Befehl noch gar nicht richtig gegeben, als auch schon der erste der beiden Infanteriemörser auf dem Bugdeck des Able-Boots hustet, dicht gefolgt von den beiden Rohren auf dem Baker-Boot. Das Heulen des Antriebs der Riverine ist zu laut, um den Flug der Granaten zu hören, aber ich höre sie jedenfalls explodieren. Perfekt getimt, etwa zwanzig Meter über dem Wasser, vielleicht fünfzig Meter vor dem Ufer zwischen uns und den Kanonen. Natürlich viel zu kurz, um gepanzerte Auto-Türme zu beschädigen, selbst wenn es sich um hochexplosive Granaten gehandelt hätte, was nicht der Fall ist. Statt dessen haben sie bei der Explosion eine Wolke von Drek freigesetzt, die im trüben Nachmittagslicht glitzert und funkelt.

Einiges davon ist Metall oder, genauer gesagt, metallbeschichtetes Mylar, in Streifen geschnittene Störfolien, deren genaue Maße so konzipiert sind, daß sie eine maximale Störwirkung auf das typische Feuerleitradar haben. Bei einem Teil davon handelt es sich um die gleichen aktiven Störfolien, die Raven benutzt hat, um uns bei unserem Flug mit dem Merlin die Rakete vom Hals zu schaffen. Und nicht genug damit, der Drek enthält zusätzlich noch eine spezielle ›Rauch‹-Mischung, die lebende, mikroskopisch kleine blaugrüne Algenzellen in einer Wasserlösung enthält. Diese Wolke aus Wassertröpfchen macht es verdammt schwierig, klar zu sehen, und durch die Tatsache, daß sich lebende Organismen in den Tröpfchen befinden, erstreckt sich die Wirkung auch auf magische Sicht. (Alles auf Argents Mist gewachsen, wie ich gerne zugebe. Er konnte sich aus alten Wüstenkriegszeiten noch an Granaten wie diese erinnern und fragte Lynne, ob sie welche besorgen könne. Eine vergebliche Anfrage, hatten wir beide gedacht - dieses Zeug findet man kaum im Laden um die Ecke. Aber Lynne zuckte nicht mit der Wimper, als sie zustimmte, und das Zeug erwartete uns bereits, als wir in unserem Aufmarschgebiet eintrafen. Faszinierend und zugleich erschreckend. Vielleicht hätten wir ein paar Panzer oder vielleicht Sturmtanks anfordern sollen...) Und während ich all das noch einmal in Gedanken durchgehe, laden die Mörser mehr von diesem ach so tollen Drek ab.

Und es funktioniert. Wiederum ändern sich die Zeichen auf meinem HUD und verraten mir - wie ich glaube und hoffe -, daß uns das Feuerleitradar verloren hat. Radar hin oder her, die Lichtstrahlen bestreichen jetzt ziellos den Fluß und entfernen sich von den beiden geschickt manövrierenden Riverines.

Die vier Watersports, die zu uns unterwegs sind, um uns in die Mitte zu nehmen, befinden sich zwischen uns und der Störwolke. Die Fahrer wissen, daß etwas ernstlich faul ist, und reißen ihre Maschinen herum. Selbst aus dieser Entfernung kann ich die Wasservorhänge sehen, die die Schlitten bei ihrem Manöver aufwirbeln. Die Vanquisher auf dem Baker-Boot eröffnet das Feuer - ein Geräusch wie ein elektrisch verstärkter Furz -, und die Salve verwandelt einen der Watersports in einen Feuerball, Dann verschwinden die drei Überlebenden in der Störwolke, die sie ebenso wirksam schützt wie uns.

Zeit für den Zweiten Akt. »Holt die Wandjinas«, befehle ich, während ich gleichzeitig den HUD-Modus so umschalte, daß ich den Blick aus den Condor-Stealth-Dronen über uns in einem kleinen Fenster sehe. Das körnige Bild zeigt mir die drei Wandjina-Kampfdro-nen - die wie Miniaturkampfflugzeuge mit einer Spannweite von zwei Metern aussehen -, die mit Höchstgeschwindigkeit aufsteigen und auf die NVC-Anlage zufliegen. Zwischen dem Ziel und den ferngesteuerten Dronen befinden sich aktive Störfolien und anderer Drek, so daß ich weiß, daß die Rigger, die die Dronen aus der Ferne steuern, von den Bordsensoren der Wandjinas keine verwertbaren Daten empfangen. Doch das spielt im Moment keine Rolle. Das Bild, das die Condor-Dronen liefern, reicht völlig aus, um die Kampfdronen ins Ziel zu steuern.

Die Kampfdronen fegen durch die Störwolke. Ich weiß, daß sie jetzt auf dem Feuerleitradar der NVC-Anlage aufgetaucht sind, weil beide Minikanonen plötzlich die Schußrichtung ändern, um diese neuen Echos aufs Korn zu nehmen - vernünftig, da sie das einzige sind, was vom Radar eindeutig erfaßt wird. Doch die extrem schnellen, extrem wendigen Dronen sind viel schwerer zu treffen als Riverines. (Worüber wir natürlich alle hellauf begeistert sind, ganz klar.) Eine der Wandjinas wird getroffen und explodiert, doch die anderen beiden rasen ihren Zielen entgegen, den AutoTürmen. Sie schießen ihre Waffen ab und ziehen hoch. Ich erhöhe den Vergrößerungsfaktor des HUD und sehe, daß beide Dronen ihr Ziel getroffen haben.

Frage: Wie zerstört man einen Auto-Turm, der so gut gepanzert ist, daß er eine Salve aus dem Hauptgeschütz eines Panzers übersteht? Man schaltet die Intelligenz aus, die den Turm kontrolliert - zumindest ist das die Art und Weise, wie Argent das Problem angegangen ist. Unsere Aufklärung und Lynnes Informationen bestätigten beide, daß die Auto-Türme an sich zu klein waren, um noch etwas anderem als den Requiter Minikanonen Platz zu bieten, was bedeutet, daß die Kanoniere anderswo sitzen müssen. Und wo befinden sich diese Kanoniere? Rigger, Priyatel, Burschen wie Raven, die sich ins Feuerleitradar und in die Steuerser-vos der Kanonen eingestöpselt haben. Natürlich sitzen sie hinter Schutzmauern, die man wahrscheinlich nur mit einem taktischen Atomsprengkopf knacken kann, aber sie haben diese netten Glasfaserkabel, die direkt in ihren Schädeln enden.

Und so setzt man die Auto-Türme außer Gefecht. Die Wandjinas haben keine Bomben oder Raketen oder Napalm verschossen, sondern größere Ausgaben von Ta-serstrahlen, schlicht und einfach, mächtige Kondensatoren, die einen Stromschlag austeilen, der jedem Rigger das Hirn röstet. So ähnlich wie die ›Zapper‹, die die militanteren Gangs im Sprawl benutzen, um die Dro-nen des Star außer Gefecht zu setzen. Die Theorie lautet, eine möglichst hohe Spannung durch das Hardware-Ende eines Rigger-Schaltkreises zu jagen, womit man eine Rückkopplung und damit eine Überlastung im Wetware-Ende schafft - mit anderen Worten, im Flirn des Riggers. Die Lightshow ist beeindruckend, als die Taserstrahlen treffen, sich entladen und damit unzählige hellblaue Lichtbögen zwischen Boden und Geschütztürmen schaffen. Eine Minikanone verstummt sofort, die andere zuckt in den Himmel und spuckt noch einmal Feuer, bevor sie ebenfalls verstummt.

Die Kameras der Condor über uns zeigen mir, wie die Wandjinas hochziehen und dabei mehr Beharrungskräfte über sich ergehen lassen, als ein menschlicher Pilot ertragen könnte, bevor sie zu einem koordinierten Überflug über die NVC-Anlage ansetzen, um diese mit ihren MGs zu bestreichen. Das sollte den Eifer und die Konzentration aller in der Anlage Anwesenden ein wenig bremsen, besonders dann, wenn die Burschen dort herausfinden, daß die Überflüge so koordiniert sind, daß sie etwa alle zehn Sekunden konzentriertem MG-Feuer ausgesetzt sind.

Und so kommt Akt Drei. »Holt die Gelbjacken«, befehle ich.

Wiederum bezweifle ich, daß meine Truppen tatsächlich auf den Befehl ihres furchtlosen Anführers gewartet haben. Als ich den HUD-Modus erneut ändere, zeigt das Radar acht Echos, die sich von Osten her nähern, indem sie der Uferlinie folgen. Die Kavallerie ist im Antraben.

Und wie sich herausstellt, gerade noch rechtzeitig. Unsere eigenen Störfolien legen unser Radar hinsichtlich der NVC-Anlage lahm, und der Rauch-Nebel-Drek versperrt auch die normale Sicht darauf. Doch das gilt nur für Bodenhöhe. Wenn etwas hoch genug ist, können wir es auch sehen. Und so entdecke ich ein halbes Dutzend Gelbjacken, die aus der Anlage gestartet sind und jetzt an Höhe gewinnen. Die leichten Angriffshubschrauber auf beiden Seiten legen einen Zahn zu und fallen übereinander her wie... nun, wie Gelbjacken. (Ich bin nur froh, daß ich nicht da oben bin, Priyatel. Alle vierzehn Gelbjacken tragen die gleichen grün-gol-denen Telestrian-Farben, weil alle Vögel Telestrian gehören, und ihre Transponder werden alle mehr oder weniger das gleiche quäken. Dadurch reduziert sich der Wert all dieser ach so ausgefeilten Freund-Feind-Identifikationstech, mit der ohne Zweifel alle bis zum Dach vollgestopft sind, auf Null. Jeder Vögel da oben wird als ›freundlich‹ identifiziert, egal wer ihn fliegt. Häßlich und chaotisch, kurzum, überlassen wir die Sache lieber den Piloten.)

Das Baker-Boot verschwindet in der Störwolke - die sich jetzt langsam auflöst -, und zehn Sekunden später sind wir ebenfalls hindurch. Am Ufer wird sporadisch mit kleinkalibrigen Waffen geschossen, und ich höre sogar ein paar Kugeln gegen den gepanzerten Rumpf unserer Riverine schlagen. Doch dieser unbedeutende Widerstand hält sich nicht lange, da die Vanquisher auf den beiden Booten das Ufer systematisch säubern.

Ich inspiziere die Docks, während die Kanoniere die letzten Widerstandsnester erledigen. An einem der Kais ist ein Samuvani-Criscraft Otter festgemacht, eine kleine Fünf-Meter-Konstruktion mit einem drehbar gelagerten mittelschweren Maschinengewehr. Daneben liegt ein Aztech Nightrunner. Am zweiten Kai sind ein paar Watersports vertäut. Dabei fällt mir ein: Wo sind eigentlich unsere ›Begleitfahrzeuge‹ abgeblieben? Wenn sie schlau sind, in Kalifornien, aber darauf können wir uns nicht verlassen. Und dabei fällt mir ein...

Ich drehe mich um und schalte das elektronische Fernglas in meinem Helm ein. Weniger als zwei Kilometer von uns entfernt beginnt das Tir-Territorium, das darf ich nicht vergessen. Das in den Helm integrierte Fernglas bringt das gegenüberliegende Ufer näher heran. Dort drüben sind Flugzeuge und Hubschrauber. Einen Augenblick lang packt mich die nackte Angst. Ich glaube, daß wir es mit der NVC-Anlage aufnehmen können. Aber wir können es mit Sicherheit nicht mit der NVC-Anlage plus Luftunterstützung aus Tir aufnehmen.

Doch dann werde ich schlauer aus dem, was ich sehe. Dort drüben ist ein Haufen Luftwaffe versammelt, aber alle Maschinen bleiben auf der Tir-Seite des Flusses. Keine einzige fliegt über den Columbia auf uns zu. Was natürlich nicht übermäßig beruhigend ist. Ein paar Kilometer bedeuten mächste Nähe‹ für jede halbwegs vernünftige Militärrakete.

Aber es ist anschaulich. Das Tir-Militär mag vielleicht die Zähne zeigen, aber bis jetzt ist es mehr eine Warnung, daß man uns in den Arsch treten wird, wenn wir nicht auf dieser Seite des Flusses bleiben. Ich salutiere ironisch. Verstanden, Priyatel. Konzernsöldner reichen völlig, um mich zu Tode zu ängstigen, auch ohne daß sich das Militär einmischt.

Als ich mich wieder dem Hauptereignis zuwende, entfernt sich das Baker-Boot bereits wieder vom Ufer, da seine Truppen gelandet sind und auf das gepanzerte Tor zustürmen, das ich vor uns sehen kann. Ich schaue nach oben. Wie ich erwartet habe, ein absolutes Chaos da oben. Die Reihen der Gelbjacken haben sich auf weniger als ein Dutzend gelichtet, und alle Hubschrauber hocken dicht aufeinander. Keiner setzt Raketen ein, alle sind in das Luftäquivalent einer Messerstecherei verwickelt und hocken sich so dicht auf der Pelle, daß sie vermutlich die Gesichter der Piloten ausmachen können, bevor sie mit ihren Bordgeschützen loshämmern. Es sieht nicht so aus, als würde dort oben bald eine Entscheidung fallen, aber ich bezweifle, daß irgend jemand einen freien Moment hat, um sich in die Vorgänge am Boden einzumischen. Und genauso haben wir es auch geplant.

Auf der anderen Seite der Anlage sehe ich einen mächtigen Feuerball in den Himmel steigen. Das verrät mir, daß unsere Bodentruppen die Landseite der Anlage mit allem angreifen, was sie haben. (Was nicht viel ist, um ehrlich zu sein, aber hoffentlich reicht, um noch mehr Aufmerksamkeit von den Angriffsteams Able und Baker abzulenken.)

Jetzt sind wir an der Reihe. Das Able-Boot nimmt den Platz des anderen ein und schlägt hart gegen den Landungskai. Die Wasserjets rasen und halten uns mit ihrer Schubkraft an Ort und Stelle.

Es wird Zeit. Ich packe mein Sturmgewehr, wobei ich der Elektronik in meinem Schädel einen Sekundenbruchteil Zeit lasse, sich mit den Schaltkreisen der Waffe zu synchronisieren. Entsichert, Gasdruck-Schock-polster bei nominal hundert Prozent Leistung, fünfunddreißig Schuß im Magazin, einer im Lauf. Alles einsatzbereit. Die meisten Mitglieder des Able-Teams sind bereits über Bord gesprungen und rennen auf die Anlage zu, als ich mich in Bewegung setze. Ich spüre jemanden neben mir und muß nicht erst hinsehen, um Argent zu identifizieren.

»Startklar?« fragt der verchromte Runner, die Sturmkanone mit seinen Metallhänden umklammernd.

Ich blecke die Zähne zu einem raubtierhaften Grinsen. »Worauf du einen lassen kannst«, erwidere ich.

Er schlägt mir auf die gepanzerte Schulter, und wir springen gemeinsam über das Dollbord.