Warum das Abholmanöver und warum der Fahrzeugwechsel? Es ergibt keinen Sinn, es sei denn, ich bin heißer - viel heißer -, als ich glaube, oder die Unterwanderung des Star ist tiefgreifender, als ich mir vorstellen kann. Drek, das ist schauerlich. Der Star ist immer die eine Konstante in meinem (beruflichen) Leben gewesen, die Einrichtung, der ich vertrauen und auf die ich mich verlassen konnte, wenn ich undercover gearbeitet habe. Es verunsichert mich, daß das, was ich für eine stabile Felsformation gehalten habe, in Wirklichkeit nur Gelee sein könnte ...

Ich schnaube und schiebe diese Gedanken in die »Grübeleien für später‹-Datei. Es ist 0251, und der Regen hat aufgehört, aber von Osten weht ein scharfer Wind über den Lake Washington und die Union Bay herein, und ich friere mich noch zu Tode. Wenigstens hat Layton einen guten Platz ausgesucht. Es gibt ein Dutzend guter Stellen, von denen ich das Südende der Mountlake-Brücke sehen kann, ohne selbst gesehen zu werden. (Zu oft suchen die Schreibtischhengste Plätze aus, die eine und nur eine Stelle zu bieten haben, wo man sich aufhalten kann. Wenn das Treffen in die Hose geht, verwandelt sich diese Stelle in eine Todesfalle.)

Ich befinde mich bereits an der besten Stelle, einer kleinen Bude vor einem Restaurant, wo tagsüber vermutlich die Parkplatzwächter herumhängen. Ohne mich übermäßig zu exponieren, kann ich nach Norden die halbe Brücke, nach Süden bis zur Überführung über den Highway 520 und nach Osten und Westen einen ganzen Block der East Shelby Street überblicken. Das einzige, was gegen meinen ›Ausguck‹ einzuwenden ist, ist die Tatsache, daß die verdammte Bude nicht beheizt ist. Wo ich mich auch hinhocke, immer weht mir ein eisiger Luftzug über den Nacken.

Es ist Punkt 0300 - genau in der Mitte der angegebenen Zeitspanne -, als ich von Süden her Scheinwerfer über die Brücke kommen sehe. Es ist ein einzelner Wagen, der sehr langsam fährt, nicht viel schneller als Schrittempo. Als er das Ende der Brücke erreicht, erlöschen die Scheinwerfer, so daß nur noch das Standlicht brennt. In dem kalten Blauweiß der Straßenlaternen sehe ich die klobige und unverkennbare Gestalt eines Leyland-Zil Tsarina an der Ecke Montlake Boulevard und Shelby an den Randstein fahren. Die Scheinwerfer blitzen noch einmal auf, dann erlöschen alle Lichter. Ich höre das Jaulen, als die Multitreibstoffturbine heruntergefahren wird, dann ein hydraulisches Zischen, als sich das vordere und das hintere Verdeck öffnen.

Der L-Z Tsarina ist ein verrückter Wagen, was man von einer englisch-russischen Koproduktion auch erwarten kann, aber ich muß zugeben, er ist eine gute Wahl für diese Art von Unternehmen. Er ist ein Zweisitzer - ein reinrassiger, nicht zwei plus zwei, auch nicht zwei plus Gepäck. Im Innenraum ist Platz für zwei, und nur zwei Personen: Der Beifahrer sitzt vorne, der Fahrer ein wenig höher und seitlich nach hinten versetzt (die gleiche Sitzkonfiguration wie in einem Kampfhubschrauber, hat mir ein Chummer mal gesagt). Der Witz ist, wenn beide Verdecke geöffnet sind, gibt es keine Möglichkeit für jemanden, sich in dem Wagen zu verstecken. Folglich braucht man sich keine Gedanken zu machen, ob sich jemand auf dem Beifahrersitz duckt und außer Sicht wartet. Die Straßenbeleuchtung enthüllt die dunkle Gestalt einer Person in dem Wagen, eine kleine Gestalt auf dem Fahrersitz. Ich glaube nicht, daß es sich um eine Falle handelt, beschließe aber trotzdem, noch eine oder zwei Minuten zu warten und zu beobachten, weil es einfach nicht cool wäre, die Sache mit Übereifer anzugehen. Dann leuchtet die Leselampe auf der Fahrerseite auf, und ich sehe, wer es ist.

Ich erhebe mich, wobei ich das schmerzhafte Knacken in meinen kalten, steifen Kniegelenken ignoriere, und schlendere über die Straße zu dem wartenden Wagen.

Cat Ashburton lächelt mich aus dem engen Innenraum des Tsarina an. »Willst du in meine Richtung, Seemann?« fragt sie.

Ich schüttle kichernd den Kopf, schwinge mich auf den Beifahrersitz und versuche eine bequeme Stellung für meine langen Beine zu finden. Die Verdecke schließen sich, die Turbine kommt wieder auf Touren -im Wagen ist davon nicht mehr als ein unterschwelliges Surren zu hören -, und wir fahren los.

Der Nachteil des Tsarina besteht darin, daß man sich nicht von Angesicht zu Angesicht unterhalten kann. Ich sitze in Fahrtrichtung, blicke über die kurze, geschwungene Haube nach vorne und habe einfach nicht genug Platz, mich umzudrehen. Andererseits hat Cat einen erstklassigen Ausblick auf meinen Hinterkopf und die beginnende kahle Stelle darauf. Dennoch, man muß zufrieden sein mit dem, was man hat. Zumindest ist es in dem Wagen warm und gemütlich.

»Was machst du denn hier?« frage ich sie. »Bist du mein offizieller Fahrer?«

Ich höre sie kichern und wünschte, ich könnte ihr Gesicht sehen. »Das bin ich, Omae«, bestätigt sie. »Drum-mond hat es mir gesagt. Ich schätze, er wollte jemanden, den du kennst, zu dem du aber keine nachweisbaren Verbindungen unterhältst, oder so.«

»Mag sein.« In meinem Kopf klingelt eine Alarmglocke, aber ich weiß nicht, warum.

Ohne es zu wollen, lenkt Cat mich von diesem Gedanken ab, bevor ich ihn weiterverfolgen kann. »Hast du Mayflower überprüft?« fragt sie.

»Ja, hat mir aber nicht viel genützt. Crystalite, Griffin und der Rest - wer, zum Teufel, sind die?«

»Was sind die«, korrigiert sie. »Nämlich große, in Tir niedergelassene Konzerne, die in Seattle keine offiziellen Unternehmungen am laufen haben.«

»Wie soll mir das weiterhelfen?« will ich wissen.

»Das Schlüsselwort ist ›offiziell‹.«

»Und?«

Cat seufzt, runzelt wahrscheinlich die Stirn über meine Begriffsstutzigkeit. »Wenn ein Konzern offiziell nicht präsent ist«, sagt sie langsam und deutlich, als rede sie mit einem neugeborenen Ork, »fragt man sich doch, warum Sicherheit von ihnen präsent ist, oder nicht, Omae? Wenn man nichts zu bewachen hat, was will man dann mit Wachen, neh?«

Ich bin zu müde, um klar zu denken - das ist meine Version, und ich bleibe dabei. »Ja, denk mal an«, murmele ich. »Und all diese Konzerne haben Sicherheit im Plex?«

»Das besagen jedenfalls die Unterlagen, die der Star über sie hat.«

»Warum?«

Sie kichert wieder. »Das ist die große Frage, nicht wahr?« Sie hält inne. »Die Antwort auf diese Frage läßt sich nicht in einer einzigen Datenbank finden. Wenn es überhaupt eine Antwort gibt, läßt sie sich nur finden, wenn man eine Wagenladung verschiedener Daten in einer Wagenladung verschiedener Dateien miteinander vergleicht.«

Ich seufze. »Also eine Sackgasse, was? Tja, trotzdem vielen Dank, Cat, du hast was bei mir gut.«

»Und ob ich bei dir was guthabe«, wirft sie ein, »aber ich habe nicht gesagt, daß es unmöglich ist. Nur schwierig.«

»Ach?« Ein leises Hoffnungsgefühl regt sich in mir. Auch wenn es keine Möglichkeit gibt, Layton, McMar-tin und Drummond im Augenblick meiner Ankunft auf dem Gelände des Stars das Juwel zu überreichen, wäre es immer noch ein Teilsieg, wenn ich ihnen etwas Wichtiges präsentieren könnte, bevor sie selbst darauf stoßen.

»Ja, ›ach‹«, sagt sie, »und ich habe wirklich was bei dir gut. Wegen dir habe ich kaum Schlaf bekommen.«

»Früher hat dich das nicht sonderlich gestört«, sage ich unschuldig, dann: »Aua, Drek«, als sie mir eine Kopfnuß verpaßt. Ich komme zu dem Schluß, daß ich L-Z Tsarinas doch hasse.

»Warum denkst du zur Abwechslung nicht mal damit?« sagt sie, indem sie ihre Worte mit einer weiteren Kopfnuß unterstreicht. Doch in ihrer Stimme liegt ein Unterton, der mir verrät, daß sie nicht so genervt ist, wie sie mich glauben machen will. »Jedenfalls, was ich gerade sagen wollte... Ich habe ein paar Smartframes und Demons gestartet und ausgesandt, die Dreksarbeit zu erledigen und die Vergleiche zu übernehmen. Genau damit sind sie im Moment beschäftigt.«

»Hä? Von allein?«

Sie lacht laut auf. »Du bist nicht auf dem laufenden, Chummer. Man muß nicht mehr eigenhändig nach Daten suchen. Man schreibt einfach eine Prozedur, die das für einen erledigt.«

Ich schüttle den Kopf. Manchmal glaube ich, im Finsteren Zeitalter so um 1995 wäre ich besser aufgehoben. »Und was tun sie, wenn sie gefunden haben, wonach sie suchen? Nach Hause telefonieren?«

Das soll ein Witz sein, aber sie sagt nur: »Du hast's erfaßt. Sie sind darauf programmiert, alle Erkenntnisse in Besondere Gefälligkeiten und die nackten Fakten in ein paar anderen Dateien abzuspeichern, so daß wir sie später vergleichen können. Zufrieden?«

»Sehr zufrieden.«

Wir schweigen, und in diesem ersten Augenblick der Stille höre ich den Warnglocken, die seit ein paar Minuten in meinem Schädel klingeln, zum erstenmal richtig zu. Cat sagte, Drummond habe sie damit beauftragt, mich abzuholen, weil in unseren Personalakten keine Verbindung zwischen uns erwähnt ist. Aber wenn keine Verbindung erwähnt wird, woher wußte er dann davon?

Drek, Drek, Drek... Ich öffne den Mund, um es ihr zu sagen, aber es ist zu spät, viel zu spät.

In diesem Augenblick sehe ich einen Lichtblitz links oben auf dem Dach eines niedrigen Hauses. Gelbrotes Licht wie Feuer. Als nächstes weiß ich nur noch, daß Feuer auf uns herabregnet, ein ultraschneller Komet, dessen Bild sich in mein Blickfeld brennt.

Übergang.

Es ist wie in einem schlecht geschnittenen Trideo. Gerade sitze ich noch gemütlich auf dem Beifahrersitz des Tsarina, und im nächsten Augenblick liege ich in grotesker Haltung auf etwas Hartem, Kantigem, Kopf unten, Hintern oben. Mein Gesicht ist eiskalt, mein Rücken glühendheiß. In meinen Ohren rauscht und klingelt es, aber das fürchterliche Gekreisch in meinem Kopf ist zu überwältigend, als daß ich daraus schlau werden könnte. Als ich die Augen zu öffnen versuche, spüre ich zwar, daß sich die Lider bewegen, aber ich bin dennoch blind. Ich will mich bewegen, aber mein Körper achtet nicht auf die Signale, die mein Verstand aussendet. Ich komme mir vor wie in einem verdammten Alptraum, was mich plötzlich in Panik versetzt. Oder vielleicht ist es auch das turboaufgeladene Nervenflattern der Furcht. Meine Beine und mein Rücken zucken, und ich wälze mich auf die rechte Seite. Etwas Spitzes und Hartes sticht in meine linke Arschbacke.

Es ist der Schmerz - präzise, kristallin, genau lokalisiert -, der meinen Kopf zu klären scheint. Ich liege auf der Straße, und zwar mitten auf irgendwelchem Schrott. Meine Augen sind offen, aber ich kann nichts sehen, weil etwas Warmes und Klebriges darin ist -Blut, was sonst? Ein Autounfall... Dann fällt mir der flammende Komet wieder ein.

Und ich wälze mich herum - wie verrückt, immer wieder nach rechts. Weg aus der Richtung, aus der der Komet gekommen ist, herunter von dem Schrott und auf den kalten, nassen Asphalt. Zum Teufel mit den Schmerzen, zum Teufel damit, daß mir irgend etwas tief im Hinterteil sitzt, zum Teufel damit, daß sich mein Rücken anfühlt, als stünde er in Flammen. Wenn ich nicht schnell reagiere - jetzt -, bin ich tot. Mich immer noch herumwälzend, reibe ich mir mit der linken Hand die Augen in dem Versuch, das Blut wegzuwischen, während meine rechte die H&K zieht.

Ich kann wieder sehen, wälze mich jedoch so schnell herum, daß ich aus nichts von dem, was ich sehe, schlau werde. Nachthimmel, Flammen, nasser Asphalt, Flammen, wieder Nachthimmel. Das Klingeln in meinem Kopf läßt nach, und jetzt kann ich auch das Prasseln der Flammen hören. Und das Schreien einer Frau -gellend, ohne Unterbrechung, markerschütternd...

Dann ein anderes Geräusch, eines, das ich kenne, ein Dreifachknall. Ba-ba-bam, und mein Gesicht und meine Hände werden von Asphaltsplittern malträtiert. Ich wälze mich wieder herum, und diesmal bekomme ich meine Hände und ein Knie unter mich. Dann schnelle ich mich mit einer gewaltigen Anstrengung all meiner Hauptmuskeln auf die Beine. Mir ist schwindlig, und fast lege ich mich wieder hin, schaffe es aber doch, das Gleichgewicht zu halten - knapp. Einen Augenblick später stolpere ich beinahe über einen Bordstein, aber ich setze die Bewegung in einen Stolperschritt um und schlage einen Haken nach rechts. Wieder das Ba-ba-bam, und ein Müllcontainer neben mir verwandelt sich in Granatsplitter. Noch ein Stolperschritt, ein Haken nach links, und ich riskiere einen raschen Blick über die Schulter.

Mitten auf der Straße steht der Tsarina in Flammen, das Heck ist verdreht und aufgerissen und hat sich in eine schreckliche Art von Skulptur verwandelt. Aus der Fahrgastzelle schlagen fröhlich die Flammen. Die Schreie haben aufgehört, und ich weiß, das ist ein Segen. Der vordere Teil des Wagens, der Teil vor dem Beifahrersitz, liegt ein paar Meter vom Rest des Wracks entfernt - durch einen absonderlichen Zufall hat er nicht Feuer gefangen. Offenbar ist der Tsarina von der Explosionswucht der Rakete an der Vorderachse in zwei Teile gespalten worden.

Auf dem Dach eines niedrigen Hauses an der Straße mache ich Bewegung aus - eine Einzelperson, nehme ich an. Zwei weitere Gestalten sind auf der Straße und bewegen sich vorsichtig auf Cat und den Wagen zu, der sich in ein Krematorium verwandelt hat. Die Elektronik übernimmt, und ich jage ein paar Feuerstöße in ihre Richtung. Nur, um sie zu beschäftigen, nicht in der Erwartung, Schaden anzurichten. Ich weiß, daß sie gepanzert sind, genauso wie ich weiß, wer und was sie sind.

All das hat einen Sekundenbruchteil gedauert und war ein verdammt guter Job. Die Mossberg auf der anderen Straßenseite wummert wieder, und diesmal fegt die Ladung so dicht an mir vorbei, daß ich sie spüren kann.

In mir tobt eine rasende Wut, ein schreckliches Brennen, das ich so noch nie zuvor empfunden habe. Die Wut fühlt sich an, als sei sie losgelöst von mir, eigenständig, als habe sie ihre eigenen Bedürfnisse und eine eigene Persönlichkeit. So, wie sich die Elektronik manchmal anfühlt, aber noch stärker. Die Wut will nichts anderes, als auf die Straße rennen und meine H&K in die Gestalten - in die Mörder - leeren, bevor ich selbst niedergemäht werde. Dasselbe gilt für die Elektronik.

Aber ich kann es nicht tun, ich kann nicht sterben. Noch nicht. Ich habe noch Dinge zu erledigen, sage ich mir, und die Wut in mir versteht das. Ich muß das Warum herausfinden, und ich muß das Wer bestätigen (obwohl ich denke, daß ich davon eine verdammt gute Vorstellung habe), und dann muß ich ein paar nicht ganz so höfliche Besuche machen. Wenn das erledigt ist, kann mich von mir aus jeder, der scharf darauf ist, niedermähen.

Ich mache eine Körpertäuschung nach rechts, dann werfe ich mich mit jedem Joule Energie, das noch in mir steckt, nach links. Die Mossberg zerlegt einen Laternenpfahl ein gutes halbes Dutzend Meter neben mir, nur daß sich jetzt die MPs auch zur Party gesellen. Zu spät. Ich bin schon in einer Gasse untergetaucht, weg von der gut beleuchteten Straße und wieder in der Dunkelheit und in den Schatten, die ich so gut kenne. Sollen doch die Cops von Lone Stars Taktischem Einsatzkommando aufräumen. Die Abrechnung kommt noch früh genug.

Aber nicht jetzt.

Ich renne weiter durch die Nacht.