26

Als wir wieder in Renton sind, ist es spät am Abend, und ich fühle mich, als sei es ein verdammt langer Tag gewesen. Ich bin rappelig wie nur was. Auf der Heimfahrt mußte auf der Autobahn ein Wagen neben Argents Westwind auf die Bremse steigen, und das daraus resultierende Quietschen klang viel zu sehr wie der Radarkontaktalarm des Merlin. Ich glaube, ich konnte meine Reaktion unterdrücken -jedenfalls so weit, daß ich nicht durch das verdammte Dach geschossen bin -, aber der Vorfall hat noch einmal unterstrichen, wie weit ich mich im roten Bereich bewege. Aufklärungsfiüge und Raketenangriffe? Gebt mir doch bitte einen netten, freundlichen Messerkampf oder eine Gang-Schießerei.

Wir gehen ins Loch in der Wand und nach oben in meine Bude. (Warum immer in meine Bude? Offensichtlich, weil Argent nicht will, daß ich weiß, wo er wohnt, und das kann ich ihm nicht einmal verübeln.) Der Runner legt den Chip mit den Daten von der Videokamera des Merlin in das Telekom, und wir frieren das beste Bild auf dem Schirm ein, das wir von der NVC-Anlage in Pillar Rock haben.

Nun, da ich mehr Einzelheiten erkennen kann, sehe ich, daß ich mit meiner ersten Vermutung nicht sehr danebengelegen habe - die Anlage sieht tatsächlich wie ein verdammtes Gefängnis aus. Auf der Grundlage der Schattenwinkel schätzt die (überraschend anspruchsvolle) Bildanalyse-Software des Telekoms die Höhe der Mauern auf acht Meter. Auch mit maximaler Vergrößerung läßt sich nicht erkennen, ob diese Mauern zusätzlich noch mit etwas oben darauf gesichert sind, aber dem Gesamteindruck nach zu urteilen, würde ich auf ein paar Lagen Stacheldraht (bestenfalls) oder Monodraht (schlimmstenfalls) tippen, die vermutlich noch durch irgendwelche Sensoren unterstützt werden. Was ich für Wachtürme gehalten habe, sind tatsächlich Wachtürme oder zumindest irgend etwas, das ihnen bemerkenswert ähnlich sieht. Es gibt ein einziges Tor zur Landseite und ein paar Bootsdocks - natürlich außerhalb der Mauern - am Fluß.

Nach einer oder zwei Minuten eingehender Betrachtung fasse ich meine Analyse zusammen. »Das ist eine verdammte Festung.«

Argent nickt nachdenklich. »Interessante Konstruktion für ein Labor, würde ich sagen«, stimmt er mir zu. »Ich habe früher schon Konzernanlagen mit massiver Sicherheit gesehen, aber noch nie eine, bei der sie derart auffällig und offensichtlich war.«

Etwas, das mir schon eine ganze Weile im Hinterkopf herumgeht, sucht sich diesen Augenblick aus, um sich in den Vordergrund zu drängen. »Wenn NVC ein Tir-Konzern ist, warum dann dieser Standort am Nordufer des Flusses? Das ist doch S-S-Territorium.«

Der Shadowrunner zuckt die Achseln. »Ich würde sagen, weil in Tir die Konzerne ziemlich stark überwacht werden. Und vergiß nicht, daß James Telestrian Verbindungen zur Regierung und zu den konservativeren Geschäftskreisen hat. Wenn Timothy T. dieses Labor für irgendwelche finsteren Machenschaften benutzt, wird er nicht wollen, daß es sich in der Einflußsphäre seines Vaters befindet, oder?«

»Ich dachte, das S-S-Council stiege den Konzernen ziemlich aufs Dach«, werfe ich ein.

»Manchen Konzernen, ja«, bestätigt Argent. »Aber ich weiß von zwei oder dreien, die es geschafft haben, sich bei der Regierung lieb Kind zu machen.« Er schnaubt. »Wahrscheinlich durch üppige Bestechungsgelder, aber das ist nur eine Vermutung. Ich würde sagen, das hier beweist, daß man Nova Vita Cybernetics guten Gewissens zu diesen Konzernen zählen kann.«

Ich deute auf den Telekomschirm. »Wir wissen immer noch nichts, nicht wahr?«

Argent zuckt wieder die Achseln. »Ich schätze, die Tatsache, daß jemand mit einer Rakete auf uns geschossen hat, ist ziemlich vielsagend.«

»Vielsagend in der Hinsicht, daß NVC irgendwas am Laufen hat, das sie nicht an die große Glocke hängen wollen«, korrigiere ich. »Aber das könnte alles mögliche sein, oder?«

Der Runner ist nicht überzeugt. »Ich würde sagen, die Rakete im Zusammenhang mit der Schrage-Connection plus die Tatsache, daß Nova Vita Gentechniker nach Pillar Rock versetzt hat, verrät uns einiges.«

Ich schüttle den Kopf. »Um dein Wort zu benutzen, es ist vielsagend, aber es ist ganz sicher nicht eindeutig. Es sind Indizien, aber keine Beweise. Es gibt nichts, was wir den Behörden präsentieren könnten, und welchen Behörden könnten wir bei dieser Sache überhaupt vertrauen?«

Argent fängt an zu argumentieren, aber aus dem Nichts kommt mir plötzlich ein Gedanke, der mich mit der Wucht eines Schnellzugs trifft. »Warte mal«, schnappe ich. Der Shadowrunner hält die Klappe und beobachtet mich neugierig.

Ich schweige eine gute Minute lang oder auch zwei, dann spüre ich, wie sich mein Gesicht zu einem Grinsen verzieht. Ja, das paßt.

»Was ist?« fragt Argent, als er mein Lächeln sieht.

»Die Einzelheiten nenne ich dir später«, sage ich zu ihm. »In der Zwischenzeit gibt es ein paar Sachen, die ich von dir und Peg brauche. Vielleicht solltest du dir Notizen machen...«


Argent war nicht sofort einverstanden, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Ich muß jedoch zugeben, daß er meinem Plan nicht annähernd so ablehnend gegenüberstand, wie ich geglaubt hatte. (Oder vielleicht auch nicht annähernd so ablehnend gegenüberstand, wie ich einem Plan von ihm gegenübergestanden hätte. Darüber muß ich mal nachdenken...) Als er sah, worauf ich hinauswollte, zog er mit. Gut, er wies auf ein paar Löcher hin, die mir nicht aufgefallen waren, aber er machte auch Vorschläge, wie man sie stopfen konnte, und im Endeffekt war der Plan hinterher hieb- und stichfester als vorher.

Jetzt sitze ich also vor dem Telekom, versuche mich zu entspannen und meinen Pulsschlag auf einen annähernd normalen Wert zu senken. Ich muß ganz cool sein, sage ich mir immer wieder. Wenn das hier eine Kampfsituation wäre, könnte ich mich zumindest halbwegs darauf verlassen, daß mir meine Ausbildung weiterhilft. Aber das hier ist ganz etwas anderes. Wenn ich das jetzt verpfusche, werde ich so lange vor den Cutters, dem Star und allen anderen Mitspielern auf der Flucht sein, bis schließlich jemand ins Schwarze trifft und mir den Schädel- wegpustet.

Ich werfe einen Blick auf Argent. Er räkelt sich in dem Sessel in der Nähe, befindet sich aber nicht im Erfassungsbereich der Videokamera. Er beobachtet mich gelassen, fast losgelöst. Kein Wunder. Schließlich ist es nicht sein Kopf, auf den die Zielscheibe gemalt ist. Trotzdem verfluche ich ihn im stillen. Ich konzentriere mich wieder auf das Telekom und gebe die Nummer ein, die Peg beschafft hat.

Das Zustandekommen der Verbindung scheint eine Ewigkeit zu dauern. Der Schirm bleibt zunächst tot, doch im Lautsprecher summt und klickt es, da die Utility, die ich benutze, ihren Kampf mit dem LT-Git-ter austrägt. Schließlich überzieht sich der Schirm mit den vertrauten Farbmustern, und in der Statuszeile am unteren Rand des Bildschirms steht Verbindung wird hergestellt«. Die Statuszeile wechselt, und aus dem Lautsprecher tönt das vertraute ›Klingeln‹, das jedoch mit einem merkwürdigen Echo unterlegt ist. Was weiter keine Überraschung ist: Dieser Anruf läuft im Gegensatz zu dem Zwei-Knoten-Relais, das ich benutzt habe, um Argent zu erreichen, über ein Sieben-Knoten-Relais - der komplexesten Verbindung, die Peg noch mit einiger Zuverlässigkeit handhaben kann. Wenn unser Adressat diesen Anruf durch sieben dazwischenliegende Knoten zurückverfolgen kann, will ich es gar nicht wissen.

Das Telefon klingelt immer weiter. Keine Antwort. Ich mache mir Sorgen, daß ich vielleicht die falsche Nummer habe oder ein spezieller Code erforderlich ist, um tatsächlich durchzukommen. Argent hat mir verraten, daß Peg schwer daran zu knacken hatte, diese Nummer zu besorgen, und die Chance, daß die Nummer stimmt, daß sie noch angeschlossen ist und dieser ganze Drek, liegt nicht viel höher als fünfzig Prozent. Während weiter die Farbmuster über den Schirm huschen und es im Lautsprecher klingelt und klingelt, bekomme ich das unangenehme Gefühl, daß diese Chance einfach zu gering war. Drek! Es hätte klappen können. Ich strecke die Hand aus, um den Anruf zu beenden...

In diesem Augenblick blinkt in der Statuszeile ›Verbindung hergestellt‹ auf, und der Schirm erhellt sich, um ein Gesicht zu zeigen. »Telestrian«, sagt das Gesicht kurz angebunden. Die Augen der Elfe verengen sich, und ich weiß, daß sie auf einen leeren Schirm schaut. »Wer ist da?«

Ich schalte die Videokamera des Telekoms ein und sehe, wie sich Lynne Telestrians harte grüne Augen kaum merklich vor Überraschung verengen. Dann hat sie dieselbe stahlharte Kontrolle wiederhergestellt, die sie bereits in dem verlassenen Fi nes Que t an den Tag gelegt hat. »Mr. Larson«, sagt sie zögernd. »Ich muß sagen, das kommt ein wenig... unverhofft.«

Verdammt richtig, es kommt tatsächlich unverhofft, denke ich zwar, sage es aber nicht. Die Durchwahl zu Lynne Telestrians Privatbüro war laut Peg fast so schwer herauszubekommen wie der Code für den Start von Atomraketen. Ich lächle nur und sage: »Ich war der Ansicht, unser Gespräch sei noch nicht ganz beendet, Ms. Telestrian. Bei unserer letzten Unterhaltung habe ich nicht die richtigen Fragen gestellt. Ich dachte mir, es sei an der Zeit, das zu korrigieren.«

Sie hebt eine Augenbraue in einer Mischung aus Widerwillen und Neugier. »Ach? Und was macht Sie glauben, ich hätte die Absicht, Ihre Fragen zu beantworten?«

Ich zucke die Achseln. Aus dem Augenwinkel sehe ich Argent mit seinen Metallfingern gestikulieren. Er achtet auf die Zeit, und ich habe bereits zwanzig Sekunden der zwei Minuten vergeudet, die wir als unbedenklich eingestuft haben. »Vielleicht würden Sie die Fragen zu einer Änderung Ihrer Ansicht bewegen«, stelle ich fest. »Zum Beispiel: ›Wie würden Aktienmarkt und Geschäftswelt auf die Enthüllung reagieren, daß eine zum Telestrian-Imperium gehörende Firma in der Seattier Innenstadt Biowaffen testet?‹« Ich grinse. »Sicher, es gibt ein paar mildernde Umstände, aber ich glaube nicht, daß sich der durchschnittliche, eifrige Schattenschnüffler dafür interessieren wird. Und auch nicht die Nachrichtenmedien.«

»Was? Das ist doch Unsinn«, schnappt sie. »Niemand würde so etwas glauben.«

»Da wäre ich an Ihrer Stelle gar nicht so sicher. Der Aktienmarkt ist berüchtigt für seine Empfindlichkeit, nicht wahr? Auch wenn Sie später beweisen könnten, daß Ihre Fraktion nichts damit zu tun hat, ließe sich der Schaden kurzfristig nicht mehr reparieren. Die Frage ist, welche Fraktion kurzfristig mehr Schaden erleiden würde, Ihre oder Timothys? Bedenkenswert, oder nicht?«

Sie antwortet nicht sofort. Ihr Blick ist kalt und stet, grün und starr, eher der einer Schlange als der einer Frau. Wiederum gestikuliert Argent - eine Minute vorbei. Die Sekunden verstreichen, und ich beginne mich zu fragen, wie groß der Sicherheitsspielraum ist, den Peg in ihre Schätzung einkalkuliert hat, daß ich zwei Minuten lang reden könnte, ohne das Risiko einzugehen, daß der Anruf zurückverfolgt wird.

»Sie waren nicht untätig, das sehe ich jetzt«, sagt Lynne Telestrian schließlich. »Wenn es Ihr Ziel war, meine Aufmerksamkeit zu erregen, betrachten Sie es als erreicht.« Sie lehnt sich zurück, und das Telekom verändert automatisch die Fokussierung, so daß ihre Züge scharf bleiben. »Nun, da sie Ihnen gehört, was beabsichtigen Sie damit anzufangen?«

»Bei unserem letzten Gespräch haben Sie mir einen Rat gegeben, den ich mir zu Herzen genommen habe«, sage ich, wobei ich mich jetzt etwas wohler fühle. Zumindest diesen Teil des Gesprächs habe ich mir vorher überlegen können. »Ich habe ein wenig in Timothy Telestrians Unternehmungen in Seattle herumgeschnüffelt, und was ich dabei herausgefunden habe, will mir nicht gefallen. Ich weiß nicht, wieviel Sie bereits wissen und was Sie dagegen zu tun beabsichtigen. Aber lassen Sie mich eines klarstellen, Ms. Telestrian: Falls wir zu keiner Einigung kommen, geht alles, was ich weiß, an jeden Schattenschnüffler, Reporter, Drekwühler und Nachrichtenkorrespondenten, den ich auftreiben kann... mit besonderem Augenmerk auf die Piraten. Haben Sie mich verstanden, Lynne?«

Sie antwortet nicht verbal, aber ihre grünen Augen sind ausdrucksvoll genug. Nicht zum erstenmal bin ich echt froh, daß ich mich auf der anderen Seite einer Telekomverbindung befinde.

»Machen Sie alles zum Empfang einer Datei bereit«, sage ich zu ihr. »Es handelt sich um eine Zusammenfassung von allem, was ich herausgefunden und mir zusammengereimt habe. Was Sie damit anstellen, ist Ihre Sache, aber ich schlage vor, daß Sie etwas damit tun. Wenn Sie kneifen, wandert derselbe Bericht, wie ich schon sagte, direkt zu den Schattenschnüfflern.

Außerdem will ich, daß Sie mich in genau einer Stunde zurückrufen«, fahre ich rasch fort, bevor sie etwas erwidern kann. »Die Nummer befindet sich am Ende der Datei. Aus offensichtlichen Gründen handelt es sich um ein Multi-Knoten-Relais, aber versuchen Sie nicht, der Nummer nachzuspüren. Das Relais wird nur zwei Minuten aktiv sein, und zwar genau sechzig Minuten, nachdem ich das Startzeichen gebe, also würden Sie in einer Sackgasse landen. Wenn Sie mich nicht innerhalb dieser Zeitspanne zurückrufen, geht die Datei an die Schnüffler. Verstanden?« Wiederum warte ich nicht auf eine Antwort. »Öffnen Sie Ihre Auffangdatei, ich schicke Ihnen jetzt die Daten. Ach ja, sechzig Minuten, ab ... jetzt.«

Damit schalte ich die Kamera aus und starte die vorprogrammierte Utility, die meinen Bericht über alles, was ich über die Telestrian-NVC-Star-Connec-tion weiß und mir denken kann, durch die Leitung jagt. Das Übertragen der komprimierten Datei dauert fünf Sekunden. Kaum summt das Telekom, daß die Übertragung beendet ist, unterbreche ich die Verbindung. Der Schirm wird leer, aber der Lautsprecher summt und klickt noch eine Weile vor sich hin, da Peg das Sieben-Knoten-Relais zerlegt.

Ich lehne mich zurück und sehe Argent fragend an.

»Hunderteinundzwanzig Sekunden Verbindungszeit insgesamt«, verkündet er. Er verzieht die Lippen zu einem raubtierhaften Grinsen. »Ich schätze, eine Sekunde über die Zeit ist ganz akzeptabel.« Er schweigt einen Augenblick, aber ich weiß, daß er noch etwas zu sagen hat. Ich warte.

»Guter Zug«, sagt er schließlich. »Du bist findig, Wolf. Ich würde sagen, zu gut für Lone Star.« Und dann, als sei er verlegen, weil sein Lob zu überschwenglich ausgefallen ist, zieht er sein eigenes Mobiltelefon, um den nächsten Schritt mit Peg zu koordinieren, und läßt mich im wesentlichen allein an dem knacken, was ich gehört habe.