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Okay, ich will ganz ehrlich sein: Ich habe 'ne Scheißangst.

Nennen Sie es ichbezogene Hellsichtigkeit, nennen Sie es die notwendige Paranoia des verdeckten Ermittlers, nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich weiß nur, daß es ein Gefühl der Enge in der Brust ist, ein brennendes, wäßriges Gefühl in den Eingeweiden.

Theoretisch weiß niemand in Seattle, wer und was ich wirklich bin. Das ist zumindest die Absicht. Und das ist auch der Grund, warum mich der Star aus Mil-waukee geholt hat. Abgesehen von meinen direkten Vorgesetzten und verschiedenen Kontaktpersonen innerhalb des Star - und ihren Liebhabern, Vertrauten und allen sonstigen Personen, bei denen sie sich verplappern -, kennt mich jeder in Seattle nur als Rick Lar-son, Gangmitglied der Extraklasse, Soldat der Cutters und Mitglied von Blakes Prätorianergarde.

Jeder Versuch von offizieller Stelle, Hintergrundmaterial über mich auszugraben, würde nach Milwaukee führen, wo das dortige Büro des Star eine wasserdichte Tarnung für mich aufgebaut hat. Falls die Suche inoffiziell erfolgt - über die Milwaukee-Gangszene zum Beispiel -, stößt man auf dieselbe Geschichte, weil Rick Larson dort ebenfalls tätig war. Also sind die einzigen Personen, die mein Gesicht in Seattle kennen, meine Vorgesetzten bei Lone Star und Leute, die mir in meiner Cutter-Identität begegnet sind. Hübsch und logisch und beruhigend, richtig?

Tja nun, das ist die Theorie, und wir wissen alle, was mit den Theorien passiert ist, der Mensch würde nie fliegen und eine Kettenreaktion könnte nie stattfinden. Bedenkt man zusätzlich noch die Tatsache, daß ich mit einem Suborbitalflugzeug der neuesten Generation von Milwaukee nach Seattle geflogen bin, das vermittels linearer Induktionsschienen gestartet wird, die ihre Elektrizität aus einem verdammten Atomreaktor beziehen, werden Sie meinen Widerwillen verstehen, mich auf Theorien zu verlassen. Meine Tarnung ist nur so lange wasserdicht und kugelsicher, wie eine ganz bestimmte Grundvoraussetzung zutrifft: daß niemand (außer mir natürlich) jemals von Milwaukee nach Seattle zieht.

Zugegeben, Seattle ist nicht das Paradies auf Erden, aber waren Sie mal in letzter Zeit in Milwaukee? Laut Handelskammer ›Eine großartige Stadt an einem großen See‹, aber in Wirklichkeit ist es nur ein großartiger Platz, um sich auf einer großen Giftmüllkippe den Tod zu holen. Aber Leute ziehen nun mal um. Drek, nehmen Sie nur Cat Ashburton, den kurvenreichen Rotschopf, mit dem ich mich im Kissaten getroffen habe. Sie ist ebenfalls von Milwaukee nach Seattle versetzt worden. Sicher, sie gehört zu Lone Star und ist daher ungefährlich, aber ihre Versetzung ist völlig unabhängig von meiner erfolgt, und das macht sie - zumindest in bezug auf meine Katastrophentheorie - zu einem von vielen Konzernlohnsklaven. Und wenn ein Konzernlohnsklave zur Westküste versetzt werden kann, warum dann nicht auch ein anderer? Und warum nicht einer, der mich kannte, während ich auf der Akademie war und bevor ich meine Tätigkeit als verdeckter Ermittler aufnahm?

Lassen wir meine hyperaktive Phantasie mal einen Augenblick daran knacken und nehmen wir einfach den schlimmstmöglichen Fall an: Vielleicht hat mich der Assistent des Elfs - der Bursche, dessentwegen ich so aus dem Häuschen bin - gekannt, als wir beide noch junge Punks in Milwaukee waren. Vielleicht sind wir zusammen zur Schule gegangen oder haben uns beim Bier in irgendeiner Studentenkneipe kennengelernt. Im besoffenen Kopf habe ich ihm dann erzählt, daß ich mir überlege, mich dem Star anzuschließen.

Nein, noch schlimmer. Ich habe ihn kennengelernt, als ich auf der Akademie war - wahrscheinlich eben-falls bei einem Liter Bier -, als ich fest entschlossen war, dem Star beizutreten und die Welt zu verändern. Danach trennen sich unsere beruflichen Wege. Ich werde verdeckter Ermittler, er taucht in die Konzernwelt ein und landet bei einem in Tir angesiedelten Konzern, für den er fragwürdige Deals mit Gangs abschließt. Was wird er sich wohl denken, wenn er den guten alten Ricky sieht, den Schwachkopf, der immer so gerne Cop werden wollte und jedem seinen Decodierring vom Lone Star Fan Club gezeigt hat und plötzlich so aussieht, als sei er ein hochrangiger Soldat der verdammten Cutters? Was wird er sich wohl denken? Richtig, genau das wird er sich denken. Und damit wird er verdammt recht haben und ich recht bald verdammt tot sein. Ach, ist Symmetrie nicht wunderbar?

Tja, das ist also der schlimmstmögliche Fall. Und der bestmögliche? Wir sind uns gestern auf der Straße begegnet und aus irgendeinem Grund sind die Gesichter haftengeblieben. Oder vielleicht war er einer von den Pinkeln in der Kaffeebohne, als ich meine Nummer mit Cat abgezogen habe. In diesem Fall bin ich sicher. Wenn er mein Gesicht schließlich unterbringen kann, wird seine Reaktion darauf eher lauten: »Hey, wie klein doch die Welt ist«, als: »Ein Verräter! Laßt die Hunde los!«

Und der wahrscheinlichste Fall? Liegt irgendwo dazwischen. Vielleicht kennen wir einander tatsächlich aus Milwaukee, sind uns aber erst begegnet, als meine Tarnung zumindest schon in Ansätzen existierte. In welchem Fall mein Risiko minimal, wenn nicht gar gleich Null ist.

Was mache ich jetzt also? ›Den Burschen umlegen‹, fällt mir als erstes ein, aber das birgt eigene Risiken und Konsequenzen. Nein, offenbar ist es das Vernünftigste, mir erst mal das Hirn zu zermartern, wer der Kerl war, ist oder was auch immer. Wenn ich ihm zuvorkomme und eher als er weiß, woher wir einander kennen, dann weiß ich, wohin der Zug fährt. Bis mir in dieser Hinsicht die Erleuchtung kommt, bleibt mir jedoch nichts anderes übrig, als mir Schauergeschichten auszumalen und mir vor Angst fast in die Hose zu machen.

Und das gelingt mir auch ausgezeichnet.


Ein paar Tage später arbeite ich immer noch daran, und langsam wird die Sache zu einem echten Schmerz im Arsch. Ich kann das Gesicht dieses Burschen immer noch nicht unterbringen, wie sehr ich mich auch abmühe. Ich habe all die kleinen psychologischen Kniffe angewandt, all das geistige Judo, das einem angeblich hilft, sich zu erinnern. Versuch's mal chronologisch (Bist du ihm 2049 begegnet? Nicht? Wie steht es dann mit 2050?). Oder geographisch (Erinnere dich an die Gesichter all derjenigen, die in Milos Bar in Milwaukee herumgehangen haben. Nichts? Versuch's mit der Universität von Wisconsin, dem Haus der Studentenvereinigung...). Oder wie wäre es assoziativ? (Wen hast du je getroffen, der enge Beziehungen zu Elfen hatte?) All das führt nur zu Kopfschmerzen, Schlafstörungen und beunruhigenden Alpträumen, wenn es mir dann doch gelingt einzuschlafen. Nicht sehr produktiv, Chummer. Absolut nicht produktiv.

Also habe ich es wie ein guter kleiner Maulwurf, der ich ja auch bin, mit einer anderen Quelle versucht. Unter Einsatz aller Schliche, Lügen und Machenschaften, die man sich vorstellen kam, habe ich meine Fühler innerhalb der Cutters ausgestreckt, um herauszufinden, ob irgend jemand irgend etwas über meinen mysteriösen Mr. X weiß. Nichts zu machen, Chummer.

Ja, sicher, ich bekam einen Namen, aber der lautet auf Mr. Nemo. Ich glaube nicht, daß der Bursche, der mir dieses Juwel von einer Information zugesteckt hat, je herausfinden wird, warum ich aussah, als hätte ich auf eine Zitrone gebissen, als er mir den Namen nannte. Abgesehen von einem Namen wie ›P. S. Eudonym‹ kann ich mir keinen vorstellen, der so offensichtlich ein Alias ist wie ›Nemo‹. (Liest denn niemand mehr die Klassiker? ›Nemo‹ bedeutet ›niemand‹ auf Latein. Unser Gast hat sich als Mr. Niemand vorgestellt.) Also ist der Name in diesem Fall buchstäblich Schall und Rauch.

Nun, wir wollen fair bleiben, da war noch etwas anderes, aber das hat nur noch mehr Fragen aufgeworfen. Nach allem, was ein paar Soldaten gehört haben wollen - und die Götter wissen, wie und wo sie es gehört haben -, gehörte Mr. Nemo nicht zum gleichen Konzern wie die Elfen. Mehr konnten sie mir nicht sagen. Kein Hinweis, ob das bedeutet, daß er für einen anderen in Tir angesiedelten Konzern oder für einen Konzern sonstwo auf der Welt arbeitet... oder ob er überhaupt ständiger Mitarbeiter eines Konzerns ist. Drek, mit einem Pseudonym wie Nemo könnte er genausogut ein Shadowrunner sein. (Teufel, nein, er ist kein Runner. Das weiß ich, und ich weiß nicht, woher ich das weiß, und das beunruhigt mich noch mehr. Was für ein Alptraum.)

Jedenfalls habe ich meinen Bericht fertig und auf Chip diktiert, darunter auch alles, was ich über die Elfen-Delegation weiß, annehme und mutmaße. Ich habe Beschreibungen von allen dreien, doch zum x-ten-mal in den letzten paar Tagen wünsche ich mir, ich könnte einigermaßen zeichnen oder jemand hätte daran gedacht, mich mit anderen Talentsofts als gewalttätigen auszustatten.

Schön, mein Bericht ist also fertig, aber wie und wann liefere ich ihn ab? Blake läßt mich als Helfer/Handlanger/Leibwächter arbeiten, bis die Schwarte kracht. Ich habe ihm den Rücken freigehalten, Kurier und was weiß ich für ihn gespielt, sitze aber ansonsten im wesentlichen herum und warte darauf, daß er sich überlegt, was ich als nächstes erledigen soll. Seit zwei Tagen war ich nicht mehr in meiner Bude, sondern habe auf Sofas, Matratzen und Böden in dem einen oder anderen Unterschlupf der Cutters gepennt. Ich hatte eine und nur eine Gelegenheit, mich mit meinem Taschencomputer ins UOL einzuklinken. Natürlich habe ich sie genutzt, um die harmlose Botschaft aufzugeben, die »Ich brauche sofort ein Treffen. Meldet euch, habt ihr verstanden?« oder irgend so einen Drek bedeutet. Aber ich bin noch nicht dazu gekommen, nach einer Antwort zu suchen.

Das heißt, bis vor einer kleinen Weile. Vor etwa einer Stunde um kurz vor 0130 und mitten im schlimmsten nächtlichen Wolkenbruch, den Seattle in diesem Jahr erlebt hat, ist Blake aus seinem Privatquartier gekommen, während ich an der Wand lehnte und vor mich hin döste. Ich nehme an, ich muß seine Anwesenheit gespürt haben - vielleicht habe ich auch nur die Tür gehört. Jedenfalls bin ich aufgesprungen, als hätte ich Federn unter den Füßen, und rechnete schon mit einem Anschiß, weil ich während der Arbeit eingeschlafen war.

Jeder andere Boss hätte mir vermutlich wegen Vernachlässigung meiner Pflichten den Kopf abgerissen. Doch Blake tut niemals, was jeder andere Boss tun würde. Anstatt mich anzuschnauzen, kicherte er nur leise. »Nimm dir vierundzwanzig Stunden frei«, sagte er zu mir. Dann fügte er nach einem Blick auf seine Armbanduhr hinzu: »Oder mach zweiundzwanzigein-halb daraus. Melde dich morgen um Mitternacht wieder. Verstanden?«

Also erwiderte ich: »Verstanden« und ging nach unten zu meinem Motorrad.

Ich wollte schlafen. Ich sehnte mich danach zu schlafen. Aber ich mußte mich zuerst ins UOL einschalten, um festzustellen, ob in den nächsten zwanzig Stunden ein Treffen improvisiert werden konnte. Natürlich konnte ich das nicht im Unterschlupf der Cutters erledigen. Blake wußte, daß ich völlig erledigt war, und was tut jemand, der völlig erledigt ist, wenn er frei bekommt? Er schaltet sich jedenfalls nicht in ein BTX-Sy-stem ein, soviel ist sicher. Blake würde zu Ohren kommen, daß ich es aus irgendeinem Grund im Moment für wichtiger hielt, mit Gott und der Welt in Verbindung zu treten, als zu schlafen, und er würde sich fragen, warum. Derartige Fragen hätten mir gerade noch gefehlt. Also hieß es, ab zum Motorrad, den Motor anlassen - natürlich erst, nachdem ich nach etwaigen Überraschungen gesucht hatte. Nicht, daß ich mit Ärger rechnete, aber nachdem ich gesehen habe, wie ein paar Kulis Rangers Überreste von den Hauswänden abwuschen, neige ich doch dazu, etwas vorsichtiger zu sein. Dann fuhr ich zum Wenonah.

Als ich auf die 60. Straße Nordost biege, haben Regen und Wind meinen Kopf bis zu einem gewissen Grad geklärt - und es reicht gerade, um mir deutlich vor Augen zu führen, wie mies ich mich fühle. Ich parke den Hobel in der Hintergasse und kette ihn am Gasometer des Hauses fest. Dann schließe ich die metallene Hintertür des Hauses auf, verschließe sie wieder hinter mir und gehe die schmale Treppe zum ersten Stock hinauf. Der Flur - ebenso schmal wie die Treppe - ist leer. Die Tür zu meiner Bude befindet sich am anderen Ende, auf der Vorderseite des Hauses - ich habe sie mir extra wegen des freien Blicks über die Straße und auf die Haustür ausgesucht. Aus Gewohnheit überprüfe ich die Markierungen, die ich immer an der Tür anbringe. Niemand hat sie geöffnet, seitdem ich sie vor ein paar Tagen verschlossen habe. Nicht, daß ich damit gerechnet habe - Barts ungebetener Besuch vor einer Woche war die Ausnahme, nicht die Regel. Ich schließe die Tür auf und gehe durch das kleine Wohnzimmer mit der Kochnische rechts. Ich habe Hunger, doch bei genauerem Nachdenken komme ich zu dem Schluß, daß ich doch dringender schlafen als essen will. Jedenfalls weiß ich genau, daß der Kühlschrank bis auf eine Flasche Wodka und ein paar Becher Joghurt, der sich mittlerweile wahrscheinlich längst in eine neue Lebensform verwandelt hat, sowieso leer ist.

Ich gehe nach links in mein Schlafzimmer und ziehe mir im Gehen meine durchnäßte Jacke aus. Ich werfe sie in Richtung Sessel - verfehle ihn, aber was soll's -und sinke auf mein Bett.

Mein tragbares Telekom steht dort, wo ich es zurückgelassen habe, nämlich auf dem Nachtschränkchen, und ist in die LTG-Buchse in der Wand eingestöpselt. Ich schalte es ein und drücke die Tastenkombination, mit der ich mich in das UCAS Online-System einschalten kann. Während das Gerät die Verbindung herstellt und einen kurzen Händedruck mit den UOL-Mainfra-mes wechselt - irgendwo in Virginia, glaube ich, obwohl das natürlich keine Rolle spielt -, ziehe ich mir die Stiefel aus und kralle die Zehen in den fadenscheinigen Teppich. Ich lege meine H&K mit ihren zwei Reservemagazinen auf den Fußboden neben dem Bett, so daß sie sich in bequemer Reichweite befindet. (Noch einmal: Nicht, daß ich mit Ärger rechne, aber es gibt ein paar Gewohnheiten, die man sich weder abgewöhnen will noch kann.) Das Telekom summt und verkündet, daß es bereit ist.

Auf der Fahrt hierher habe ich mein unverdächtiges »Meldet euch, und zwar schnell« in den Chip in meiner Chipbuchse diktiert. Jetzt werfe ich den Chip aus und schiebe ihn in das dafür vorgesehene Laufwerk im Telekom. Ich rufe das Verzeichnis des Chips auf und vergewissere mich zweimal, daß die Datei, die ich in den Speicher des Telekoms und von dort in das BTX-System kopiere, auch die richtige ist - die unverdächtige Botschaft und nicht der Bericht für den Star, mit dem ich mir eine Kugel in den Kopf einhandeln würde. Darin vergewissere ich mich noch mal. Ich weiß, ich bin müde, und ich weiß, daß müde Leute Fehler machen. Hin einziger falscher Tastendruck, und die falsche Datei wird durch die Datenkanäle des LTG und der Matrix gejagt. Ja, es ist die richtige Datei. Ich bestätige die Datenübertragung.

Ein oder zwei Sekunden später ist meine Botschaft im UOL-Mainframe gespeichert und wartet nur noch darauf, daß sie vom Kontrollpersonal des Star entdeckt und ihre Bedeutimg erkannt wird. Ich weiß, ich sollte meinerseits nachsehen, ob eine Botschaft auf mich wartet, aber im Moment bin ich einfach zu erschlagen. Mein Verstand fühlt sich an, als krabbelten Spinnen hindurch, und meine Augen brennen, als seien sie sandbestrahlt worden. Ich unterbreche die Verbindung.

Das Kopfkissen auf meinem Bett lockt, und sein Sirenengesang ist so stark, daß ich nicht einmal mehr das Telekom ausschalte. Ich schwinge die Beine aufs Bett -es ist kalt in den nassen Jeans, aber ich kann sie jetzt nicht mehr ausziehen - und lasse mich zurücksinken. Die willkommene Schwärze des Schlafs hüllt mich bereits ein, bevor mein Kopf auf dem Kissen liegt.


Wie spät ist es, verdammt noch mal?

Meine Schlafzimmeruhr ist so eingestellt, daß sie eine digitale Zeitanzeige auf die Decke über meinem Bett projiziert. Ich öffne mühsam meine klebrigen Augenlider und schaue nach oben. Ich sehe, daß es 0332 ist, was bedeutet, ich habe weniger als zwei Stunden geschlafen. Warum bin ich aufgewacht?

Darm höre ich das Geräusch wieder, das bis zu meinem schlafenden Verstand durchgedrungen ist und sich mit meinen wirren Träumen vermischt hat: Das beharrliche Klingeln des Telekoms. Drek! Wer, zum Teufel, ruft mich um halb vier Uhr morgens an? Hat denn keiner mehr Respekt vor den Toten?

Der Star kann es nicht sein. Dort würde man mich nicht anrufen, niemals. (Und um in diesem Fall ganz sicher zu gehen, habe ich dafür gesorgt, daß man dort nicht einmal meine Nummer kennt.) Blake hat die Nummer, das gleiche gilt für ein paar höhere Chargen bei den Cutters. Sie könnten mich anrufen, aber warum? Ich habe die nächsten zwanzig Stunden frei, und Blake hat nichts von Bereitschaft erwähnt. Durchaus möglich, daß irgendein Notfall eingetreten ist und er alle Prätorianer braucht, aber von mir aus kann er zum Teufel gehen. Ich beantworte den Anruf nicht. »Verpiß dich«, grunze ich dem Telekom zu. Gehorsam hält es die Klappe. Ich drehe mich um und schließe wieder die Augen.

Dann klopft es an der verdammten Tür. Meine Augen öffnen sich wieder und werfen einen Blick auf die Zeitanzeige. Dort steht 0333, also bin ich noch nicht wieder eingeschlafen.

Und an dieser Stelle meldet sich mein Instinkt, die kleinen Warnglocken in meinem Schädel, meinem Bauch und noch einen halben Meter tiefer. Ich kann förmlich hören, wie sich mein ganzer Körper verkrampft. Irgendwas stimmt hier nicht...

Der Instinkt ist wichtig für jemanden, der undercover arbeitet. Wichtig? Drek, er ist der Unterschied zwischen Leben und Tod. Angeblich bin ich einer der besten verdeckten Ermittler des Star - zumindest erzählen mir das meine Vorgesetzten immer, wenn sie mein Ego hätscheln wollen -, was nichts anderes bedeutet, als daß meine Instinkte zu den besten gehören, die im Rennen sind. Ich weiß nur, daß ich mich voll und ganz auf diese seltsamen Eingebungen verlasse. Und jetzt sagen mir diese Instinkte gerade, daß irgendwas abgeht, und zwar nichts Gutes.

Ein Anruf, dann, eine Minute später, ein Klopfen an der Tür. Zufall? Vielleicht. Aber vielleicht war der Anruf ja auch ein Versuch herauszufinden, ob ich zu Hause bin oder nicht. Als ich mich rücksichtsloserweise dazu entschloß, den Anruf nicht zu beantworten, habe ich den Anrufer damit gezwungen, sich anderer Methoden zu bedienen. Zum Beispiel der, an die verdammte Tür zu klopfen.

Ich schwinge die Beine - eiskalt und steif - vom Bett und greife nach meinem tragbaren Telekom. Das Weno-nah - ›Sicherheitsgebäude‹ hin oder her - hatte niemals Sicherheit für Privatwohnungen: keine Kameras, keine Sensoren, nicht einmal ein Spion in der verdammten Wohnungstür. Aus offensichtlichen Gründen habe ich diesen Zustand kurz nach meinem Einzug geändert. Im Türrahmen über der Tür ist eine winzige Videokamera mit Mikrofon und Verstärkeranlage eingebaut, die ihre Daten auf einer Frequenz weiterleitet, die mein Telekom empfangen kann. Ich drücke die entsprechenden Tasten des Telekoms, wobei ich den Geistern - oder meiner Faulheit oder wem auch immer - danke, daß ich das Ding nicht abgeschaltet habe. Der Bildschirm erhellt sich, und ich kann das sehen, was die winzige versteckte Videokamera sieht.

Vier Gestalten im Flur vor meiner Tür - zwei Männer, zwei Frauen -, und alle tragen eine Kluft, die verdächtig nach gepanzertem Leder aussieht. Keine der Gestalten hat eine Waffe gezogen, aber die Art, wie sie dastehen, hat etwas an sich, das den Lautstärkeregler meiner inneren Alarmsirene noch ein Dutzend Teilstriche in Richtung Anschlag dreht. Sie sind angespannt, sie sind bereit - wofür? Ich kann es mir schon denken. Drek!

Eine der Gestalten - ich halte sie für die Anführerin -steht direkt vor der Tür, und sie hebt gerade die Hand, um noch einmal zu klopfen. Das Weitwinkelobjektiv der Videokamera macht es mir im Verbund mit dem Blickwinkel unmöglich, jemanden zu erkennen.

Die Schnalle klopft schon wieder. Ich springe auf und ziehe den Stecker des Telekoms aus der Buchse. Ich schnappe mir meine H&K und lasse sie ein kurzes Gespräch mit der Elektronik in meinem Schädel führen. Mit der linken Hand hebe ich das Telekom auf und balanciere es wie ein Kellner ein Tablett. Ich schleiche wie ein Geist aus dem Schlafzimmer und ins Wohnzimmer, die Augen auf den Bildschirm gerichtet.

Die Frau auf dem Bild tritt zurück und schüttelt den Kopf. Drei der Gestalten - die Anführerin und die beiden Männer - greifen in ihre Jacken und ziehen Waffen. Meine Instinkte jaulen jetzt mit ohrenbetäubender Lautstärke, aber ich brauche sie nicht mehr. Mein bewußter Verstand weiß, was Sache ist: ein Hit. Versucht eine andere Gang, eine Schlüsselperson der Cutters auszuschalten? Wer, zum Teufel, weiß das schon, und im Moment ist das auch völlig egal. Identitäten können warten.

Auf dem Telekomschirm wendet sich die Anführerin jetzt an die zweite Frau, die keine Waffe gezogen hat. Mit einer geschmeidigen Bewegung hockt sich die zweite Frau im Lotussitz auf den Boden und schließt die Augen.

Schamanin? Magierin? Spielt keine Rolle - es ist Magie, eine andere Erklärung gibt es nicht. Sie macht sich bereit, auf astralem Weg in meine Wohnung einzudringen, um sich dort umzusehen. Wenn sie mich hier findet, ist der Drek wirklich am dampfen.

Die Verzerrung der Linse macht es sehr schwierig, den Standort jeder einzelnen der vier Gestalten relativ zur Tür einigermaßen genau festzulegen, aber wenigstens ist der Flur schmal. Ich reiße die H&K hoch und gebe ihr und der Elektronik einen Sekundenbruchteil Zeit, die Schußlinien zu berechnen.

Beinahe zu lange. Die Magierin reißt die Augen auf, und ich weiß, daß sie mich ›gesehen‹ hat. (Zum Henker, dieser magische Drek ist echt beängstigend.) Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen.

Und ich ziehe durch, richte einen langen, hämmernden Feuerstoß auf die Tür. Auf dem Telekomschirm kann ich erkennen, daß die Anführerin das meiste abbekommt und mehrfach in Brust und Hals getroffen wird. Einen Augenblick später geht sie, Blut spuckend, zu Boden. Ich richte die Waffe auch auf die anderen -was schwerer ist, als es sich anhört, wenn man nicht sieht, worauf man schießt - als versuchte man zu schreiben, während man in einen Spiegel sieht. Einer der Burschen hat seine MP angelegt, und ich gehe instinktiv in die Hocke, während sein Feuerstoß die bereits tote oder fast tote Anführerin endgültig erledigt, dann liegt auch er am Boden. Den zweiten Mann hat es ebenfalls erwischt - obwohl er nicht tot ist, noch nicht. Immerhin fehlt ihm ein Großteil seines Gesichts. Ich gebe einen weiteren, tiefer gezielten Feuerstoß ab und sehe, wie der Kopf der Magierin unter meinem Beschuß bis zur Unkenntlichkeit deformiert wird. Ich lasse das Telekom fallen, schleiche immer noch geduckt vor - Haben sie Rückendeckung? Wenn ja, weiß ich es gleich. - und trete das auf, was noch von der Tür übrig ist.

Der Flur ist ein Schlachthaus und stinkt nach Blut und Drek. Mein Magen verkrampft sich und droht, zu rebellieren; mein Herz fühlt sich an, als hätte es sich in einen Eisklumpen verwandelt. Ich will, daß mir übel ist, ich will schreien, aber ich darf es nicht zulassen. Ich reiße mich zusammen und schalte die Gefühle ab. Lasse den Verstand alles regeln, aber schließe das Herz von der Party aus. Vorerst. Ich kann mir eine nervöse Reaktion später leisten. Jetzt sehe ich mich erst mal eiskalt und seelenlos um.

Die vier sind erledigt - wenn der zweite Mann doch noch nicht tot ist, gibt es nichts, was irgend jemand noch für ihn tun kann. Ich höre Schreie und beunruhigte Rufe aus den umliegenden Wohnungen, aber niemand unternimmt etwas Hirnverbranntes wie zum Beispiel, die Wohnungstür zu öffnen. Den Göttern sei Dank für die kleinen Freuden, aber ich weiß, mehr ist es auch nicht. In meiner näheren Umgebung hämmern gerade ein Dutzend oder noch mehr Finger die Nummer 911 in die Tasten ihres Telekoms und rufen meinen Verein.

Drek, und dabei mochte ich das Wenonah eigentlich ganz gerne.

Die Zeit ist mein Feind, das weiß ich. Lone Star fährt in der Ravenna-Gegend nicht regelmäßig Streife, aber es gibt Streifen. Vielleicht ist der nächste Streifenwagen nur ein paar Blocks entfernt. Schlimmer, das Killerkommando kann draußen Rückendeckung haben, und wenn ja, hat diese die Schüsse zweifellos mitbekommen und stürmt wahrscheinlich gerade die Treppe zum ersten Stock hinauf. Und wenn das noch nicht reicht, irgendwann wird jemand - möglicherweise mit einer unangenehmen Überraschung im Anschlag - seine Wohnungstür öffnen, um nachzusehen, was, zum Henker, eigentlich los ist. Ich muß machen, daß ich wegkomme - sofort.

Wieder im Schlafzimmer, setze ich mich aufs Bett und ziehe mir die Stiefel an. Schnappe mir meine Lederjacke, die auf dem Boden liegt...

Drek, fast hätte ich meine Brieftasche mit den Kred-stäben vergessen, darunter auch ein ganz besonderer, der, wenn ich den richtigen Code eingebe, Zugang zu der Notreserve hat, die der Star für mich eingerichtet hat. (Was von entscheidender Bedeutung ist. Meine persönlichen Konten sind praktisch so gut wie leer, wie es meiner Tarnung entspricht.) Ins Wohnzimmer, dann durch das Schlachthaus draußen. Ich bewege mich rasch, aber geschmeidig. Niemals rennen, wenn man es nicht vermeiden kann. Man stolpert nicht so leicht und kriegt auch eher mit, was um einen herum vorgeht. An den ersten drei Leichen vorbei und über die Magierin mit den Kopfschüssen hinweg...

Dann bleibe ich wie angewurzelt stehen. Dem Kopf der Magierin fehlt zwar die Schädeldecke, aber ihr Gesieht ist noch einigermaßen kenntlich. Ich erkenne es, und dieses Erkennen dreht ein Messer der Furcht in meinen Eingeweiden herum.

Es ist Maria, die Schlangenschamanin, die in meinem Team war, als wir das Depot der Eighty-Eights überfallen haben. Ganz tief drinnen weiß ich bereits, was mich erwartet, als ich mir ansehe, was von den anderen Gesichtern noch übrig ist. Ich erkenne sie alle, jedes einzelne.

Es sind Cutters.