So endet der Lebensbericht von Daniel1; ich bedauerte dieses jähe Ende. Seine ganz am Schluß entwickelten Zukunftsvisionen von der Psychologie der Gattung, die die Menschheit ersetzen würde, waren ziemlich erstaunlich; wenn er sie weiter ausgeführt hätte, hätten wir ihnen, so scheint mir, nützliche Hinweise entnehmen können.
Meine Vorgänger teilen diese Einschätzung nicht. Ein zwar aufrichtiger, aber ziemlich beschränkter, bornierter Mensch, an dem die Beschränkungen und Widersprüche, die seine Gattung ins Verderben führen sollten, deutlich zum Ausdruck kamen: So lautet das strenge Urteil, das sie in Anlehnung an Vincent1 recht einhellig über unseren gemeinsamen Vorfahren abgegeben haben. Wenn er länger gelebt hätte, behaupten sie, wäre er angesichts der Aporien, die seine Natur kennzeichneten, weiterhin zyklothymen Schwankungen zwischen Mutlosigkeit und Hoffnung ausgesetzt gewesen und gleichzeitig in einen Zustand zunehmender Verlassenheit verfallen, die mit dem Altern und dem Verlust der vitalen Energie verbunden war; sein letztes Gedicht, das er während des Flugs von Almeria nach Paris geschrieben hatte, ist, wie sie bemerken, derart symptomatisch für die geistige Verfassung der Menschen zu jener Zeit, daß es als Motto für Verlassenheit, Senior-Attitüde, das klassische Werk von Hatchett und Rawlins, hätte dienen können.
Mir war durchaus klar, wie stichhaltig ihre Argumente waren, und ich muß zugeben, daß ich nur aufgrund einer leisen, kaum spürbaren Intuition versucht habe, mehr über die Sache zu erfahren. Esther31 weigerte sich zunächst strikt, auf meine Bitte einzugehen. Selbstverständlich hatte sie den Lebensbericht von Esther1 gelesen und sogar ihren Kommentar dazu beendet; aber es schien ihr nicht angebracht, daß ich darin Einblick nahm.
»Wissen Sie …«, schrieb ich ihr (wir waren schon seit langem in den nicht-visuellen Modus übergegangen), »ich stehe meinem Vorfahren nicht sonderlich nah …«
»Man steht den eigenen Vorfahren immer näher, als man glaubt«, erwiderte sie ziemlich barsch.
Ich begriff nicht, was sie auf den Gedanken brachte, daß diese Geschichte, die sich vor zweitausend Jahren abgespielt hatte und Menschen des früheren Geschlechts betraf, noch heute irgendeinen Einfluß haben könne. »Sie hat aber eine Wirkung, und zwar eine ausgesprochen negative …«, war ihre rätselhafte Antwort.
Doch ich ließ nicht locker, bis sie schließlich nachgab und mir berichtete, was sie über die letzten Wochen der Beziehung zwischen Daniel1 und Esther1 wußte. Am 23. September, zwei Wochen nachdem er seinen Lebensbericht beendet hatte, rief er sie an. Sie haben sich letztlich nie wiedergesehen, aber er hat sie noch mehrfach angerufen; sie antwortete zunächst sanft, aber sehr bestimmt, daß sie ihn nicht wiedersehen wolle. Als er feststellte, daß er so nichts erreichte, ging er dazu über, ihr SMS-Nachrichten und dann E-Mails zu schicken, und schließlich verlor er ganz den Kontakt zu ihr, was ihm einen harten Schlag versetzte. Als er feststellte, daß er nicht mehr die geringste Chance hatte, eine Antwort zu erhalten, räumte er Esther ganz offen eine völlige sexuelle Freiheit ein und gratulierte ihr sogar dazu, dann machte er immer mehr unanständige Anspielungen, rief ihr die erotischsten Momente ihrer Beziehung ins Gedächtnis, schlug ihr vor, sie könnten gemeinsam Swingerclubs besuchen, frivole Videofilme drehen und neue Erfahrungen machen; es war richtig ergreifend und ein wenig abstoßend. Am Schluß schrieb er ihr zahlreiche Briefe, die unbeantwortet blieben. »Er hat sich erniedrigt…«, kommentierte Esther31, »er hat sich auf die widerlichste Weise in der Erniedrigung gesuhlt. Er hat ihr sogar Geld angeboten, viel Geld, um noch einmal eine Nacht mit ihr zu verbringen; das war schon deswegen völlig absurd, weil sie inzwischen als Schauspielerin selbst ziemlich viel verdiente. Ganz zuletzt fing er an, in der Nähe ihrer Wohnung in Madrid herumzulungern — sie ist ihm mehrfach in Bars begegnet und bekam allmählich Angst. Sie hatte damals gerade einen neuen Freund, mit dem sie sich in jeder Hinsicht gut verstand — sie verspürte große Lust, wenn sie sich liebten, was mit Ihrem Vorgänger nie wirklich der Fall gewesen war. Sie hatte sogar erwogen, sich an die Polizei zu wenden, aber er begnügte sich damit, durch ihr Viertel zu streifen, ohne je zu versuchen, mit ihr in Kontakt zu treten, und schließlich ist er verschwunden.«
Ich war nicht überrascht, all das entsprach durchaus dem, was ich über die Persönlichkeit von Daniel1 wußte. Ich fragte Esther31, was anschließend geschehen sei — wobei mir völlig klar war, daß ich auch hier die Antwort schon kannte.
»Er hat sich umgebracht. Er hat sich umgebracht, nachdem er sie in einem Film gesehen hat, Una mujer desnuda, in dem sie die Titelrolle spielte — es war eine Verfilmung des Romans einer jungen Italienerin, der damals ziemlich viel Erfolg hatte und in dem sie schilderte, wie sie zahllose sexuelle Erfahrungen gemacht hatte, ohne je die geringste Gefühlsregung dabei zu empfinden. Ehe er sich umbrachte, schrieb er ihr noch einen letzten Brief, in dem er seinen geplanten Selbstmord mit keinem Wort erwähnte (sie erfuhr erst aus der Presse davon); ganz im Gegenteil, es war ein Brief in fröhlichem, fast euphorischem Ton, in dem er seine Zuversicht ausdrückte, was die Zukunft ihrer Liebe und die Lösung der oberflächlichen Probleme anging, die seit ein oder zwei fahren ihre Beziehung trübten. Dieser Brief hat einen katastrophalen Einfluß auf Marie23 gehabt und sie dazu veranlaßt, fortzugehen; er war der Grund dafür, daß sie sich ausmalte, es habe sich irgendwo eine Gemeinschaft von Menschen oder Neo-Menschen gebildet — so genau wußte sie das nicht —, und dafür, daß sie eine neue Form individueller Beziehungen entdeckte und zu der Überzeugung kam, die radikale Trennung, die unter uns üblich ist, könne schon jetzt abgeschafft werden, ohne die Ankunft der Zukünftigen abzuwarten. Ich habe versucht, sie zur Vernunft zu bringen, und ihr erklärt, daß dieser Brief nur eine Beeinträchtigung der geistigen Fähigkeiten Ihres Vorgängers erkennen ließ und ein letzter, verzweifelter Versuch war, die Realität zu leugnen; daß diese ewige Liebe, von der er sprach, nur in seiner Phantasie existierte und Esther ihn in Wirklichkeit nie geliebt hatte. Doch es half alles nichts; Marie23 schrieb diesem Brief und besonders dem Gedicht, mit dem er endet, eine ungeheure Bedeutung zu.«
»Und Sie sind da anderer Ansicht?«
»Ich muß zugeben, daß es ein erstaunlicher Text ist, ohne jede Ironie und ohne jeden Sarkasmus, ganz anders, als man es sonst von ihm gewohnt ist; ich finde den Text sogar recht ergreifend. Aber das ist noch längst kein Grund, ihm eine solche Bedeutung beizumessen … Nein, ich bin nicht einverstanden. Marie23 war wahrscheinlich selbst nicht sehr ausgeglichen; anders kann ich es mir nicht erklären, weshalb sie den letzten Vers als eine konkrete, verwertbare Information interpretiert hat.«
Esther31 hatte sicherlich mit meiner anschließenden Bitte gerechnet, denn es dauerte nur zwei Minuten — in der sie den Text eingab —, bis ich das letzte Gedicht entdeckte, das Daniel an Esther richtete, bevor er sich umbrachte; ebenjenes Gedicht, das Marie23 dazu veranlaßt hatte, ihr Haus, ihre Gewohnheiten und ihr bisheriges Leben aufzugeben, um sich auf die Suche nach einer hypothetischen neo-menschlichen Gemeinschaft zu machen:
Mein Leben, mein altes, uraltes Leben
Mein erster schlecht verheilter Wunsch
Meine erste gescheiterte Liebe
Mit Sehnsucht habe ich dich erwartet.
Mit Sehnsucht wollte ich das kennenlernen,
Was das Leben an Schönstem birgt,
Wenn zwei Körper das höchste Glück erfahren,
Sich vereinigen und stets neugeboren werden.
Meine Abhängigkeit ist grenzenlos,
Ich kenne das Beben des Seins,
Das Zaudern zu verschwinden,
Die Sonne, die die Ränder auf dem Feldrain trifft
Und die Liebe, die alles so leicht macht,
Dir alles schenkt, und zwar sogleich;
Es gibt in der Mitte der Zeit
Die Möglichkeit einer Insel.