Als ich wieder in San Jose war, machte ich weiter, das ist so ziemlich alles, was sich darüber sagen läßt. Für einen Selbstmord verlief die Sache im Grunde genommen recht gut, und mit erstaunlicher Leichtigkeit beendete ich im Juli und im August die Arbeit an meinem Bericht, obwohl die Ereignisse, die ich schilderte, zu den bedeutsamsten und schrecklichsten meines Lebens gehörten. Ich war auf dem Gebiet der Autobiographie als Autor ein Anfänger, strenggenommen war ich gar kein Autor, und das erklärt wahrscheinlich, warum mir im Laufe dieser Tage nie richtig bewußt geworden ist, daß die Tatsache, daß ich schrieb, mir die Illusion vermittelte, die Ereignisse unter Kontrolle zu haben, und so verhinderte, daß ich zu dem wurde, was die Psychiater in ihrem bezaubernden Jargon einen schwierigen Fall nennen. Wie durch ein Wunder ist mir überhaupt nicht klar geworden, daß ich mich am Rand eines Abgrunds bewegte, dabei hätten mich meine Träume warnen müssen. Esther tauchte immer öfter in ihnen auf, immer liebevoller und frivoler, und sie nahmen eine naiv-pornographische Wendung, eine Wendung hin zu authentischen Hungerträumen, die nichts Gutes versprachen. Ab und zu war ich natürlich gezwungen, das Haus zu verlassen, um Bier und Zwieback zu kaufen, im allgemeinen ging ich auf dem Rückweg am Strand entlang, und selbstverständlich begegnete ich nackten Mädchen, sogar sehr vielen: Nachts fand ich sie dann in erschütternd unwirklichen Orgien wieder, die Esther veranstaltete und bei denen ich den Mittelpunkt bildete. Ich dachte immer öfter an die bei Greisen üblichen unwillkürlichen nächtlichen Samenergüsse, die die Pflegerinnen zur Verzweiflung bringen — wobei ich mir jedoch ständig sagte, daß ich es nicht soweit kommen lassen und rechtzeitig Schluß machen würde, da ich ja immerhin eine gewisse Würde besäße (wofür es jedoch in meinem bisherigen Leben kein einziges Beispiel gab). Vielleicht war es doch gar nicht so sicher, daß ich Selbstmord begehen würde, vielleicht gehörte ich zu den Menschen, die bis zum Schluß ihre Umgebung nerven, vor allem da ich genug Kohle hatte, um eine beachtliche Anzahl von Leuten zu nerven. Ich haßte die Menschheit, das stand fest, ich hatte sie von Anfang an gehaßt, und da das Unglück bösartig macht, haßte ich sie heute noch viel mehr. Gleichzeitig war ich zu einem harmlosen Hündchen geworden, das sich von einem Stück Zucker besänftigen ließ (ich dachte nicht einmal unbedingt an Esthers Körper, ich hätte mich mit allem zufriedengegeben: mit einer Brust, einem Schamhügel); aber niemand würde mir das Stück Zucker reichen, und es sah so aus, als würde ich mein Leben so beenden, wie ich es begonnen hatte: mutterseelenallein und voller Wut, in einem Zustand haßerfüllter Panik, die noch durch die sommerliche Hitze verstärkt wurde. Weil die Menschen einmal der Tierwelt angehört haben, sprechen sie noch heute so oft über das Wetter und das Klima: das ist eine primitive Erinnerung, die die Sinnesorgane geprägt hat und mit den Überlebensbedingungen vorgeschichtlicher Zeiten verbunden ist. Diese begrenzten, stereotypen Gespräche sind jedoch noch immer das Zeichen für ein echtes Problem: Obwohl wir in Häusern wohnen, in denen wir aufgrund einer erprobten, zuverlässigen Technik die Garantie stabiler klimatischer Bedingungen haben, sind wir unfähig, uns von diesem tierischen Atavismus zu lösen; daher können wir uns unserer Schändlichkeit und unseres Unglücks wie ihres endgültigen, unumstößlichen Charakters paradoxerweise nur dann wirklich bewußt werden, wenn die klimatischen Bedingungen dafür günstig genug sind.
Nach und nach näherte sich die Zeit des Berichts der Zeit meines wirklichen Lebens; am 17. August brachte ich bei furchtbarer Hitze meine Erinnerungen an die Geburtstagsparty in Madrid zu Papier — die auf den Tag genau ein Jahr zuvor stattgefunden hatte. Meinen letzten Aufenthalt in Paris und Isabelles Tod erwähnte ich nur ganz kurz: All das schien mir schon auf den vorangegangenen Seiten enthalten zu sein, es war gewissermaßen nur eine logische Folge daraus und gehörte in den Bereich des allgemeinen Schicksals der Menschheit, ich dagegen wollte Pionierarbeit leisten und etwas Neues, Aufsehenerregendes beitragen.
Die Lüge war mir jetzt in ihrem ganzen Ausmaß ersichtlich: Sie dehnte sich auf alle Bereiche des menschlichen Daseins aus und war auf der ganzen Welt verbreitet. Die Philosophen hatten sie ausnahmslos akzeptiert und fast alle Literaten, sie war vermutlich für das Überleben der Spezies erforderlich, und Vincent hatte recht: Mein Lebensbericht würde, sobald er verbreitet und kommentiert worden war, mit der Menschheit, so wie wir sie kannten, Schluß machen. Mein Auftraggeber, um einen Begriff der Mafia zu verwenden (schließlich handelte es sich ja tatsächlich um ein Verbrechen und sogar buchstäblich um ein Verbrechen gegen die Menschheit), konnte zufrieden sein. Der Mensch würde eine andere Richtung einschlagen; er würde sich verwandeln.
Ehe ich meinen Bericht abschloß, dachte ich noch ein letztes Mal an Vincent zurück, der mich zu diesem Buch angeregt und als einziger in mir ein Gefühl erweckt hatte, das meiner Natur ziemlich fremd war: Bewunderung. Mit Recht hatte Vincent in mir die Fähigkeiten zu einem Spion und zu einem Verräter entdeckt. Es hatte schon viele Spione, viele Verräter in der Geschichte der Menschheit gegeben (so viele aber auch wieder nicht, nur in regelmäßigen Abständen den einen oder den anderen, dagegen war es auffällig, daß sich die Menschen meistens wie brave Tiere verhalten hatten, genauso bereitwillig wie ein Rind, das fröhlich auf den Lastwagen geht, der es zum Schlachthof bringt); aber ich war vermutlich der einzige, der in einer Zeit lebte, in der die technischen Voraussetzungen es ermöglichten, meinem Verrat eine tragende Wirkung zu verleihen. Ich würde im übrigen dadurch, daß ich die Sache in Begriffe faßte, eine unabwendbare historische Entwicklung nur beschleunigen. Die Menschen würden in zunehmendem Maß den Wunsch haben, in völliger Freiheit zu leben, verantwortungslos und ständig auf der Suche nach Sinnengenüssen; sie würden so leben wollen, wie es die kids in ihrer Mitte bereits taten, und wenn sich das Alter mit seiner ganzen Last bemerkbar machte und sie nicht mehr imstande waren, den Kampf weiterzuführen, würden sie sich das Leben nehmen; aber vorher würden sie der elohimitischen Kirche beitreten, ihren genetischen Code speichern lassen und so in der Hoffnung sterben können, dieses dem Genuß geweihte Dasein ewig fortzusetzen. Das war die Richtung, in die dieser historische Prozeß gehen würde, zumindest auf lange Sicht, und zwar nicht nur im Westen; die westliche Welt leistete nur die Vorarbeit, wies den Weg, so wie sie es seit dem Ende des Mittelalters getan hatte.
Und dann würde das Menschengeschlecht in seiner gegenwärtigen Form verschwinden; dann würde eine neue Gattung entstehen, die man noch nicht benennen konnte und die vielleicht schlimmer, vielleicht besser sein würde, deren Ehrgeiz aber begrenzter sein und die auf jeden Fall ruhiger sein würde: Man sollte nicht unterschätzen, welche Folgen die frenetische Ungeduld für die Geschichte der Menschheit gehabt hat. Vielleicht hatte Hegel, dieser ungehobelte Dummkopf, doch recht, vielleicht war ich eine List der Vernunft. Es war unwahrscheinlich, daß die Gattung, die uns folgen würde, in ebensolchem Maß eine soziale Gattung war wie wir. Seit meiner Kindheit hatte ich immer einen Gedanken gehört, der alle Diskussionen beendete, alle Meinungsverschiedenheiten glättete, ein Gedanke, der fast immer einen absoluten, ruhigen, unbestrittenen Konsens ausgelöst hatte und der sich etwa folgendermaßen zusammenfassen ließ: »Der Mensch kommt allein auf die Welt, lebt allein und stirbt allein.« Dieser Satz, der sogar einfältigen Geistern einleuchtete, wurde auch von scharfsinnigen Denkern als Fazit gezogen; er rief bei allen Gelegenheiten einhellige Zustimmung hervor, und sobald diese Worte ausgesprochen waren, hatte jeder das Gefühl, als habe er noch nie etwas gehört, das so schön, so tiefsinnig und so zutreffend war — unabhängig vom Alter, vom Geschlecht und von der gesellschaftlichen Stellung der Gesprächspartner. Das traf schon auf meine Generation zu, aber noch stärker auf Esthers Altersgenossen. Diese Einstellung konnte auf lange Sicht kaum eine starke Gemeinschaftsfähigkeit begünstigen. Die Zeit der Gemeinschaftsfähigkeit war vorbei, sie hatte eine wichtige Rolle innerhalb der Geschichte gespielt; sie war in den Anfängen, als sich die menschliche Intelligenz herausbildete, unentbehrlich gewesen, aber heute war sie nur noch ein unnützes, störendes Überbleibsel. Der Sexualität erging es seit der allgemeinen Verbreitung der künstlichen Befruchtung ebenso. »Onanieren bedeutet, mit jemandem einen Geschlechtsakt zu haben, den man wirklich liebt« — dieser Satz wurde verschiedenen Persönlichkeiten zugeschrieben, von Keith Richards bis zu Jacques Laçan; auf jeden Fall war er in dem Moment, in dem er ausgesprochen wurde, seiner Zeit voraus und konnte daher keine nachhaltige Wirkung erzielen. Der Geschlechtsverkehr würde im übrigen sicherlich noch eine Weile weiterbestehen, und zwar als Grundlage für die Werbung und als Prinzip narzißtischer Differenzierung, wobei er jedoch immer mehr einer Gruppe von Spezialisten, einer erotischen Elite vorbehalten sein würde. Der narzißtische Kampf würde solange dauern, wie sich bereitwillige Opfer dafür finden ließen, die darin ihre Ration Demütigung suchten, er würde vermutlich ebenso lange dauern wie die Gemeinschaftsfähigkeit selbst und würde wohl deren letztes Überbleibsel sein, aber schließlich doch verschwinden. Was die Liebe anging, so konnte man nicht mehr auf sie zählen: Ich war vermutlich einer der letzten Männer meiner Generation gewesen, dessen Eigenliebe gering genug war, um imstande zu sein, jemand anderen zu lieben, wenn auch nur sehr selten: genau zweimal in meinem Leben. Wenn man individuelle Freiheit und Unabhängigkeit anstrebt, ist keine Liebe möglich, alles andere ist eine Lüge, und zwar eine der größten Lügen, die je ersonnen worden sind; Liebe ist nur dann möglich, wenn der Wunsch nach Zerstörung, nach Verschmelzung, nach individueller Selbstaufgabe vorhanden ist, und zwar in einem gewissen ozeanischen Gefühl, wie man früher sagte, also in etwas, das es sowieso in naher Zukunft nicht mehr geben wird.
Drei Jahre zuvor hatte ich in Gente Libre ein Foto ausgeschnitten, auf dem der Penis eines Mannes, von dem man nur das Becken sah, halb und sozusagen in aller Ruhe in der Scheide einer etwa fünfundzwanzigjährigen Frau mit langen kastanienbraunen Locken steckte. Alle Fotos dieser Zeitschrift, die sich an »libertäre Paare« richtete, drehten sich mehr oder weniger um das gleiche Thema; warum hatte mich dieses Bild so fasziniert? Die junge Frau, die, auf Knie und Unterarme gestützt, auf dem Boden hockte, hatte das Gesicht der Kamera zugewandt, als sei sie durch diese unerwartete Penetration überrascht, die in einem Augenblick geschah, in dem sie an etwas völlig anderes dachte, zum Beispiel daran, ihren Fliesenboden zu reinigen; sie schien im übrigen angenehm überrascht zu sein, ihr Blick verriet eine naive, unpersönliche Befriedigung, als reagierten ihre Schleimhäute und nicht ihr Verstand auf diesen unvorhergesehenen Kontakt. Ihre Scheide als solche wirkte geschmeidig und weich, wohlproportioniert und gut zugänglich, auf jeden Fall war sie angenehm geöffnet und vermittelte den Eindruck, sich je nach Bedarf leicht öffnen zu können. Diese freundliche, unproblematische, sozusagen auf Förmlichkeit verzichtende Aufnahmebereitschaft war jetzt alles, was ich von der Welt erwartete, wie mir Woche für Woche klar wurde, wenn ich dieses Foto betrachtete; mir wurde gleichzeitig klar, daß es mir nie mehr gelingen würde, sie zu bekommen, ich nicht einmal wirklich den Versuch dazu machte, und daß Esthers Abreise kein schmerzhafter Übergang, sondern das absolute Ende für mich war. Möglich, fast sicher, daß sie inzwischen aus den USA zurückgekehrt war, denn es erschien mir unwahrscheinlich, daß sie als Pianistin Karriere gemacht hatte, dazu verfügte sie weder über das nötige Talent noch die dazugehörige Dosis Größenwahn, sie war im Grunde ein äußerst vernünftiges kleines Wesen. Für mich änderte es sowieso nichts, ob sie zurückgekehrt war oder nicht, das wußte ich, denn sie hatte bestimmt keine Lust, mich wiederzusehen, für sie war die Geschichte mit mir abgeschlossen, und, ehrlich gesagt, war auch für mich die Geschichte mit mir abgeschlossen, allein schon der Gedanke, wieder eine öffentliche Karriere zu beginnen oder, allgemeiner gesagt, eine Beziehung zu meinen Mitmenschen zu unterhalten, war mir inzwischen unerträglich geworden. Esther hatte mich buchstäblich ausgelaugt, meine letzten Kräfte verbraucht, und jetzt war ich ganz einfach am Ende; sie hatte mich glücklich gemacht, mich aber auch, wie ich es von Anfang an gespürt hatte, dem Tod einen Schritt näher gebracht. Diese Vorahnung hatte mich im übrigen nicht zögern lassen, denn es stimmt, daß man seinem Tod begegnen, ihm wenigstens einmal ins Auge blicken muß; das weiß im Grunde jeder von uns und auch, daß es letztlich vorzuziehen ist, wenn der Tod nicht im üblichen Gewand der Langeweile und der Hinfälligkeit daherkommt, sondern wider Erwarten in dem der Lust.