»Gott gibt es, ich bin reingetreten.«
anonym
Von meinem ersten Aufenthalt bei den Sehr Gesunden ist mir vor allem ein Skilift im Nebel in Erinnerung geblieben. Der Sommerlehrgang fand in Herzegowina oder so einer ähnlichen Region statt, die vor allem für ihre blutigen Konflikte bekannt ist. Dabei war das alles sehr nett, die Berghütten, der Gasthof aus dunklem Holz mit rotweißkarierten Vorhängen und Wildschwein- oder Hirschköpfen als Wandschmuck, richtig zentraleuropäischer Kitsch, der mir immer gefallen hat. »Ach, der Krieg, ein Wahnsinn des Menschen, so ein Malheur …«, sagte ich mir und ahmte dabei unwillkürlich die Stimme von Francis Blanche nach. Ich war seit langem Opfer einer Art geistiger Echolalie, bei der ich aber nicht bekannte Melodien wiederholte, sondern die Intonation berühmter Komiker: Wenn ich zum Beispiel hörte, wie Francis Blanche in Babette zieht in den Krieg »KOL-LOS-SALE SCHIES-SE-REI!« sagt, fiel es mir schwer, das wieder aus meinem Kopf zu kriegen, ich mußte mich sehr anstrengen. Mit Louis de Funès war es noch schlimmer: Seine Stimmlage, seine Mimik, seine Gesten verfolgten mich stundenlang, ich war wie besessen.
Im Grunde hatte ich viel gearbeitet, sagte ich mir, ich hatte mein ganzes Leben lang ununterbrochen gearbeitet. Den Schauspielern, die ich mit zwanzig kennengelernt hatte, war kein Erfolg vergönnt, das stimmt, die meisten von ihnen hatten sogar den Beruf gewechselt, aber man muß auch dazusagen, daß sie fast nichts getan hatten, sie verbrachten ihre Zeit damit, in Bars oder Schickimicki-Lokalen herumzusitzen und einen zu trinken. Währenddessen saß ich allein in meinem Zimmer und übte stundenlang meine Sketche ein, bis jede Stimmlage, jede Geste stimmte. Außerdem schrieb ich meine Sketche selbst, ich schrieb sie tatsächlich, es hat Jahre gedauert, ehe mir das etwas leichter fiel. Vermutlich arbeitete ich so viel, weil ich nicht fähig war, mich zu zerstreuen, und mich in Bars oder Schickimicki-Lokalen nicht wohl gefühlt hätte, ebensowenig wie auf Cocktailparties von Modeschöpfern oder bei VIP-Veranstaltungen; mit meinem gewöhnlichen Aussehen und meinem introvertierten Temperament hatte ich wenig Chancen, auf Anhieb der King der Fete zu sein. Ich hatte also gearbeitet, weil mir nichts anderes übrig blieb, und ich hatte meine Revanche gehabt. In meiner Jugend war ich im Grunde ähnlich eingestellt gewesen wie Ophelie Winter, als sie im Hinblick auf ihre Umgebung gesagt hatte: »Lacht ruhig, ihr blöden Ärsche. In ein paar Jahren stehe ich auf dem Podium, und dann stecke ich euch alle in die Tasche.« Das hatte sie in einem Interview in 20 Ans erklärt.
Ich mußte endlich aufhören, an 20 Ans zu denken, und mußte auch aufhören, an Isabelle zu denken; ich mußte im Grunde aufhören, überhaupt an irgend etwas zu denken. Ich ließ meinen Blick auf den feuchten grünen Hängen ruhen und versuchte nur noch den Nebel zu sehen — der Nebel hatte mir immer geholfen. Die Skilifte im Nebel. Zwischen zwei ethnischen Kriegen brachten sie es also fertig, Ski zu laufen — na ja, man muß ja seine Streckmuskeln trainieren, sagte ich mir und dachte mir einen Sketch mit zwei Folterern aus, die in einem Zagreber Fitneßcenter Tips austauschten, wie man sich in Form hielt. Das war zuviel, ich konnte es einfach nicht lassen: Ich war ein Clown, ich würde ein Clown bleiben, und ich würde als Clown verrecken — haßerfüllt und unter Zuckungen.
Ich nannte im stillen die Elohimiten die Sehr Gesunden, weil sie tatsächlich sehr gesund lebten. Sie wollten nicht altern; aus diesem Grund rauchten sie nicht, nahmen Mittel gegen freie Radikale und andere Sachen ein, die man im allgemeinen in Reformhäusern findet. Drogen waren eher verpönt. Alkohol in Form von Rotwein war erlaubt — zwei Gläser pro Tag. Sie waren ziemliche Schonkostfreaks, wenn man so will. Diese Anweisungen, wie der Prophet nachdrücklich erklärte, hatten keinerlei moralischen Hintergrund. Die Gesundheit, das war das Ziel. Alles, was gesund war, und insbesondere alles, was mit Sex zu tun hatte, war erlaubt. Auf ihrer Website und in den Broschüren kam das deutlich zum Ausdruck: netter, etwas fader Kitsch, beeinflußt von den Präraffaeliten, mit einem Hang zu dicken Titten im Stil von Walter Girotto. Männliche oder weibliche Homosexualität wurde ebenfalls, wenn auch in geringerem Maße, in den Illustrationen berücksichtigt: Der Prophet selbst war eindeutig heterosexuell, hatte aber keinerlei Vorurteile gegen die Homosexualität. Arsch oder Möse — für den Propheten war alles gut. Er empfing mich persönlich, ganz in Weiß gekleidet, mit ausgestreckter Hand auf dem Flughafen von Zwork. Ich war ihr erster richtiger VIP, und daher gab er sich etwas Mühe. Sie hatten bisher nur einen ganz kleinen VIP, einen Franzosen übrigens, einen Künstler namens Vincent Greilsamer. Er hatte immerhin einmal im Centre Beaubourg ausgestellt — aber selbst Bernard Branxene hatte im Centre Beaubourg ausgestellt. Na ja, er war eben ein ganz kleiner VIP, ein VIP der Kategorie Bildende Kunst. Ein netter Mensch im übrigen. Und vermutlich ein guter Künstler, wovon ich gleich überzeugt war, als ich ihn sah. Er hatte ein scharfgeschnittenes, intelligentes Gesicht und einen seltsam durchdringenden, fast mystisch wirkenden Blick; doch er drückte sich ganz normal und intelligent aus, wägte jedes Wort ab. Ich hatte keine Ahnung, was er machte, ob Videos, Rauminstallationen oder sonst was, aber man spürte, daß dieser Typ wirklich arbeitete. Wir beiden waren die einzigen erklärten Raucher —was uns, abgesehen von unserem Status als VIP, einander näherbrachte. Allerdings rauchten wir nicht in Gegenwart des Propheten; aber während der Vorträge gingen wir ab und zu nach draußen, um eine zu qualmen, das wurde bald stillschweigend akzeptiert. Ach ja, die VIPitüde.
Ich hatte gerade Zeit genug, meinen Koffer auszupacken und mir einen löslichen Kaffee aufzugießen, ehe der erste Vortrag begann. Wenn man an den »Lehrveranstaltungen« teilnehmen wollte, gehörte es sich, daß man eine lange weiße Tunika über die normale Kleidung streifte. Ich kam mir natürlich etwas lächerlich vor, als ich das Ding anzog, aber es dauerte nicht lange, bis ich den Vorteil dieser Aufmachung begriff. Das Hotel war ziemlich kompliziert angelegt, mit verglasten Verbindungsfluren zwischen den Gebäuden, Etagen auf halber Höhe, unterirdischen Gängen, und alle Hinweisschilder waren in einer seltsamen Sprache verfaßt, die irgendwie ans Walisische erinnerte und von der ich sowieso kein Wort verstand, so daß ich eine halbe Stunde brauchte, ehe ich den Weg fand. Während dieser Zeit begegnete ich etwa zwanzig Leuten, die wie ich über leere Flure irrten und wie ich lange weiße Gewänder trugen. Als ich im Konferenzsaal ankam, hatte ich den Eindruck, mich auf eine geistige Übung einzulassen — dabei hatte dieses Wort nie einen Sinn für mich gehabt und hatte übrigens noch immer keinen. Die Sache hatte keinen Sinn, aber ich nahm daran teil. Kleider machen Leute.
Der Redner dieses Tages war ein großer, hagerer, kahlköpfiger Typ von eindrucksvollem Ernst — wenn er versuchte, ein scherzhaftes Wort anzubringen, machte mir das eher angst. Ich nannte ihn im stillen Professor, und er war tatsächlich Neurologe an einer Kanadischen Universität. Zu meiner großen Überraschung war das, was er sagte, interessant und manchmal sogar richtig fesselnd. Der menschliche Geist, erklärte er, entwickelte sich durch die Schaffung und fortschreitende chemische Verstärkung neuronaler Netzwerke von unterschiedlicher Größe, die von zwei bis fünfzig oder noch mehr Neuronen reichen konnte. Das menschliche Gehirn umfaßte mehrere Milliarden Neuronen, die Anzahl der Verbindungen und folglich der möglichen Netzwerke war daher unglaublich groß — sie übertraf zum Beispiel bei weitem die Anzahl der Moleküle des Universums.
Die Anzahl der benutzten Netzwerke war von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich, was ihm zufolge eine ausreichende Erklärung für die unzähligen Abstufungen zwischen Dummheit und Genie bot. Noch bemerkenswerter war die Tatsache, daß ein häufig benutztes neuronales Netzwerk infolge von Ionenanhäufungen mit der Zeit immer leichter zu aktivieren war — es gab also so etwas wie eine fortschreitende Selbstverstärkung, und das gelte für alles, für die Gedanken, die Suchtabhängigkeiten, die Launen. Dieses Phänomen ließ sich sowohl an individuellen psychologischen Reaktionen wie auch an gesellschaftlichen Beziehungen nachweisen: Wenn man sich innere Widerstände bewußt machte, wurden sie dadurch verstärkt; wenn man Konflikte zwischen zwei Menschen analysierte, wurden sie dadurch im allgemeinen unlösbar. Professor ging dann zu einem gnadenlosen Angriff auf die Freudsche Theorie über, die nicht nur jeder ernstzunehmenden physiologischen Grundlage entbehrte, sondern darüber hinaus zu dramatischen Ergebnissen führte, also zu dem genauen Gegenteil dessen, was damit bezweckt wurde. Auf der Projektionsfläche hinter ihm verschwanden jetzt die verschiedenen Schemata, die seinen Vortrag illustriert hatten, und statt dessen wurde ein kurzer herzzerreißender Dokumentarfilm über das — manchmal unerträgliche — seelische Leid der Veteranen des Vietnamkriegs gezeigt. Sie konnten nicht vergessen, was sie erlebt hatten, hatten jede Nacht Alpträume, konnten nicht einmal mehr Auto fahren oder ohne fremde Hilfe über die Straße gehen, sie lebten in ständiger Angst, und es schien unmöglich, sie wieder an ein normales Gesellschaftsleben zu gewöhnen. Dann wurde uns der Fall eines gebeugten, runzligen Mannes vorgeführt, der nur noch einen dünnen roten Haarkranz hatte und wie ein Wrack wirkte: Er zitterte ununterbrochen, war nicht mehr imstande, seine Wohnung zu verlassen, und brauchte dauerhafte medizinische Unterstützung; und er litt, er litt unentwegt. In einem Schrank in seinem Eßzimmer bewahrte er einen kleinen Glasbehälter mit Erde aus Vietnam auf; jedesmal, wenn er den Schrank aufmachte und das Glas herausnahm, brach er in Tränen aus.
»Halt«, sagte der Professor. »Halt.« Jetzt war der weinende Greis in Großaufnahme zu sehen. »Schwachsinn«, fuhr der Professor fort. »Der absolute Schwachsinn. Als erstes sollte dieser Mann das Glas mit vietnamesischer Erde nehmen und es aus dem Fenster schmeißen. Jedesmal, wenn er den Schrank aufmacht und das Glas herausnimmt — und das tut er bis zu fünfzig Mal am Tag —, verstärkt er das neuronale Netzwerk und vergrößert dadurch seinen Schmerz. Und auf die gleiche Weise erhöhen wir, immer wenn wir uns unsere Vergangenheit wieder vor Augen führen und auf eine schmerzhafte Begebenheit zurückkommen — und so läßt sich, grob gesagt, die Psychoanalyse zusammenfassen —, die Chancen, sie zu reproduzieren. Statt voranzukommen, geraten wir immer tiefer in den Abgrund. Wenn wir Kummer haben oder eine Enttäuschung erleben, die uns das Leben vergiftet, sollten wir als erstes umziehen, alle Fotos verbrennen und niemandem davon erzählen. Verdrängte Erinnerungen verblassen; das kann eine Weile dauern, aber sie verblassen tatsächlich. Das Netzwerk wird außer Betrieb gesetzt.«
»Irgendwelche Fragen?« Nein, niemand hatte eine Frage. Sein Vortrag, der über zwei Stunden gedauert hatte, war sehr einleuchtend gewesen. Als ich den Speisesaal betrat, sah ich Patrick, der lächelnd und mit ausgestreckter Hand auf mich zukam. Ob ich einen angenehmen Flug gehabt habe und mit dem Zimmer zufrieden sei usw. Während wir uns nett unterhielten, umarmte mich eine Frau von hinten, rieb ihre Scham an meinem Hintern und legte mir die Hände auf den Unterleib. Ich drehte mich um: Fadiah hatte ihre weiße Tunika abgelegt und stand da in einem gefleckten Leoparden-Body aus Nylon; sie schien in Top-Form zu sein. Sie rieb weiter ihre Scham an meinem Körper und erkundigte sich ebenfalls nach meinen ersten Eindrücken. Patrick sah der Szene gutmütig zu. »Ach, das macht sie mit allen …«, sagte er zu mir, während wir auf einen Tisch zugingen, an dem bereits ein breitschultriger Mann um die Fünfzig mit grauem dichtem Haar mit Bürstenschnitt saß. Er stand auf, um mich zu begrüßen, schüttelte mir die Hand und betrachtete mich aufmerksam. Während des Essens sagte er nicht viel, begnügte sich damit, ab und an eine Einzelheit über den technischen Ablauf des Seminars hinzuzufügen, aber ich spürte, daß er mich eingehend musterte. Er hieß Jerôme Prieur, aber ich gab ihm gleich den Spitznamen Flic. Er war die rechte Hand des Propheten, er war der zweite Mann der Organisation (sie nannten das natürlich anders, trugen alle möglichen Titel wie etwa »Erzbischof des siebten Rangs«, aber das war damit gemeint). Man wurde nach Dauer der Zugehörigkeit und Verdienst befördert, wie in allen Organisationen, sagte er zu mir, ohne zu lächeln; nach Dauer der Zugehörigkeit und Verdienst. Der Professor zum Beispiel war, obwohl erst seit fünf Jahren Elohimit, der dritte Mann. Den vierten Mann müsse er mir unbedingt vorstellen, sagte Patrick, er schätze meine Arbeit sehr, er habe selbst viel Humor. »Ach, der Humor …«, hätte ich fast erwidert.
Den Nachmittagsvortrag hielt Odile, eine Frau um die Fünfzig, die ein ähnliches Sexualleben hinter sich hatte wie Catherine Millet und ihr im übrigen ein wenig glich. Sie wirkte sehr sympathisch, wie eine Frau ohne Probleme — auch darin ähnelte sie Catherine Millet —, aber ihr Vortrag war ein bißchen lasch. Ich wußte, daß es Frauen gab, die einen ähnlichen Geschmack wie Catherine Millet hatten — ich schätzte ihre Zahl auf etwa eine pro hunderttausend, eine Proportion, die mir eine Invariante innerhalb der Geschichte zu sein schien und sich auch wohl nicht ändern würde. Odile wurde etwas lebhafter, als sie die Ansteckungsmöglichkeiten durch den Aidserreger im Hinblick auf die jeweilige Körperöffnung ansprach — das war offensichtlich ihr Lieblingsthema, sie hatte dafür eine regelrechte Statistik zusammengestellt. Sie war Vizepräsidentin des Vereins »Paare gegen Aids«, der sich bemühte, zu diesem Thema eine gezielte Aufklärungskampagne zu führen — um den Leuten zu erlauben, nur dann ein Kondom zu benutzen, wenn es absolut unerläßlich war. Ich selbst hatte noch nie ein Kondom benutzt, und angesichts meines Alters und der ständigen Weiterentwicklung der Kombinationstherapie würde ich wohl kaum darauf zurückgreifen — vorausgesetzt, ich hatte überhaupt wieder die Möglichkeit zu vögeln; in dem Stadium, in dem ich mich befand, erschien mir sogar die Aussicht zu vögeln, mit Lust zu vögeln, völlig ausreichend, um ein baldiges Ende in Betracht zu ziehen.
Der Vortrag zielte im wesentlichen darauf ab, die Einschränkungen und Zwänge aufzuzählen, die es bei den Elohimiten in bezug auf die Sexualität gab. Die Antwort war ziemlich einfach: es gab keine — es war eine Sache des gegenseitigen Einverständnisses unter Erwachsenen, wie man so schön sagt.
Diesmal gab es Fragen. Die meisten bezogen sich auf die Pädophilie, eine Praktik, die den Elohimiten schon mehrere Prozesse eingebracht hatte — aber wer hat heutzutage noch keinen Prozeß wegen Pädophilie am Hals gehabt? Der Standpunkt des Propheten, den Odile hier in Erinnerung rief, war eindeutig: Es gibt eine Phase im Leben des Menschen, die man die Pubertät nennt und in der das sexuelle Begehren in Erscheinung tritt — das Alter war je nach Person und geographischer Situation unterschiedlich, lag aber im allgemeinen zwischen elf und vierzehn. Mit jemandem zu schlafen, der es nicht begehrte oder der nicht imstande war, sein Einverständnis deutlich zu formulieren, also mit jemandem in der Vorpubertät, war moralisch zu verurteilen; was jedoch nach der Pubertät stattfand, entzog sich selbstverständlich jedem moralischen Urteil, und darüber ließ sich weiter so gut wie nichts sagen. Der Nachmittag dämmerte mit dem Sieg des gesunden Menschenverstands dahin, und ich hatte allmählich Lust auf einen Aperitif; in dieser Hinsicht waren sie wirklich ein bißchen beknackt. Zum Glück hatte ich einen Vorrat in meinem Koffer, und als VIP hatte man mir natürlich ein Einzelzimmer reserviert. Als ich nach dem Abendessen allein in meinem Kingsize-Bett mit makellos weißen Laken in leichter Trunkenheit versank, versuchte ich, eine Bilanz dieses ersten Tages zu ziehen. Viele Anhänger, die nicht blöd waren, das war eine Überraschung; und viele Frauen, die nicht häßlich waren, das war noch überraschender. Allerdings muß man dazusagen, daß sie vor nichts zurückschreckten, um sich zur Geltung zu bringen. Die Lehre des Propheten wich in dieser Hinsicht keinen Deut von dem Prinzip ab: Der Mann mußte sich bemühen, seine Männlichkeit zu zügeln (die Machohaltung hatte schon zu viele blutige Opfer in der Welt gefordert, wie er in verschiedenen Interviews, die ich mir auf seiner Website angesehen hatte, zutiefst bewegt ausgerufen hatte), die Frau dagegen durfte ihre Weiblichkeit voll ausreizen, ihrem angeborenen Exhibitionismus freien Lauf lassen und sich dabei all der glitzernden, durchsichtigen oder hautengen Kleidungsstücke bedienen, die ihr die Phantasie der Modeschöpfer zur Verfügung stellte: Nichts konnte in den Augen der Elohim angenehmer und vortrefflicher sein.
Folglich taten sie das, und beim Abendessen war bereits eine leichte, aber konstante erotische Spannung zu spüren. Ich ahnte, daß das im Laufe der Woche noch schlimmer werden würde; und ich spürte auch, daß ich nicht wirklich darunter leiden und mich damit begnügen würde, mich friedlich vollzusaufen und dabei die Nebelwände zu betrachten, die im Mondschein vorüberzogen. Die kühlen Weiden, die Milka-Kühe, der Schnee auf den Gipfeln: ein schöner Ort, um alles zu vergessen oder um zu sterben.
Am folgenden Morgen hielt der Prophet persönlich den ersten Vortrag: Ganz in Weiß, sprang er im Licht der Scheinwerfer unter donnerndem Applaus auf die Bühne — eine standing ovation zur Begrüßung. Aus der Ferne gesehen, sagte ich mir, glich er ein bißchen einem Affen — vermutlich eine Frage des Verhältnisses zwischen der Länge seiner Arme und seiner Beine oder seiner allgemeinen Haltung, ich weiß nicht, es war nur ein sehr flüchtiger Eindruck. Aber er wirkte nicht bösartig, lediglich wie ein lustvoller Affe mit flachem Schädel, das war alles.
Und er sah unzweifelhaft wie ein Franzose aus: In seinem ironischen Blick funkelte etwas Schelmisches, Spöttisches, man konnte ihn sich gut in einem Theaterstück von Feydeau vorstellen.
Seine fünfundsechzig Jahre waren ihm wirklich nicht anzusehen.
»Wie groß wird die Anzahl der Erwählten sein?« begann der Prophet ohne Umschweife. »1.729, die kleinste Zahl, die sich auf zwei verschiedene Arten in die Summe zweier Kubikzahlen zerlegen läßt? Oder 9.240, eine Zahl, die 64 Teiler besitzt? Oder 40.755, eine Zahl, die sowohl Dreiecks-, Fünfecks- und Sechseckszahl ist? Oder 144.000, wie unsere Freunde, die Zeugen Jehovas, behaupten — nebenbei gesagt, eine wirklich gefährliche Sekte?«
Als Profi mußte ich zugeben: Er zog eine gute Show ab. Dabei war ich noch nicht mal richtig wach, und der Kaffee in dem Hotel war abscheulich; aber der Prophet hatte mich gefesselt.
»Oder werden es 698.896 sein, eine Palindrom-Quadratzahl?« fuhr er fort. »Oder 12.960.000, Platons zweite geometrische Zahl? Oder 33.550.336, die fünfte vollkommene Zahl, die von einem anonymen Autor in einem mittelalterlichen Manuskript erwähnt wird?«
Er blieb genau in der Mitte des Scheinwerferlichts stehen und machte eine Pause, ehe er fortfuhr: »Derjenige wird zu den Erwählten gehören, der es sich aus ganzem Herzen wünscht« —kürzere Pause — »und sich dementsprechend verhalten hat.«
Dann kam er logischerweise auf die Bedingungen zu sprechen, unter denen man erwählt werden kann, ehe er zum geplanten Bau der Botschaft überging — das Thema lag ihm offensichtlich sehr am Herzen. Der Vortrag dauerte etwas über zwei Stunden und war wirklich gut aufgebaut, saubere Arbeit, ich klatschte ebenso begeistert Beifall wie die anderen. Ich saß neben Patrick, der mir ins Ohr flüsterte: »Dieses Jahr ist er wirklich in Form…«
Als wir den Konferenzsaal verließen, um zum Essen zu gehen, kam Flic auf uns zu. »Der Prophet lädt dich an seinen Tisch ein …«, sagte er ernst zu mir. »Und dich auch, Patrick…«, fügte er hinzu; dieser errötete vor Freude, während ich eine kleine Atemübung machte, um mich zu entspannen. Auch wenn er es nicht mit böser Absicht tat, jagte Flic einem unweigerlich einen Schrecken ein, selbst wenn er eine gute Nachricht ankündigte.
Dem Propheten war ein ganzer Flügel des Hotels mit eigenem Speisezimmer vorbehalten. Während wir vor dem Eingang warteten, wo ein Mädchen mit einem Walkie-talkie Botschaften austauschte, kam Vincent, der VIP der Bildenden Kunst, in Begleitung eines Untergebenen von Flic dazu.
Der Prophet malte, und der gesamte Flügel des Hotels war mit seinen Werken dekoriert, die er für die Dauer des Seminars aus Kalifornien hatte herbringen lassen. Auf den Gemälden waren nur nackte oder leicht bekleidete Frauen in unterschiedlichen Landschaften abgebildet, von Tirol bis zu den Bahamas; mir wurde da auch klar, woher die Illustrationen in den Broschüren und auf der Website stammten. Als wir durch den Flur gingen, bemerkte ich, daß Vincent den Blick von den Bildern abwandte und Mühe hatte, seinen Ekel zu verbergen. Als ich mir die Bilder aus der Nähe ansah, wich ich ebenfalls angewidert zurück: Das Wort Kitsch war viel zu schwach, um diese Werke zu charakterisieren; ich glaube, ich hatte noch nie etwas so Häßliches gesehen.
Der Höhepunkt der Ausstellung erwartete uns im Eßzimmer, einem großen Raum mit riesigen Fenstern, die den Blick auf die Berge freigaben: Hinter dem Sitzplatz des Propheten hing ein Bild von acht mal vier Metern, auf dem er umgeben von zwölf jungen Frauen abgebildet war, die durchsichtige Tuniken trugen und die Arme nach ihm ausstreckten — einige von den Frauen zeigten einen Ausdruck glühender Verehrung, andere stellten ein Mienenspiel zur Schau, das erheblich aufreizender war. Es waren weiße und schwarze Frauen, eine Asiatin und zwei Inderinnen; wenigstens war der Prophet kein Rassist. Dagegen hatte er ganz offensichtlich etwas für große Brüste übrig und liebte üppiges, dichtes Schamhaar; kurzum, der Mann hatte eine Vorliebe für einfache Dinge.
Während wir auf den Propheten warteten, stellte mir Patrick Gerard vor, den Humoristen und vierten Mann in der Hierarchie der Organisation. Er verdankte dieses Vorrecht der Tatsache, daß er schon vor siebenunddreißig Jahren an der Seite des Propheten gewesen und ihm trotz diverser überraschender Kehrtwendungen immer treu geblieben war. Von den »vier Weggefährten der ersten Stunde« war einer gestorben, ein anderer Adventist und der dritte vor einigen Jahren abtrünnig geworden, als der Prophet beim zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen seine Anhänger aufgefordert hatte, für Jean-Marie Le Pen und gegen Jacques Chirac zu stimmen, »um den Auflösungsprozeß der französischen Pseudodemokratie zu beschleunigen« — ähnlich wie die Maoisten in ihrer Blütezeit aufgerufen hatten, Giscard und nicht Mitterand zu wählen, um die Widersprüche des Kapitalismus zu verschärfen. Es blieb also nur noch Gerard, und seine langjährige Treue hatte ihm ein paar Privilegien eingebracht, wie zum Beispiel das Recht, jeden Tag mit dem Propheten zu Mittag zu essen — was weder dem Professor noch Flic vergönnt war — oder ab und zu eine ironische Bemerkung über das Aussehen des Propheten machen zu dürfen — er sprach zum Beispiel von seinem »dicken Arsch« oder von seinen »Gucklöchern, um die ihn jede Kuh beneidete«. Im Gespräch stellte sich heraus, daß Gerard mich gut kannte, alle meine Auftritte gesehen und meine Karriere von Anfang an verfolgt hatte. Der Prophet dagegen, der in Kalifornien lebte und sich nicht im geringsten für kulturelle Ereignisse interessierte (die einzigen Schauspieler, deren Namen er kannte, waren Tom Cruise und Bruce Willis), hatte noch nie etwas von mir gehört; ich verdankte also meinen Status als VIP ausschließlich Gerard. Er kümmerte sich auch um die Presse und machte die PR-Arbeit.
Schließlich kam der Prophet frisch geduscht mit federndem Schritt in Jeans und einem T-Shirt mit der Aufschrift »Lick my balls« und einer Tasche über der Schulter herein. Alle standen auf; ich tat dasselbe. Er kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu und fragte mit breitem Lächeln: »Na, wie fandest du mich?« Ich war einen Augenblick baff, bis mir klar wurde, daß es keine Fangfrage war: Er redete mit mir wie unter Kollegen. »Äh … gut. Ehrlich gesagt sehr gut…«, antwortete ich. »Mir hat vor allem der Einstieg mit den Zahlenspielereien über die Anzahl der Erwählten gut gefallen.« »Ach ja, ha, ha, ha! …«, er zog ein Buch aus der Tasche: Mathematische Basteleien von Jostein Gaarder: »Da steht alles drin!« Er rieb sich die Hände, setzte sich und machte sich sogleich über die geriebenen Möhren her; wir taten es ihm gleich.
Vermutlich mir zu Ehren drehte sich die Unterhaltung anschließend um Komiker. Der Humorist kannte sich damit gut aus, aber auch der Prophet war nicht ganz unbewandert auf diesem Gebiet; er hatte sogar Coluche zu Beginn seiner Karriere gekannt. »Wir sind einmal am selben Abend in Clermont-Ferrand aufgetreten…«, sagte er in nostalgischem Ton. Zu einer Zeit, als die Plattenfirmen aufgrund des Schocks über die Rockwelle, die plötzlich über Frankreich hereinbrach, allen möglichen Mist produzierten, hatte auch der Prophet (der damals allerdings noch kein Prophet war) eine Single unter dem Künstlernamen Travis Davis aufgenommen; er hatte eine kleine Tournee in Mittelfrankreich unternommen, und dabei war es geblieben. Wenig später hatte er versucht, sich mit Autorennen einen Namen zu machen, aber auch darin ohne großen Erfolg. Kurzum, er war damals auf der Suche nach Selbstverwirklichung, und daher kam die Begegnung mit den Elohim wie gerufen: sonst hätten wir womöglich einen zweiten Bernard Tapie vor uns. Heute sang er kaum noch, aber die Leidenschaft für schnelle Autos war geblieben, was dazu geführt hatte, daß in den Medien behauptet wurde, er unterhalte auf Kosten seiner Anhänger einen wahren Rennstall in seinem Anwesen in Beverly Hills. Das sei total erfunden, behauptete er mir gegenüber. Zum einen wohne er nicht in Beverly Hills, sondern in Santa Monica, und zum anderen besitze er nur einen Ferrari Modena Stradale (eine etwas stärker motorisierte Ausführung des normalen Modena-Modells, die außerdem durch die Verwendung von Glasfiber, Titan und Aluminium nicht ganz so schwer war) und einen Porsche 911 GT2; also eher weniger als ein durchschnittlicher Hollywoodschauspieler. Er habe allerdings vor, seinen Stradale durch einen Enzo und seinen 911 GT2 durch einen Carrera GT zu ersetzen; aber er sei sich nicht sicher, ob er sich das leisten könne.
Ich war durchaus geneigt, ihm zu glauben, denn er machte eher den Eindruck eines Weiberhelden als den eines geldgierigen Mannes, und beides war nur bis zu einem bestimmten Punkt vereinbar — ab einem gewissen Alter wird es schwierig, sich gleichzeitig zwei Leidenschaften zu widmen: wem es gelingt, eine beizubehalten, kann sich schon glücklich schätzen; ich war zwanzig Jahre jünger als er, und bei mir spielte sich ganz offensichtlich schon gar nichts mehr ab. Um das Gespräch nicht einschlafen zu lassen, erwähnte ich meinen Bentley Continental GT, den ich gegen einen Mercedes SL 600 eingetauscht hatte — was, wie mir sehr wohl klar war, als ein Zeichen der Verbürgerlichung gewertet werden konnte. Ehrlich, worüber sollten sich Männer bloß unterhalten, wenn es keine Autos gäbe?
Während des ganzen Mittagessens wurden die Elohim mit keinem Wort erwähnt, und im Laufe der Woche stellte ich mir allmählich die Frage, ob sie wirklich daran glaubten. Nichts ist schwieriger, als eine leichte kognitive Schizophrenie zu erkennen, und was die meisten Anhänger betraf, war ich nicht imstande, die Sache zu beurteilen. Patrick glaubte offensichtlich daran, was im übrigen ein bißchen beunruhigend war: Immerhin hatte er einen hohen Posten in einer Bank in Luxemburg inne und verwaltete Summen, die manchmal eine Milliarde Euro überschritten, und so jemand sollte an Hirngespinste glauben, die den simpelsten Thesen Darwins widersprachen?
Der Professor war jemand, der mich in dieser Hinsicht noch neugieriger machte, und ich stellte ihm schließlich die Frage ganz direkt — bei einem Mann von solcher Intelligenz fühlte ich mich unfähig, um den heißen Brei herumzureden. Seine Antwort war, wie erwartet, vollkommen klar. Erstens sei es durchaus möglich und sogar wahrscheinlich, daß irgendwo im Universum Formen von Leben entstanden seien, von denen einige intelligent genug waren, um Leben hervorzubringen oder zu manipulieren. Zweitens sei der Mensch unzweifelhaft auf entwicklungsgeschichtlichem Weg entstanden, und seine Erschaffung durch die Elohim könne demnach nur als Metapher verstanden werden — er warnte mich jedoch davor, Darwins Theorie blindlings zu vertrauen, denn immer mehr seriöse Wissenschaftler kehrten ihr, wie er sagte, den Rücken; die Entstehung der Arten gehe in Wirklichkeit nicht so sehr auf eine natürliche Auslese zurück als vielmehr auf einen sprunghaften genetischen Wandel — mit anderen Worten auf reinen Zufall — und auf die Entstehung von geographischen Isolaten oder getrennten Biotopen. Drittens sei es durchaus möglich, daß der Prophet jemandem begegnet sei, der zwar kein Außerirdischer, aber doch ein Mensch der Zukunft sei; gewisse Interpretationen der Quantenmechanik schlössen sehr wohl die Möglichkeit nicht aus, auf Informationen oder sogar materielle Elemente zu stoßen, die der Pfeilrichtung der Zeit entgegenliefen — er versprach, mir eine Dokumentation über dieses Thema zu schicken, was er kurz nach Beendigung des Seminars auch tat.
Ermutigt durch seine Offenheit, sprach ich ihn auf ein Thema an, das mich schon seit Beginn unserer Begegnung beschäftigte, und zwar das Versprechen der Unsterblichkeit, das den Elohimiten gegeben wurde. Ich wußte, daß jedem Anhänger ein paar Hautzellen entnommen wurden und daß die heutige Technik es erlaubte, diese auf unbegrenzte Zeit zu konservieren; und ich zweifelte nicht daran, daß die kleinen Schwierigkeiten, die zur Zeit noch das Klonen von Menschen unmöglich machten, früher oder später gelöst werden würden; aber die Persönlichkeit? Wie sollte der neue Klon auch nur die geringste Erinnerung an die Vergangenheit seines Ahnen haben? Und wie konnte er das Gefühl haben, die Reinkarnation desselben Wesens zu sein, wenn das Gedächtnis nicht bewahrt wurde?
Zum erstenmal spürte ich in seinem Blick etwas anderes als die kühle Kompetenz eines Mannes, der klare Begriffe gewohnt war, zum erstenmal hatte ich den Eindruck, daß eine gewisse Erregung, ja Begeisterung in ihm aufkam. Das war sein Thema, dieser Sache hatte er sein ganzes Leben gewidmet. Er schlug mir vor, ihn an die Bar zu begleiten, und bestellte sich eine heiße Sahneschokolade, ich nahm einen Whisky — er schien diese Mißachtung der Regeln, die in der Sekte üblich waren, nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Kühe kamen hinter den großen Fenstern auf uns zu und blieben stehen, als wollten sie uns beobachten.
»Bei gewissen Rundwürmern«, begann er, »sind durch einfaches Zentrifugieren der zuständigen Neuronen und das Einspritzen des Eiweißstoffisolats in das Gehirn des neuen Subjekts interessante Ergebnisse erzielt worden: Auf diese Weise konnten gewisse Reflexe des Vermeidungsverhaltens übertragen werden, insbesondere jene, die mit einem elektrischen Schlag verbunden sind, und sogar das Vermeiden gewisser Wege in einem einfachen Labyrinth.«
In diesem Augenblick hatte ich den Eindruck, daß die Kühe nickten, aber er nahm auch die Kühe nicht wahr.
»Diese Ergebnisse lassen sich natürlich nicht auf Wirbeltiere übertragen und erst recht nicht auf hochentwickelte Primaten wie den Menschen. Ich nehme an, Sie erinnern sich an das, was ich am ersten Tag des Seminars über die neuronalen Netzwerke gesagt habe… Nun, ein solches System läßt sich durchaus nachbilden, allerdings nicht mit Hilfe von Computern, wie wir sie kennen, sondern auf einer Turingmaschine besonderer Art, die man einen Automaten mit flexibler Vernetzung nennen könnte, an dem ich gerade arbeite. Im Unterschied zu den Rechnern herkömmlicher Art sind die Automaten mit flexibler Vernetzung in der Lage, unterschiedliche, wandlungsfähige Verbindungen zwischen benachbarten Recheneinheiten herzustellen; sie sind also memorier- und lernfähig. Die Zahl der Recheneinheiten, die in Verbindung gesetzt werden können, ist im Prinzip unbegrenzt und somit die Komplexität der denkbaren Netzwerke ebenso. Die augenblickliche, noch sehr beträchtliche Schwierigkeit besteht darin, eine bijektive Beziehung zwischen den Neuronen eines menschlichen Gehirns, die wenige Minuten nach dessen Tod entnommen werden, und dem Speicher eines nicht programmierten Automaten herzustellen. Da die Lebensdauer des letzteren praktisch unbegrenzt ist, besteht der nächste Schritt einfach darin, die Information in umgekehrter Richtung wieder in das Gehirn des neuen Klons einzugeben; das ist die Phase des Downloadens, die, da bin ich mir sicher, keine besonderen Schwierigkeiten bereiten wird, sobald das Uploaden erst mal richtig funktioniert.«
Es wurde dunkel; die Kühe wandten sich allmählich ab, zogen sich auf ihre Weiden zurück, und ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß sie seinen Optimismus nicht teilten. Ehe er uns verließ, gab er mir seine Visitenkarte: Professor Slotan Miskiewicz von der Universität Toronto. Es sei ihm ein Vergnügen gewesen, sich mit mir zu unterhalten, sagte er, ein echtes Vergnügen; und wenn ich weitere Auskünfte von ihm haben wolle, könne ich ihm gern eine E-Mail schicken. Er käme mit seinen Forschungsarbeiten im Augenblick sehr gut voran, er sei überzeugt, daß er im kommenden Jahr bedeutsame Fortschritte machen werde, bemerkte er im Brustton der Überzeugung, der mir ein wenig gezwungen vorkam.
Eine richtige Abordnung begleitete mich am Tag meines Rückflugs zum Flughafen von Zwork: außer dem Propheten kamen Flic, der Professor, der Humorist und ein paar minder bedeutende Anhänger wie Patrick, Fadiah und Vincent mit, der VIP der Bildenden Kunst, der mir äußerst sympathisch war — wir tauschten unsere Adressen aus, und er lud mich ein, ihn zu besuchen, wenn ich mal nach Paris käme. Selbstverständlich sei ich auch zum Winterseminar eingeladen, das im März in Lanzarote stattfinden werde — und das, wie mir der Prophet ankündigte, in ganz großem Rahmen abgehalten werde; die Anhänger aus der ganzen Welt seien diesmal eingeladen.
Ich hatte im Laufe dieser Woche wirklich nur nette Bekanntschaften gemacht, überlegte ich, während ich durch den Metalldetektor schritt. Keine Frau dagegen; allerdings stand mir im Moment auch nicht der Sinn danach. Ich hatte auch nicht die Absicht, ihrer Bewegung beizutreten, das versteht sich wohl von selbst; im Grunde war es nur Neugier, die mich angelockt hatte, die gute alte Neugier, die mich schon seit meiner Kindheit erfüllte und die offenbar langlebiger war als sexuelles Begehren.
Ich saß in einer zweimotorigen Propellermaschine, die den Eindruck machte, als könne sie jeden Augenblick im Flug explodieren. Als wir über endloses Weideland flogen, wurde mir auf einmal bewußt, daß die Leute, ganz zu schweigen von mir, während der Dauer des Seminars gar nicht so viel gevögelt hatten — soweit ich das einschätzen konnte natürlich, aber ich glaube, das konnte ich ganz gut, denn in solcher Art Beobachtungen hatte ich ziemlich viel Erfahrung. Die Paare waren in Paaren geblieben — mir war nichts über Gruppensex und nicht einmal etwas über einen banalen Dreier zu Ohren gekommen; und die Leute, die allein gekommen waren (die große Mehrheit), waren allein geblieben. Theoretisch war alles sehr offen, alle Formen der Sexualität waren erlaubt, der Prophet ermutigte seine Anhänger sogar dazu; in der Praxis trugen die Frauen zwar erotische Kleidung, und es gab auch enge Körperkontakte, aber dabei blieb es. Das ist doch seltsam und müßte mal näher untersucht werden, sagte ich mir, ehe ich über meinem Tablett mit dem Essen einschlief.
Nach dreimaligem Umsteigen und einem insgesamt ziemlich anstrengenden Flug landete ich schließlich in Almeria. Dort herrschte eine Temperatur von etwa 45 Grad, also dreißig Grad mehr als in Zwork. Das war gut, reichte aber nicht aus, um die Beklemmung zu verscheuchen, die in mir aufkam. Während ich über die mit Steinplatten ausgelegten Flure meiner Villa ging, stellte ich die Klimageräte eines nach dem anderen ab, die die Hausmeisterin am Tag zuvor für meine Rückkehr eingeschaltet hatte — eine alte, häßliche Rumänin mit ausgesprochen schlechten Zähnen, aber sie sprach ausgezeichnet französisch; sie hatte, wie man so sagt, mein volles Vertrauen, auch wenn ich inzwischen darauf verzichtet hatte, sie das Haus putzen zu lassen, weil ich es nicht mehr ertrug, daß ein menschliches Wesen meine persönlichen Gegenstände sah. Es war durchaus ein Witz, sagte ich mir manchmal, daß ich mit meinen vierzig Millionen Euro selbst mit einem Aufnehmer die Böden scheuerte; aber so war das nun mal, dagegen kam ich nicht an, die Vorstellung, daß ein noch so unbedeutendes menschliches Wesen alle Einzelheiten meines Daseins und dessen Leere beobachten konnte, war mir unerträglich geworden. Als ich vor dem Spiegel im großen Wohnzimmer vorbeiging (einem riesigen Spiegel, der eine ganze Wand bedeckte; wenn ich mit einer Frau zusammengelebt hätte, hätten wir uns darin beim Liebesspiel betrachten können usw.), bekam ich einen Schock, als ich mich darin sah. Ich hatte derart abgenommen, daß ich fast durchsichtig wirkte. Ich wurde allmählich zu einem Gespenst, einem Gespenst der sonnigen Länder. Der Professor hatte recht: Ich mußte umziehen, die Fotos verbrennen und all das.
Finanziell gesehen wäre ein Umzug ein lohnendes Geschäft gewesen: Die Grundstückspreise hatten sich seit meiner Ankunft fast verdreifacht. Man mußte nur noch einen Käufer finden; aber Reiche gab es genug, und Marbella war inzwischen etwas zu überlaufen — die Reichen sind zwar gern von Reichen umgeben, das ist richtig, man darf wohl sagen, daß es sie beruhigt; es stellt für sie eine gewisse Erleichterung dar, auf Menschen zu treffen, die die gleichen Qualen ausstehen und mit denen sie eine Beziehung unterhalten können, die scheinbar nicht ausschließlich profitorientiert ist; und es erleichtert sie auch, sich davon zu überzeugen, daß die Menschheit nicht nur aus raubgierigen Wesen und Parasiten besteht; aber ab einer bestimmten Häufung wird auch ihnen die Sache zu eng. Bisher konnte von einer Häufung der Reichen in der Provinz Almeria jedoch keine Rede sein, im Gegenteil; ich mußte also einen Reichen finden, der relativ jung und unternehmungslustig war, einen leicht intellektuell angehauchten Vorkämpfer mit einem Hang für Ökologie, vielleicht einen Reichen, dem es Spaß machte, Steine zu beobachten, jemanden, der es etwa in der Informatik zu Reichtum gebracht hatte. Und schlimmstenfalls war Marbella ja nur hundertfünfzig Kilometer entfernt und die Autobahn bereits geplant. Niemand würde mich hier jedenfalls vermissen. Aber wohin sollte ich gehen? Und wozu? Um ganz ehrlich zu sein, schämte ich mich — schämte ich mich, dem Grundstücksmakler zu gestehen, daß meine Ehe in die Brüche gegangen war und ich auch keine Geliebte hatte, die etwas Leben in dieses riesige Haus bringen könnte, schämte ich mich einzugestehen, daß ich allein lebte.
Dagegen war es durchaus möglich, die Fotos zu verbrennen. Ich verbrachte einen ganzen Tag damit, sie zu sammeln, ich hatte Tausende davon, denn ich hatte schon immer eine Manie für Erinnerungsfotos gehabt; ich sortierte sie nur sehr oberflächlich, es kann sein, daß ein paar Gelegenheitsflammen der Sache ebenfalls zum Opfer fielen. Bei Sonnenuntergang beförderte ich das Ganze in einer Schubkarre auf einen sandigen Streifen neben der Terrasse, goß einen Kanister Benzin darüber und riß ein Streichholz an. Es war ein herrliches Feuer, das meterhoch in den Himmel loderte, man konnte es bestimmt in einem Umkreis von mehreren Kilometern sehen, vielleicht sogar von der algerischen Küste. Die Freude darüber war lebhaft, aber nur sehr kurz: Gegen vier Uhr morgens wachte ich wieder auf und hatte den Eindruck, als wimmele es unter meiner Haut von Würmern, und spürte das beinah unwiderstehliche Verlangen, mich blutig zu kratzen. Ich rief Isabelle an, die beim zweiten Klingelton abnahm — sie schlief also auch nicht. Wir einigten uns darauf, daß ich Fox in den nächsten Tagen abholen und er bis Ende September bei mir bleiben würde.
Wie bei allen Mercedes-Modellen ab einer gewissen PS-Stärke — mit Ausnahme des SLR McLaren — war die Geschwindigkeit des SL 600 elektronisch auf 250 Stundenkilometer begrenzt. Ich glaube nicht, daß ich zwischen Murcia und Albacete oft langsamer fuhr. Es gab ein paar lange, sehr weite Kurven; ich empfand dabei ein Gefühl abstrakter Macht, vermutlich wie jemand, der sich vor dem Tod nicht fürchtet. Eine angepeilte Bahn bleibt vollkommen, auch wenn sie mit dem Tod endet: Es kann vorkommen, daß man auf einen Lastwagen, ein Auto, das sich überschlagen hat, oder ein anderes unerwartetes Hindernis stößt; das nimmt der angepeilten Bahn nichts von ihrer Schönheit. Kurz nach Tarancon verlangsamte ich etwas, um in die R 3 und anschließend die M 5 einzubiegen, fuhr aber selten langsamer als 180. Auf der völlig leeren R 2, die in einer Entfernung von etwa dreißig Kilometern um Madrid herumführt, bretterte ich wieder mit Höchstgeschwindigkeit. Ich durchquerte Kastilien auf der N 1 und fuhr mit 220 km/h bis Vitoria-Gasteiz, ehe ich die kurvenreichen Straßen im Baskenland erreichte. Abends um elf kam ich in Biarritz an und nahm mir ein Zimmer im Sofitel Miramar. Ich war am darauffolgenden Morgen um zehn mit Isabelle im »Surfeur d'Argent« verabredet. Zu meiner großen Überraschung hatte sie abgenommen, ich hatte sogar den Eindruck, daß sie all ihre Pfunde wieder verloren hatte. Ihr Gesicht war schmal, ein wenig runzlig und auch vom Kummer gezeichnet, aber sie war wieder elegant und schön.
»Wie hast du es bloß geschafft, mit dem Trinken aufzuhören?« fragte ich sie.
»Morphium.«
»Ist es denn nicht schwer, daran zu kommen?«
»Nein, nein, im Gegenteil, das ist sehr einfach; in allen Teesalons wird hier gedealt.«
So, so, die reichen Tanten aus Biarritz spritzten jetzt Morphium; das war ein richtiger Knüller.
»Eine Frage des Alters …«, sagte sie zu mir. »Das sind jetzt Wohlstandstussen aus der Rock and Roll-Generation; die haben zwangsläufig andere Bedürfnisse. Aber mach dir keine Illusionen«, fügte sie hinzu, »mein Gesicht hat zwar wieder eine einigermaßen normale Form angenommen, aber mein Körper ist total abgeschlafft; ich wage dir nicht mal zu zeigen, wie es unter dem Jogginganzug aussieht.« Sie wies auf den blauweißgestreiften Trainingsanzug, der ihr drei Nummern zu groß war. »Ich habe mit dem Ballett aufgehört, treibe keinen Sport mehr, mache gar nichts mehr; ich gehe nicht mal mehr schwimmen. Morgens eine Spritze und abends eine, und in der Zwischenzeit betrachte ich das Meer, das ist alles. Du fehlst mir nicht mal mehr, zumindest nicht oft. Mir fehlt überhaupt nichts mehr. Fox spielt viel, er ist hier sehr glücklich …« Ich nickte, trank meine heiße Schokolade aus und bezahlte meine Hotelrechnung. Eine Stunde später war ich auf der Höhe von Bilbao.
Einen Monat Ferien mit meinem Hund: auf der Treppe einen Ball werfen, gemeinsam mit ihm am Strand entlangrennen. Leben.
Am 30. September um siebzehn Uhr stellte Isabelle ihren Wagen vor der Einfahrt der Residenz ab. Sie hatte einen Mitsubishi Space Star, ein Fahrzeug, das im Autojournal in die Kategorie der »sportlichen Minivans« eingestuft wurde. Auf den Rat ihrer Mutter hin hatte sie eine »Box Office«-Ausführung gewählt. Sie blieb etwa vierzig Minuten, ehe sie wieder nach Biarritz zurückfuhr. »Ja, ja, ich werde langsam zu einer alten Frau …«, sagte sie, während sie Fox auf der Rückbank unterbrachte. Eine liebe alte Frau in ihrem Mitsubishi Space Star.