Daniel25,12

Heute morgen erhielt ich kurz vor dem Morgengrauen von Marie23 folgende Nachricht:

Die drückenden Membranen

Unseres Halb-Erwachens

Besitzen den gedämpften Charme

Von Tagen ohne Sonne.

3109, 749, 83106, 3545. Auf dem Bildschirm wurde das Bild eines riesigen Wohnzimmers mit weißen Wänden sichtbar, das mit niedrigen weißen Ledersofas eingerichtet war; auch der Teppichboden war weiß. Hinter den großen Fenstern konnte man die Türme des Chrysler Building erkennen — ich hatte schon einmal die Gelegenheit gehabt, sie auf einer alten Reproduktion zu sehen. Nach ein paar Sekunden kam eine junge Frau der Neo-Menschenrasse ins Bild, die höchstens fünfundzwanzig war, und stellte sich vor die Kamera. Sie hatte dunkle Locken und dichtes schwarzes Schamhaar, ihr harmonischer Körper mit breiten Hüften und runden Brüsten vermittelte einen soliden, energischen Eindruck; sie sah im großen und ganzen etwa so aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Eine Nachricht lief schnell über den Bildschirm und überlagerte die Bilder:

Und das Meer, das mich erdrückt, und der Sand,

Die Folge der Augenblicke, die vorüberziehen

Wie Vögel, die sanft über New York schweben,

Wie große Vögel mit unerbittlichem Flug.

Nur zu! Es ist höchste Zeit, die Schale zu sprengen,

Um das funkelnd vor uns liegende Meer zu sehen,

Auf neuen Wegen, die unsere Schritte wiedererkennen

Und die wir schwach und ungewiß gemeinsam begehen.

Es ist absolut kein Geheimnis, daß es unter den Neo-Menschen hin und wieder vorkommt, daß jemand abtrünnig wird; auch wenn das Thema nie offen angeschnitten wird, ist es in gewissen Anspielungen, gewissen Gerüchten zum Ausdruck gekommen. Gegen Deserteure werden keinerlei Maßnahmen ergriffen, und es wird nichts unternommen, um ihre Spur wiederzufinden. Die Station, wo sie gelebt haben, wird von einem Team, das von Central City entsandt wird, ganz einfach für immer geschlossen, die Ahnenfolge, der sie entstammen, wird als erloschen erklärt.

Marie23 hatte möglicherweise beschlossen, ihren Posten zu verlassen, um sich einer Gemeinschaft von Wilden anzuschließen, doch selbst wenn das der Fall sein sollte, wußte ich, daß ich nichts tun konnte, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Ein paar Minuten lang ging sie im Raum auf und ab; sie wirkte sehr nervös und aufgeregt, hätte zweimal fast das Bildfeld verlassen. »Ich weiß nicht genau, was mich erwartet«, sagte sie schließlich und wandte sich dabei der Kamera zu, »aber ich weiß, daß ich mehr Leben brauche. Es hat lange gedauert, ehe ich mich dazu entschlossen habe, ich habe versucht, alle verfügbaren Informationen auszuwerten. Ich habe oft mit Esther31 darüber gesprochen, die auch in den Trümmern von New York lebt; wir haben uns sogar vor drei Wochen persönlich getroffen. Es ist nicht unmöglich; man muß anfangs eine große geistige Anspannung überwinden, denn es ist nicht leicht, die Grenzen der Station hinter sich zu lassen, man ist dabei von großer Unruhe und Verwirrung erfüllt; aber es ist nicht unmöglich …«

Ich verarbeitete die Information, deutete mit einem leichten Kopfnicken an, daß ich sie verstanden hatte. »Sie stammt tatsächlich von derselben Esther ab, die dein Vorfahre gekannt hat«, fuhr sie fort. »Ich habe einen Moment lang geglaubt, sie sei bereit, mich zu begleiten; doch schließlich hat sie den Gedanken aufgegeben, zumindest für den Augenblick, aber ich habe den Eindruck, daß auch sie nicht mit unserer Lebensweise zufrieden ist. Wir haben mehrmals über dich gesprochen; ich glaube, sie wäre sehr glücklich darüber, in eine Phase der Intermediation zu treten.«

Ich nickte erneut. Sie blickte noch ein paar Sekunden wortlos in die Kamera, dann schulterte sie mit einem seltsamen Lächeln einen kleinen Rucksack, wandte sich um und ging links aus dem Bild. Ich blieb noch lange regungslos vor dem Bildschirm sitzen, auf dem das leere Zimmer zu sehen war.