Daniel1,22

»Und dann erhält ein wandlungsfähiger Kult

einem geschwächten Dogma gegenüber

eine empirische Überlegenheit, die

die systematische Einflußnahme vorbereiten muß,

die der Positivismus dem affektiven Element

der Religion zuschreibt.«

Auguste Comte: Aufruf an die Konservativen

Ich selbst hatte so wenig Veranlagung zu einem Gläubigen, daß mir der Glaube der anderen im Grunde ziemlich gleichgültig war; ich teilte Isabelle ohne Bedenken, aber auch ohne der Sache wirklich Bedeutung beizumessen, die Adresse der elohimitischen Kirche mit. Ich versuchte in dieser letzten Nacht mit ihr zu schlafen, doch es klappte nicht. Ein paar Minuten lang bemühte sie sich, meinen Pimmel abzukauen, aber ich spürte genau, daß sie das schon seit Jahren nicht mehr getan hatte, nicht mehr daran glaubte, und um so etwas erfolgreich zu Ende zu führen, muß man schon ein bißchen davon überzeugt sein und ein Mindestmaß an Begeisterung aufbringen, das Fleisch in ihrem Mund blieb schlaff, und meine herabhängenden Eier reagierten nicht mehr auf ihre etwas ungeschickten Liebkosungen. Sie gab es schließlich auf und fragte mich, ob ich eine Schlaftablette haben wolle. Ja, das wollte ich, so etwas sollte man nie ablehnen, finde ich, es ist unnötig, sich zu quälen. Sie war noch immer fähig, als erste aufzustehen und Kaffee zu kochen, das war etwas, was sie noch machen konnte. Es lag ein wenig Tau auf dem Flieder, die Temperatur war gesunken, ich hatte einen Platz im Zug um 8 Uhr 32 reserviert, und der Sommer ging allmählich zu Ende.

Ich nahm mir wie gewöhnlich ein Zimmer im Lutetia, und auch dort ließ ich ohne bestimmten Grund viel Zeit verstreichen, vielleicht ein oder zwei Monate, ehe ich Vincent anrief. Ich tat genau die gleichen Dinge wie vorher, aber ich tat alles viel langsamer, als müßte ich die Handlungen in ihre einzelnen Abläufe zerlegen, damit es mir gelang, sie einigermaßen zufriedenstellend zu vollziehen. Ab und zu setzte ich mich in die Bar und ließ mich ruhig und gelassen vollaufen; nicht selten wurde ich von alten Bekannten erkannt. Ich unternahm nichts, um die Unterhaltung in Gang zu halten, und es war mir nicht einmal peinlich; darin bestand einer der wenigen Vorteile, ein Star zu sein — oder eher, wie in meinem Fall, ein ehemaliger Star: Wenn man jemanden trifft und sich, wie es oft vorkommt, gemeinsam langweilt, ohne daß einer der beiden wirklich dafür verantwortlich ist, also sozusagen in gegenseitigem Einvernehmen, dann fühlt sich immer der andere daran schuldig, daß er es nicht geschafft hat, die Unterhaltung auf genügend hohem Niveau zu halten oder eine warmherzige, knisternde Atmosphäre zu schaffen. Das war eine bequeme, ja entspannende Situation, zumindest wenn einem die Sache scheißegal war. Manchmal, wenn ich mich bei einem Gespräch damit begnügte, den Kopf verständnisvoll hin und her zu wiegen, überließ ich mich ungewollt irgendwelchen Träumereien, die übrigens im allgemeinen eher unangenehm waren: Ich dachte an die Castings, bei denen Esther Männer küssen mußte, an die Sexszenen, in denen sie in verschiedenen Kurzfilmen als Darstellerin mitwirkte; ich erinnerte mich, was ich alles auf mich genommen hatte — völlig nutzlos übrigens, denn selbst wenn ich ihr eine Szene gemacht hätte oder in Schluchzen ausgebrochen wäre, härte das nichts geändert —, und mir wurde klar, daß ich unter diesen Umständen die Sache sowieso nicht lange ertragen hätte, zu alt war und nicht mehr genügend Kraft hatte. Diese Feststellung verringerte im übrigen meinen Kummer keinesfalls, denn an dem Punkt, an dem ich angelangt war, blieb mir keine andere Wahl, als bis zum Schluß zu leiden, nie würde ich ihren Körper, ihre Haut, ihr Gesicht vergessen, und noch nie hatte ich so deutlich gespürt, daß die Beziehungen zwischen Menschen entstehen, sich weiterentwickeln und abbrechen, und zwar auf völlig deterministische Weise, ebenso unabwendbar wie die Bewegungen eines Planetensystems, und die Hoffnung, dessen Bahn auch nur ein ganz klein wenig abzuändern, ist vergeblich und absurd.

Ich hätte auch diesmal ziemlich lange im Lutetia bleiben können, vielleicht nicht so lange wie in Biarritz, denn ich begann trotz allem ein bisschen zuviel zu trinken, die Beklemmung bohrte sich allmählich in meine Organe, und ich verbrachte ganze Nachmittage damit, mir im Bon Marché Pullover anzusehen, es hatte keinen Sinn, so weiterzumachen. An einem Morgen im Oktober, vermutlich an einem Montag, rief ich Vincent an. Als ich sein Haus in Chevilly-Larue betrat, hatte ich sofort das Gefühl, einen Termitenhügel oder einen Bienenkorb vor mir zu haben, irgendeine Organisation jedenfalls, in der jeder seine genau festgelegte Aufgabe hatte und die auf Hochtouren lief. Vincent erwartete mich mit dem Handy in der Hand im Eingangsflur, bereit aufzubrechen. Als er mich sah, stand er auf, schüttelte mir herzlich die Hand und schlug mir vor, ihn in ihre neuen Räumlichkeiten zu begleiten. Er hatte ein kleines Bürogebäude gekauft, die Umbauarbeiten waren noch nicht abgeschlossen, Handwerker waren dabei, Isolierplatten und Halogenschienen anzubringen, aber gut zwanzig Mitarbeiter waren schon bei der Arbeit: Manche telefonierten, andere tippten Briefe, brachten Datenbänke auf den neuesten Stand oder was weiß ich, auf jeden Fall befand ich mich in einem Kleinbetrieb oder besser gesagt in einem mittelständischen Unternehmen. Als ich Vincent zum erstenmal gesehen hatte, hätte ich mir nie vorstellen können, daß er sich eines Tages in einen Firmenchef verwandeln würde, aber warum nicht, und zudem schien er sich in seiner neuen Rolle durchaus wohl zu fühlen; hin und wieder können im Leben mancher Leute auch Verbesserungen eintreten, der Lebensprozeß kann nicht nur als reiner Niedergangbetrachtet werden, das wäre eine maßlose Vereinfachung.

Nachdem er mich zwei Mitarbeitern vorgestellt hatte, kündigte er mir an, daß sie gerade einen wichtigen Sieg errungen hatten: Nach einem mehrmonatigen Rechtsstreit hatte das Verfassungsgericht ein Urteil gefällt und erlaubte der elohimitischen Kirche, die religiösen Gebäude, die die katholische Kirche nicht mehr zu unterhalten imstande war, für den eigenen Gebrauch zu kaufen. Die einzige damit verbundene Auflage war die gleiche, die auch schon den vorherigen Besitzern gemacht worden war: Sie mußten sich verpflichten, in Zusammenarbeit mit der Nationalen Kasse für Denkmalschutz das künstlerische und architektonische Erbe instand zu halten; was die religiösen Zeremonien anging, die im Inneren der Gebäude abgehalten wurden, wurde ihnen jedoch keinerlei Beschränkung auferlegt. Selbst in Zeitaltern, die ästhetisch stärker begünstigt waren als unseres, erklärte Vincent, wäre es undenkbar gewesen, innerhalb weniger Jahre eine solche Fülle von künstlerischen Glanzleistungen zu planen und zu verwirklichen; diese Entscheidung erlaubte ihnen nicht nur, den Gläubigen zahlreiche Kultstätten von großer Schönheit zur Verfügung zu stellen, sondern darüber hinaus all ihre Bemühungen auf den Bau der Botschaft zu konzentrieren.

Gerade in dem Augenblick, als er begann, mir seine Vorstellung von der Ästhetik der Kultzeremonien auseinanderzusetzen, betrat Flic in einem tadellos sitzenden marineblauen Blazer das Büro; auch er war offensichtlich in Höchstform und schüttelte mir energisch die Hand. Die Sekte schien wirklich nicht unter dem Tod des Propheten gelitten zu haben; ganz im Gegenteil, anscheinend klappte alles bestens. Dabei war seit der zu Beginn des Sommers inszenierten Wiederauferstehung auf Lanzarote nichts passiert, aber das Ereignis war so medienwirksam gewesen, daß mehr nicht nötig gewesen war, die Anfragen um Information rissen nicht ab, und häufig folgte darauf eine Beitrittserklärung, die Anzahl der Gläubigen und die zur Verfügung stehenden Mittel nahmen ständig zu.

Am selben Abend lud mich Vincent gemeinsam mit Flic und dessen Frau zum Abendessen ein — es war das erstemal, daß ich ihr begegnete, sie machte tatsächlich den Eindruck einer gestandenen, soliden und eher warmherzigen Frau. Ich wunderte mich wieder einmal über die Tatsache, daß man sich Flic sehr gut als Manager eines Unternehmens vorstellen konnte — sagen wir mal als Personalchef — oder als Beamten, der damit beauftragt war, Subventionen für die Landwirtschaft in Hochgebirgszonen zu verteilen; nichts an ihm ließ auf eine mystische, nicht einmal eine religiöse Neigung schließen. Er schien sogar ausgesprochen unempfindlich zu sein, denn er teilte Vincent ohne sichtliche Gefühlsbewegung mit, daß man ihm von einer beunruhigenden Entwicklung innerhalb gewisser Regionen berichtet habe, in denen die Sekte erst seit kurzem Fuß gefaßt hatte — insbesondere in Italien und Japan. Nichts in dem Dogma wies daraufhin, wie die Zeremonie des freiwilligen Abschieds zu verlaufen hatte. Da sämtliche für die Rekonstruktion des Körpers erforderlichen Informationen in der DNA enthalten waren, konnte die Leiche der Anhänger der Verwesung überlassen oder in Asche verwandelt werden, das war völlig egal. Eine ungesunde Theatralisierung bei der Beseitigung der Leichenbestandteile schien sich nach und nach in gewissen regionalen Gruppen zu entwickeln, davon waren vor allem Ärzte, Sozialarbeiter und Krankenschwestern betroffen. Ehe sich Flic verabschiedete, übergab er Vincent ein Dossier von etwa dreißig Seiten und drei DVDs — die meisten dieser Zeremonien waren gefilmt worden. Ich nahm die Einladung an, über Nacht zu bleiben; Susan schenkte mir einen Cognac ein, während Vincent zu lesen begann. Wir saßen in dem Wohnzimmer, das seinen Großeltern gehört hatte, nichts hatte sich dort seit meinem ersten Besuch verändert: Die Kopflehnen der Sessel und des Sofas aus grünem Samt waren noch immer mit Schondeckchen aus Spitze versehen, und auch die gerahmten Fotos der Alpenlandschaften waren noch da, ich erkannte sogar den Philodendron neben dem Klavier wieder. Vincents Gesicht verdüsterte sich bei der Lektüre des Dossiers zunehmend, er machte für Susan eine Zusammenfassung auf englisch, und dann zitierte er ein paar Beispiele für mich:

»In der Gruppe von Rimini hat man die Leiche eines Anhängers völlig ihres Bluts entleert; die Teilnehmer haben sich damit vollgeschmiert und dann seine Leber und seine Sexualorgane verspeist. In der Gruppe von Barcelona hat ein Typ darum gebeten, an Schlachterhaken aufgehängt zu werden, um anschließend allen zur Verfügung zu stehen; seine Leiche ist vierzehn Tage lang so in einem Keller an den Haken hängen geblieben: Die Teilnehmer bedienten sich, schnitten sich eine Scheibe ab und verzehrten sie im allgemeinen an Ort und Stelle. In Osaka hat ein Anhänger darum gebeten, seine Leiche in einer hydraulischen Presse zerquetschen, komprimieren und sie auf eine Kugel von zwanzig Zentimeter Durchmesser reduzieren zu lassen, die mit einem durchsichtigen Silikonfilm überzogen werden sollte, um anschließend als Bowlingkugel zu dienen; er war anscheinend zu Lebzeiten ein passionierter Bowlingspieler gewesen.«

Er hielt mit leicht zitternder Stimme inne; er war sichtlich schockiert vom Ausmaß, das die Sache annahm.

»Das ist eine Tendenz unserer Gesellschaft …«, sagte ich. »Eine allgemeine Tendenz zur Barbarei, es besteht kein Grund, daß ihr davon ausgeschlossen bleibt…«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll, ich weiß nicht, wie ich das bremsen soll. Das Problem liegt darin, daß wir zu keinem Zeitpunkt über Moral gesprochen haben …«

»There are not a lot of basic socio-religious emotions …«, unterbrach ihn Susan. »If you have no sex, you need ferocity. That's all…«

Vincent blieb stumm, dachte nach und schenkte sich ein weiteres Glas Cognac ein. Am nächsten Morgen beim Frühstück kündigte er uns seinen Entschluß an, eine weltweite Aktion zu starten: MACHT DEN LEUTEN EINE FREUDE — GEBT IHNEN SEX. Wenige Wochen nach dem Tod des Propheten hatten die Anhänger ihre sexuellen Aktivitäten wieder eingeschränkt, bis sich diese auf einem Niveau stabilisierten, das ziemlich genau dem nationalen Durchschnitt entsprach, also auf sehr niedrigem Level. Dieser Niedergang der Sexualität war ein Phänomen, das man auf der ganzen Welt beobachten konnte, es betraf alle Gesellschaftsschichten, alle Industrieländer und verschonte nur Heranwachsende und sehr junge Menschen; selbst die Homosexuellen hatten sich nach einer kurzen, durch die Lockerung der Sitten ausgelösten Periode hektischer Aktivität wieder stark gemäßigt, strebten die Monogamie und ein ruhiges, geregeltes Leben zu zweit an, das Bildungsreisen und der Entdeckung von Landweinen gewidmet war. Für den Elohimismus war das ein besorgniserregendes Phänomen, denn auch wenn sich eine Religion auf das Versprechen des ewigen Lebens gründet, erhöht sie ihre Anziehungskraft ganz beträchtlich, sobald sie im Diesseits scheinbar ein Leben anzubieten hat, das ausgefüllter, reicher, aufregender und fröhlicher ist. »Mit Christus lebst du intensiver« war in etwa das ständige Thema der Werbekampagnen, die die katholische Kirche unmittelbar vor ihrem Verschwinden veranstaltet hatte. Vincent hatte daher über die Anspielung auf Fourier hinaus daran gedacht, an die Praxis der heiligen Prostitution, die in Babylon von den klassischen Quellen bezeugt worden ist, wieder anzuknüpfen und in der ersten Zeit an diejenigen unter den ehemaligen Bräuten des Propheten zu appellieren, die dazu bereit waren, um so etwas wie eine orgiastische Tournee zu veranstalten; und zwar mit dem Ziel, den Anhängern das Beispiel einer ständigen sexuellen Hingabe vor Augen zu führen und in allen lokalen Niederlassungen der Kirche eine Welle der Sinnenfreuden und der Fleischeslust zu propagieren, die es ermöglichte, der Ausbreitung der nekrophilen, morbiden Praktiken Einhalt zu gebieten.

Susan fand die Idee ausgezeichnet: Sie kannte die Mädels, konnte sie anrufen und war sich sicher, daß die meisten begeistert zusagen würden. Im Verlauf der Nacht fertigte Vincent eine Reihe von Zeichnungen an, die im Internet abgebildet werden sollten. Sie waren eindeutig pornographisch (sie stellten Gruppen von zwei bis zehn Personen dar, Männer und Frauen, die ihre Hände, ihr Geschlecht und ihren Mund für so gut wie sämtliche Spielarten benutzten, die man sich vorstellen kann), dennoch waren sie in hohem Maße stilisiert, besaßen äußerst reine Linien und hoben sich deutlich von dem widerlichen, quasi-fotografischen Realismus ab, der die Werke des Propheten kennzeichnete.

Nach wenigen Wochen stellte sich heraus, daß die Aktion ein voller Erfolg war: Die Tournee der Bräute des Propheten wurde zu einem Triumph, und die Anhänger bemühten sich, in ihren Gruppen die erotischen Konfigurationen nachzuvollziehen, die Vincent zu Papier gebracht hatte; sie fanden ein derartiges Vergnügen daran, daß sich der Rhythmus der Versammlungen in den meisten Ländern verdreifachte. Die rituelle Orgie wurde also im Gegensatz zu anderen sexuellen Praktiken profaneren und jüngeren Ursprungs wie etwa die Swingermode nicht als etwas Veraltetes angesehen. Noch bezeichnender war es, daß die alltäglichen Gespräche unter den Anhängern, wenn sie auf eine gewisse Gegenliebe stießen, immer öfter von Zärtlichkeiten, intimen Liebkosungen oder sogar gegenseitigem Masturbieren begleitet wurden; kurz gesagt, die Resexualisierung der menschlichen Beziehungen schien ihr Ziel erreicht zu haben. Und da wurde man plötzlich auf eine Einzelheit aufmerksam, die in den ersten Momenten der Begeisterung allen entgangen war: Vincent hatte sich in seinem Wunsch zu stilisieren weit von der realistischen Darstellung des menschlichen Körpers entfernt. Der Phallus war zwar relativ ähnlich (auch wenn er geradliniger, unbehaart und ohne sichtbare Venen dargestellt war), aber die Scheide beschränkte sich in seinen Zeichnungen auf eine unbehaarte lange, schmale Spalte mitten im Unterleib, die in der Verlängerung der Arschspalte angesiedelt war und sich zwar weit öffnen konnte, um einen Pimmel aufzunehmen, aber für jede Art von Ausscheidungsfunktion ungeeignet war. Allgemeiner gesagt, waren alle Ausscheidungsorgane verschwunden, und die Wesen, die er sich in dieser Form ausgedacht hatte, konnten zwar einen Liebesakt vollziehen, waren aber ganz offensichtlich unfähig, sich zu ernähren.

Man hätte sich damit zufriedengeben und die Sache als rein künstlerische Konvention ansehen können, wäre nicht der Professor Anfang Dezember aus Lanzarote zurückgekommen, um über den Fortgang seiner Arbeit Bericht zu erstatten. Auch wenn ich noch im Lutetia wohnte, verbrachte ich die meiste Zeit in Chevilly-Larue; ich gehörte zwar nicht dem Führungsgremium an, war aber einer der wenigen, die die Ereignisse, die mit dem Tod des Propheten verbunden waren, als Augenzeuge miterlebt hatten, und alle vertrauten mir, selbst Flic verheimlichte mir nichts mehr. Natürlich passierte auch in Paris so einiges, es gab die Tagespolitik, ein kulturelles Leben; doch ich war mir sicher, daß sich die wichtigen, bedeutsamen Ereignisse in Chevilly-Larue abspielten. Ich war seit langem davon überzeugt, auch wenn ich diese Gewißheit weder in meinen Filmen noch in meinen Sketchen hatte zum Ausdruck bringen können, da ich vorher noch nicht wirklich mit diesem Phänomen konfrontiert worden war: Politische oder militärische Ereignisse, wirtschaftliche Wandlungen, ästhetische oder kulturelle Veränderungen können im Leben der Menschen manchmal eine sehr große Rolle spielen; aber nichts kommt je eine solche historische Bedeutung zu wie der Entstehung einer neuen oder dem Zusammenbruch einer bestehenden Religion. Den Bekannten, denen ich noch manchmal in der Bar des Lutetia begegnete, erzählte ich, daß ich schrieb; sie nahmen wahrscheinlich an, daß ich einen Roman verfaßte, und waren nicht sonderlich erstaunt darüber, denn ich hatte schon immer im Ruf gestanden, ein ziemlich literarischer Komiker zu sein. Wenn sie gewußt hätten, sagte ich mir manchmal, wenn sie gewußt hätten, daß es sich nicht um eine einfache romanhafte Erzählung handelte, sondern daß ich mich bemühte, eines der wichtigsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte zu schildern; wenn sie es gewußt hätten, sagte ich mir jetzt, hätte sie das nicht einmal sonderlich beeindruckt. Sie alle waren ein trübseliges Leben gewohnt, in dem sich so gut wie nichts änderte, waren es gewohnt, kaum noch Interesse für das reale Dasein zu zeigen, es höchstens noch zu kommentieren. Das konnte ich verstehen, auch mir war es ähnlich gegangen — und es ging mir weitgehend, wenn nicht gar in stärkerem Maße als ihnen, noch immer so. Nicht ein einziges Mal hatte ich, seit die Aktion MACHT DEN LEUTEN EINE FREUDE — GEBT IHNEN SEX gestartet worden war, daran gedacht, selbst die sexuellen Dienste der Bräute des Propheten in Anspruch zu nehmen; und ich hatte auch keine Anhängerin gebeten, mir die Gunst einer Fellatio oder einer simplen Masturbation zu gewähren, was sie sicherlich getan hätte; ich hatte noch immer Esther im Kopf, unter der Haut, überall. Ich erzählte Vincent das eines Tages, an einem schönen, schon leicht winterlichen Vormittag, während ich durch das Fenster in seinem Büro die Bäume in dem städtischen Park beobachtete: Mich könnte nur eine Aktion im Stil DEINE FRAU ERWARTET DICH retten, doch die Dinge entwickelten sich in eine andere Richtung, eine völlig andere Richtung. Er blickte mich traurig an, ich tat ihm leid, er konnte mich sicher gut verstehen, denn er erinnerte sich bestimmt noch an die gar nicht lange zurückliegende Zeit, in der seine Liebe zu Susan hoffnungslos zu sein schien. Ich wedelte schwach mit der Hand, summte »La-la-la …« und zog dabei eine Grimasse, die aber nicht wirklich witzig wirkte. Dann ging ich wie Zarathustra, der seinen Untergang begann, in Richtung Kantine.

Wie dem auch sei, ich nahm an der Zusammenkunft teil, bei der der Professor uns ankündigte, daß Vincents Zeichnungen keine einfache künstlerische Sichtweise seien, sondern daß sie eine Vorstellung vom Menschen der Zukunft gäben. Schon seit langem erschiene ihm die tierisch-menschliche Ernährung als primitives System, dessen energetische Rentabilität bescheiden war und das darüber hinaus viel zu viele Abfälle produzierte, die nicht nur ausgeschieden werden müßten, sondern in der Zwischenzeit auch den Organismus erheblich strapazierten. Schon seit langem denke er daran, den neuen Menschen mit dem System der Photosynthese auszustatten, das aufgrund einer Absonderlichkeit der Evolution der Pflanzenwelt vorbehalten war. Die direkte Verwendung der Sonnenenergie sei ein System, das eindeutig robuster, leistungsstärker und zuverlässiger sei — wie die praktisch unbegrenzte Lebensdauer, die manche Pflanzenarten erreichen konnten, bezeugte. Außerdem sei der Vorgang, der menschlichen Zelle autotrophe Fähigkeiten hinzuzufügen, längst nicht so schwierig, wie man sich vorgestellt hatte; seine Teams arbeiteten schon seit gewisser Zeit daran, und die Anzahl der betroffenen Gene sei erstaunlich gering. Ein solchermaßen umgewandeltes menschliches Wesen »ernähre« sich außer von der Sonnenenergie von Wasser und einer kleinen Menge Mineralsalze; der Verdauungsapparat sowie die Ausscheidungsorgane konnten verschwinden — der Überschuß an Mineralsalzen könne auf dem Umweg über den Schweiß mit dem Wasser abgesondert werden.

Vincent, der es gewohnt war, den Ausführungen des Professors nur aus der Ferne zu folgen, nickte mechanisch, und Flic dachte an etwas anderes: Und so wurde innerhalb weniger Minuten und auf der Grundlage einer schnell dahingekritzelten Zeichnung eines Künstlers die Genetische Standard-Korrektur beschlossen, die generell bei allen eines Tages wieder ins Leben zu rufenden DNA-Einheiten vorgenommen werden sollte und die einen endgültigen Bruch zwischen den Neo-Menschen und ihren Vorfahren darstellen würde. Am Rest des genetischen Codes sollte sich nichts ändern; aber trotzdem hatte man es mit einer neuen Spezies zu tun und strenggenommen mit einem neuen Zeitalter.