In der Nacht nach meinem ersten Kontakt mit Marie23 hatte ich einen seltsamen Traum. Ich befand mich inmitten einer Berglandschaft, die Luft war so klar, daß man die kleinsten Einzelheiten der Felsen und der Eiskristalle erkennen konnte; man hatte einen weiten Blick jenseits der Wolken, jenseits der Wälder bis zu einer Kette steiler Berge, auf denen ewiger Schnee glitzerte. Ein paar Meter unterhalb von mir war ein kleiner, mit Tierfellen bekleideter alter Mann mit sonnengegerbtem Gesicht wie ein kalmückischer Trapper, der geduldig rings um einen Pfahl ein Loch in den Schnee grub; dann begann er mit seinem kleinen Messer ein durchsichtiges Seil durchzuschneiden, das von optischen Fasern durchlaufen wurde. Ich wußte, daß es eines der Seile war, die in den durchsichtigen Saal führten, den von Schneeflächen umgebenen Saal, in dem sich die Herrscher der Welt versammeln. Im Blick des alten Mannes lag Klugheit und Grausamkeit. Ich wußte, daß ihm sein Vorhaben gelingen würde, da die Zeit für ihn arbeitete, und daß die Grundfesten der Welt einstürzen würden; er wurde von keiner bestimmten Motivation angetrieben, sondern nur von einer animalischen Beharrlichkeit; ich vermutete, daß er ein intuitives Wissen und die Fähigkeiten eines Schamanen besaß.
Wie die Träume der Menschen sind auch unsere Träume fast immer eine Vermischung bunt zusammengewürfelter Elemente der Realität, der man im Wachzustand ausgesetzt ist; manche Forscher haben darin den Beweis gesehen, daß es nicht nur eine einzige Realität gibt. Ihnen zufolge geben unsere Träume einen Einblick in »Paralleluniversen« im Sinne von Everett-De Witt, das heißt, andere Abzweigungen beobachtbarer Phänomene, die anläßlich gewisser Tagesereignisse aufgetaucht sind; die Träume wären demnach nicht Ausdruck eines Begehrens oder einer Angst, sondern eine geistige Projektion konsistenter Ereignissequenzen, die mit der globalen Entwicklung der Wellenfunktion des Universums vereinbar, aber nicht direkt nachweisbar sind. Nichts deutete in dieser Hypothese daraufhin, was es den Träumen ermöglicht, die üblichen Grenzen der kognitiven Funktion zu überschreiten, die einem gegebenen Beobachter den Zugang zu den nicht nachweisbaren Ereignissequenzen in seinem eigenen Zweig des Universums verwehren; im übrigen konnte ich mir nicht vorstellen, was in meinem Dasein zu einem derart divergenten Zweig des Universums hätte führen können.
Anderen Interpretationen zufolge sind einige unserer Träume anderer Art als jene, die die Menschen hatten; sie sind künstlichen Ursprungs, spontane Produktionen halbgeistiger Formen, die durch die modifizierbare Verflechtung elektronischer Elemente des Netzes hervorgebracht werden. Ein riesiger Organismus sei im Entstehen begriffen und warte darauf, ein allgemeines elektronisches Bewußtsein zu bilden, könne sich aber zur Zeit nur durch die Produktion von Traumwellenketten manifestieren, die durch entwicklungsfähige Untergruppen des Netzes hervorgebracht würden und gezwungen waren, sich über die Übertragungskanäle zu verbreiten, die die Neo-Menschen geöffnet hatten; daher versuche er die Öffnung dieser Kanäle unter Kontrolle zu bekommen. Wir selbst waren unvollständige Wesen, Übergangswesen, deren Bestimmung es war, das Anbrechen einer digitalen Zukunft vorzubereiten. Was auch immer diese paranoide Hypothese für sich haben mag, fest steht jedenfalls, daß eine Softwaremutation stattgefunden hat, und zwar vermutlich zu Beginn der Zweiten Verringerung, und daß sie zunächst das Codierungssystem angegriffen hat, ehe sie sich nach und nach auf alle Programmebenen des Netzes ausbreitete; niemand wußte genau, welche Ausmaße sie angenommen hatte, vermutlich aber sehr große, und die Betriebssicherheit unseres Übertragungssystems war bestenfalls sehr zufallsbedingt geworden.
Die Gefahr der Überproduktion von Träumen war seit der Zeit der Gründer registriert worden und ließ sich auch auf einfachere Weise durch die Bedingungen absoluter physischer Isolation erklären, unter denen wir zu leben berufen waren. Kein wirksames Gegenmittel war bekannt. Der einzige Schutz bestand darin, das Senden und Empfangen von Nachrichten zu vermeiden, jeden Kontakt mit der Gemeinschaft der Neo-Menschen abzubrechen und sich auf seine eigenen physiologischen Elemente zu konzentrieren. Ich zwang mich dazu und installierte die wichtigsten biochemischen Kontrollsysteme: Es dauerte mehrere Wochen, bis die Produktion meiner Träume zu ihrem normalen Niveau zurückfand und ich mich wieder auf den Lebensbericht von Daniel1 und meinen Kommentar konzentrieren konnte.