Daniel25,10

Die meisten Zeugnisse bestätigen es uns: Tatsächlich hatte die elohimitische Kirche von dieser Epoche an immer größeren Zulauf und verbreitete sich, ohne auf Widerstand zu treffen, in der gesamten westlichen Welt. Nachdem sie sich in knapp zwei Jahren die westlichen buddhistischen Strömungen in Rekordzeit einverleibt hatte, absorbierte die elohimitische Bewegung ebenso leicht die letzten Reste des dem Untergang geweihten Christentums, ehe sie sich nach Asien wandte, das sie von Japan ausgehend in nicht minder überraschendem Tempo eroberte, vor allem wenn man bedenkt, daß sich dieser Kontinent jahrhundertelang allen christlichen Missionierungsversuchen siegreich widersetzt hatte. Allerdings hatten sich die Zeiten geändert, und der Elohimismus trat gewissermaßen in die Fußstapfen des Konsumkapitalismus — der dadurch, daß er die Jugend als begehrenswertestes höchstes Ziel erkor, nach und nach den Respekt vor der Tradition und den Ahnenkult zerstört hatte —, da er den Menschen versprach, ihre Jugend und die damit verbundenen Vergnügen für alle Zeiten bewahren zu können.

Erstaunlicherweise stellte der Islam viel länger ein Bollwerk des Widerstands dar. Die muslimische Religion, die sich auf eine ständige massive Einwanderung stützte, verstärkte sich in den westlichen Ländern praktisch im gleichen Rhythmus wie der Elohimismus; auch wenn sie sich vornehmlich an die aus dem Maghreb und Schwarzafrika stammende Bevölkerung wandte, hatte sie dennoch zunehmenden Erfolg bei den »alteingesessenen« Europäern, und zwar ausschließlich aufgrund der ihr innewohnenden Machohaltung. Denn der Verzicht auf die Machohaltung hatte zwar die Männer unglücklich gemacht, die Frauen jedoch nicht glücklicher. Immer mehr Männer und vor allem Frauen träumten von der Rückkehr zu einem System, in dem die Frauen züchtig und gehorsam waren und sie ihre Jungfräulichkeit bewahrten. Selbstverständlich nahm der erotische Druck, dem die Körper der Mädchen ausgesetzt waren, immer mehr zu, und die Ausbreitung des Islam wurde nur durch eine Reihe von Arrangements ermöglicht, die unter dem Einfluß einer neuen Generation von Imams vollzogen wurden. Sie ließen sich zugleich von der katholischen Tradition, Reality-TV und dem Gespür fürs Theatralische der amerikanischen Fernseh-Evangelisten anregen und entwickelten für das muslimische Publikum Drehbücher mit erbaulichen Lebensabläufen, die auf Bekehrung und Vergebung der Sünden gründeten, obwohl diese beiden Begriffe der islamischen Tradition eigentlich relativ fremd waren. Bei dem Standardschema, das in identischer Form in Dutzenden von telenovelas reproduziert wurde, die zumeist in der Türkei oder in Nordafrika gedreht wurden, führt ein Mädchen zum Entsetzen seiner Eltern zunächst ein ausschweifendes Leben, geprägt von Alkohol, Drogen und hemmungsloser sexueller Freiheit. Und dann, aufgrund eines Ereignisses, das ihm einen heilsamen Schock versetzt (eine schmerzhafte Abtreibung; die Begegnung mit einem jungen frommen rechtschaffenen Muslim, der ein Ingenieurstudium absolviert), läßt es die Versuchungen der Welt weit hinter sich und wird eine fügsame, keusche, Schleier tragende Ehefrau. Das gleiche Schema gab es auch in einer männlichen Version, bei der in der Regel Rapper in Szene gesetzt waren und Kriminalität und Konsum harter Drogen im Vordergrund standen. Diese scheinheiligen Filme hatten vor allem deshalb so großen Erfolg, weil das Alter, das für die Bekehrung gewählt wurde (zwischen zweiundzwanzig und fünfundzwanzig Jahren) in etwa dem Alter entsprach, in dem die maghrebinischen Frauen, die in ihrer Jugend unglaublich schön gewesen waren, allmählich dicker wurden und das Bedürfnis hatten, Kleider zu tragen, die ihren Körper stärker verhüllten. Im Verlauf von ein oder zwei Jahrzehnten gelang es dem Islam, in Europa die Rolle zu übernehmen, die der Katholizismus in seinen Glanzzeiten gespielt hatte: Der Islam wurde zu einer »offiziellen« Religion, die Einfluß auf den Kalender nahm und kleine Zeremonien organisierte, die dem Zeitablauf einen gewissen Rhythmus verliehen, einer Religion mit Dogmen, die primitiv genug waren, um einer möglichst großen Anzahl von Menschen den Zugang zu erlauben, und die zugleich eine gewisse Mehrdeutigkeit bewahrten, um auch die hellsten Kopfe zu betören, wobei theoretisch von den Leuten eine unangreifbare moralische Strenge gefordert wurde; doch in der Praxis gab es Zwischenlösungen, die es erlaubten, jeden x-beliebigen Sünder aufzunehmen. Das gleiche Phänomen vollzog sich auch in den USA, und zwar vor allem innerhalb der schwarzen Bevölkerung — allerdings mit dem Unterschied, daß der Katholizismus, der von den lateinamerikanischen Einwanderern getragen wurde, dort lange eine wichtigere Stellung einnahm.

All das konnte natürlich nur eine gewisse Zeit dauern, und die Weigerung zu altern, ein solides Leben zu führen und sich in eine gute dicke Hausfrau und Mutter zu verwandeln, sollte ein paar Jahre später auch die Bevölkerung anstecken, die von Einwanderern abstammte. Ist ein Gesellschaftssystem erst einmal zerstört, ist diese Zerstörung endgültig, dann besteht keine Möglichkeit des Zurück mehr. Die Gesetze der gesellschaftlichen Entropie, die im Prinzip für alle menschlichen Bezienungssvsteme gelten, wurden erst zweihundert Jahre später von Hewlett und Dude völlig stringent nachgewiesen; aber sie waren schon seit langem intuitiv bekannt. Das Ende des Islam in der westlichen Welt erinnert auf seltsame Weise an den Niedergang des Kommunismus ein paar Jahrzehnte zuvor: Im einen wie im anderen Fall ging der Gegenschlag von den Ursprungsländern aus und fegte in wenigen Jahren die in den Gastländern aufgebauten Organisationen hinweg, obwohl sie mächtig und steinreich waren. Als die arabischen Länder nach jahrelanger Unterminierungsarbeit, die vor allem über geheime Internetverbindungen und das Herunterladen dekadenter Kulturprodukte erreicht wurde, endlich Zugang zu einer Lebensweise bekamen, die auf Massenkonsum, sexueller Freiheit und Freizeitgestaltung basierte, war die Begeisterung der Bevölkerung ebenso lebhaft und groß wie zirka fünfzig Jahre zuvor in den kommunistischen Ländern. Die Bewegung entstand, wie so oft in der Geschichte der Menschheit, in Palästina, genauer gesagt, sie ging auf die plötzliche Weigerung der jungen Palästinenserinnen zurück, ihr Dasein darauf zu beschränken, ununterbrochen zukünftige Dschihadisten zu gebären, und auf ihren Wunsch, in den Genuß ebensolcher lockeren Sitten zu kommen wie ihre israelischen Nachbarinnen. Innerhalb weniger Jahre breitete sich der Wandel, der von der Technomusik getragen wurde (so wie es einige Jahre zuvor die Anziehungskraft der Rockmusik in der kapitalistischen Welt und die Nutzung des Web noch wirksamer getan hatten), auf sämtliche arabischen Länder aus, die mit einer Massenrevolte der Jugend konfrontiert wurden, der sie natürlich nicht gewachsen waren. Dadurch wurde den Bewohnern der westlichen Länder auf einmal klar, daß die muslimischen Länder nur aus Unwissenheit und durch Zwang bei ihrem primitiven Glauben geblieben waren; kaum waren sie ihres Hinterlands beraubt, brachen die islamistischen Bewegungen der westlichen Länder mit einem Schlag zusammen.

Der Elohimismus dagegen war der Freizeitgesellschaft, in der er entstanden war, völlig angepaßt. Er übte keinerlei moralische Zwänge aus und beschränkte das menschliche Dasein nur auf die Kategorien Eigennutz und Begehren, berücksichtigte jedoch das fundamentale Versprechen, das allen monotheistischen Religionen gemein ist: den Sieg über den Tod. Er schloß alle geistigen oder zu Verwirrung führenden Dimensionen aus und begrenzte die Tragweite dieses Sieges und den Inhalt des Versprechens auf die unbegrenzte Verlängerung des materiellen Lebens, also auf die unbegrenzte Befriedigung der sinnlichen Begierden.

Die erste grundlegende Zeremonie, die die Bekehrung jedes neuen Anhängers kennzeichnete — die DNA-Entnahme —, wurde von der Unterzeichnung einer Urkunde begleitet, in der der Postulant nach seinem Tod seine gesamte Habe der Kirche übertrug — und diese behielt sich die Möglichkeit vor, sie zu investieren, versprach ihm aber, sie ihm nach seiner Wiederauferstehung zur eigenen Verfügung zurückzugeben. Die Sache wirkte vor allem deshalb nicht schockierend, weil das Ziel verfolgt wurde, jede natürliche Abstammung und somit jedes Erbschaftssystem auszuschalten, und der Tod als ein neutraler Zeitraum, als einfache Stase in Erwartung eines verjüngten Körpers dargestellt wurde. Nach einer intensiven Werbekampagne in amerikanischen Geschäftskreisen konnten sie als ersten Steve Jobs bekehren — der eine partielle Ausnahmebefugnis zugunsten der Kinder, die er gezeugt hatte, ehe er den Elohimismus entdeckte, beantragte und erhielt. Kurz darauf folgten Bill Gates, Richard Branson und eine zunehmende Anzahl von Führungskräften der wichtigsten weltweiten Unternehmen. Auf diese Weise wurde die Kirche äußerst reich, und schon wenige Jahre nach dem Tod des Propheten stellte sie, sowohl was das investierte Kapital als auch die Anzahl der Anhänger anging, die bedeutendste Religion Europas dar.

Die zweite grundlegende Zeremonie war der Eintritt in die Erwartung der Wiederauferstehung — mit anderen Worten der Selbstmord. Nach einer Zeit des Schwankens und der Ungewißheit setzte sich nach und nach der Brauch durch, ihn öffentlich mit einem einfachen, harmonischen Ritual zu einem Zeitpunkt zu vollziehen, den der Anhänger selbst bestimmte, wenn er das Gefühl hatte, daß sein Körper nicht mehr imstande war, ihm die Freuden zu verschaffen, die er mit gutem Recht von ihm erwarten durfte. Der Selbstmord wurde mit großem Vertrauen begangen, mit der Gewissheit einer baldigen Wiederauferstehung — was recht erstaunlich war, denn Miskiewicz hatte trotz der kolossalen Mittel, die ihm für seine Forschungsarbeit zur Verfügung standen, keine bemerkenswerten Fortschritte gemacht, er konnte zwar die unbegrenzte Konservierung der DNA garantieren, war aber im Moment noch außerstande, einen lebendigen Organismus zu erzeugen, der komplexer war als eine einfache Zelle. Das Versprechen der Unsterblichkeit, das das Christentum seinerzeit gegeben hatte, ruhte allerdings auf einer noch schwächeren Grundlage. Der Mensch hatte letztlich nie die Vorstellung der Unsterblichkeit aufgegeben, und auch wenn er unter Zwang seinem alten Glauben entsagen mußte, hatte er die Sehnsucht danach nie vergessen, sich nie damit abgefunden, er war bereit, aufgrund einer x-beliebigen Erklärung, wenn sie nur ein ganz klein wenig überzeugend war, sich von einem neuen Glauben leiten zu lassen.