Daniel25,16

Zu Anfang wurde die Höchste Schwester gezeugt, die die Erste ist. Anschließend wurden die Sieben Gründer gezeugt, die Central City errichteten. Die Lehre der Höchsten Schwester hat die Grundlage für unsere philosophischen Anschauungen geschaffen, die politische Organisation der neo-menschlichen Gemeinschaften dagegen verdankt praktisch alles den Sieben Gründern. Doch sie war ihren eigenen Aussagen zufolge nur ein unwichtiger Faktor, der zum einen durch die biologische Entwicklung bestimmt wurde — die funktionelle Autonomie der Neo-Menschen war erhöht worden — und zum anderen durch einen historischen Prozeß, der in den vorherigen Gesellschaften bereits vor langer Zeit begonnen und zur Verarmung der zwischenmenschlichen Beziehungen geführt hatte. Die ausschlaggebenden Gründe für die radikale Trennung unter den Neo-Menschen waren übrigens in keiner Weise zwingend, und alles weist darauf hin, daß sich diese Trennung erst allmählich vollzogen hat, vermutlich im Verlauf mehrerer Generationen. Die totale körperliche Trennung ist in Wirklichkeit nur eine unter mehreren möglichen gesellschaftlichen Formen, die mit der Lehre der Höchsten Schwester vereinbar sind, eine Form, die strenggenommen nicht so sehr eine Konsequenz dieser Lehre ist, sondern eher einer globalen Entwicklung entspricht.

Nachdem es den körperlichen Kontakt nicht mehr gab, verschwand auch die sinnliche Begierde. Ich hatte mich von Marie23 in keiner Weise körperlich angezogen gefühlt — ebensowenig wie von Esther31 natürlich, die nicht mehr in dem Alter war, in dem sich solche Sinnesempfindungen erwecken lassen. Ich war überzeugt, daß weder Marie23, obwohl sie abtrünnig geworden war, noch Marie22, trotz der seltsamen Episode kurz vor ihrem Tod, die mein Vorgänger geschildert hat, jemals eine Form von sinnlicher Begierde empfunden hatten. Was sie dagegen empfunden hatten, war eine äußerst schmerzhafte Sehnsucht nach dieser Begierde, war das Bedürfnis, sie zu erfahren und sich wie ihre fernen Vorfahren von dieser Kraft, die so machtvoll zu sein schien, überwältigen zu lassen. Auch wenn sich Daniel1 ausführlich mit dem Thema der Sehnsucht nach der sinnlichen Begierde beschäftig hat, bin ich bisher von diesem Phänomen verschont geblieben, so daß ich mit Esther31 in aller Ruhe die Beziehungen unter unseren jeweiligen Vorgängern in allen Einzelheiten erörtern kann; sie bleibt ihrerseits mindestens ebenso kühl dabei, und so trennen wir uns ohne Bedauern und ohne Erregung nach unseren sporadischen Intermediationen und wenden uns wieder unserem ruhigen, beschaulichen Leben zu, das den Menschen im klassischen Zeitalter vermutlich unerträglich langweilig vorgekommen wäre.

Die Existenz einer residuellen geistigen Tätigkeit, die keinerlei Interessen verfolgt und der reinen Erkenntnis gewidmet ist, ist einer der Grundpfeiler der Lehre der Höchsten Schwester; nichts hat bisher erlaubt, diese Existenz in Frage zu stellen.

Ein beschränkter Kalender mit winzigen Episoden der Anmut (zum Beispiel wenn die Sonnenstrahlen über die Fensterläden gleiten oder wenn ein plötzlich aufkommender heftiger Nordwind Wolkentürme mit drohenden Konturen vertreibt) verleiht meinem Dasein, dessen genaue Dauer ein unwichtiger Faktor ist, einen gewissen Rhythmus. Ich bin mit Daniel24 identisch und weiß, daß ich in Daniel26 einen ebensolchen Nachfolger haben werde. Den begrenzten Erinnerungen, die wir von unserem jeweiligen Dasein haben, das mit dem unserer Vorgänger im wesentlichen identisch ist, fehlt die erforderliche Tiefenschärfe, um als Grundlage für eine individuelle Bearbeitung mit romanhaftem Charakter zu dienen. Das Leben der Menschen verläuft im großen und ganzen in den gleichen Bahnen, und diese geheime Wahrheit, die innerhalb des gesamten historischen Zeitalters verschleiert worden ist, konnte erst bei den Neo-Menschen Gestalt annehmen. Wir haben das unvollständige Paradigma der Form verworfen und trachten statt dessen danach, uns die Welt der unzähligen Potentialitäten zu eigen zu machen. Wir haben das Zwischenspiel des Werdens wieder geschlossen und schon jetzt einen grenzenlosen, unbestimmten Zustand der Stase erreicht.