Ich hatte zwei Stunden Aufenthalt auf dem Flughafen von Madrid, ehe ich nach Almeria weiterflog; diese beiden Stunden genügten, um den seltsam abstrakten Zustand hinwegzufegen, in den mich der Aufenthalt bei den Elohimiten versetzt hatte, und mich allmählich wieder den Schmerz spüren zu lassen, wie wenn man Schritt für Schritt in eiskaltes Wasser geht; als ich wieder ins Flugzeug stieg, zitterte ich trotz der Hitze buchstäblich vor Angst. Esther wußte, daß ich am selben Tag weiterfliegen würde, und es hatte mich ungeheure Anstrengung gekostet, ihr nicht zu gestehen, daß ich zwei Stunden Aufenthalt auf dem Flughafen von Madrid hatte, die Aussicht, mir anhören zu müssen, daß zwei Stunden zu kurz seien, die Taxifahrt usw., war mir ziemlich unerträglich. Dennoch hatte ich während dieser zwei Stunden, in denen ich zwischen den Plattenläden, die eine schamlose Werbekampagne für die letzte CD von David Bisbai betrieben (Esther hatte ziemlich leicht bekleidet bei einem der letzten Clips des Sängers eine Statistenrolle gehabt), den Punta de Fumadores und den Jennyfer-Modeboutiquen hin und her irrte, den immer unerträglicher werdenden Eindruck, ihren jungen Körper in einem erotischen Sommerkleid ein paar Kilometer von hier entfernt unter den bewundernden Blicken der Männer durch die Straßen der Stadt gehen zu sehen. Ich setzte mich in einen »Tip Tap Tapas« und bestellte widerliche Würstchen, die in einer sehr fetten Soße schwammen, und trank dazu mehrere Gläser Bier; ich spürte, wie sich mein Magen aufblähte, sich mit Scheißfraß füllte, und da ging mir der Gedanke durch den Kopf, den Zerstörungsprozeß bewußt zu beschleunigen, vorzeitig zu altern, abstoßend und fett zu werden, um mich Esthers Körper endgültig unwürdig zu fühlen. In dem Augenblick, als ich mein viertes Glas Mahou an die Lippen setzte, ertönte im Radio der Bar ein Lied, dessen Interpreten ich nicht kannte, auf jeden Fall war es nicht David Bisbai, sondern eher ein herkömmlicher Latino, der in einer Stimmlage sang, die die jungen Spanier jetzt lächerlich fanden, kurz gesagt, eher ein Sänger für Hausfrauen als für kleine Miezen. Aber wie dem auch sei, der Refrain lautete: »Mujer es fatal«, und dabei wurde mir klar, daß ich eine so einfache, so kindische Feststellung noch nie in so zutreffender Formulierung gehört hatte und daß Lyrik, wenn sie einen einfachen Ausdruck fand, wirklich etwas Großartiges war, wirklich the big thing, denn das spanische Wort fatal traf den Nagel auf den Kopf; ich wüßte kein anderes Wort, das meiner Situation besser entspräche, es war die Hölle, eine richtige Hölle, ich war selbst in die Falle gegangen, hatte selbst den Wunsch gehabt hineinzutappen, wußte aber nicht, wie ich wieder hinauskommen konnte, und war mir nicht einmal sicher, ob ich wirklich hinauswollte, die Sache wurde in meinem Geist — wenn ich überhaupt noch einen besaß — immer verworrener, auf jeden Fall hatte ich einen Körper, einen leidenden Körper, der vom Begehren zugrunde gerichtet wurde.
Als ich in San Jose ankam, legte ich mich sofort ins Bett, nachdem ich eine starke Dosis Schlaftabletten eingenommen hatte. An den folgenden Tagen irrte ich nur von Zimmer zu Zimmer in meiner Villa; ich war zwar unsterblich, aber im Augenblick änderte das nicht viel, Esther rief immer noch nicht an, und das war das einzige, was mir wichtig erschien. Als ich mir zufällig eine Kultursendung im spanischen Fernsehen ansah (es war übrigens mehr als Zufall, eher ein Wunder, denn Kultursendungen sind im spanischen Fernsehen sehr selten, die Spanier haben nichts für Kultursendungen und Kultur im allgemeinen übrig, das ist ein Bereich, dem sie äußerst feindlich gegenüberstehen, wenn man über Kultur spricht, hat man manchmal den Eindruck, daß man sie gleichsam persönlich beleidigt), erfuhr ich, daß Immanuel Kants letzte Worte auf seinem Totenbett »Es ist gut« gewesen waren. Ich wurde augenblicklich von einem schmerzhaften Lachkrampf erfaßt, der von Bauchschmerzen begleitet wurde, die drei Tage dauerten und damit endeten, daß ich Galle spuckte. Ich rief einen Arzt, der eine Lebensmittelvergiftung diagnostizierte, mich fragte, was ich in den letzten Tagen gegessen hatte, und mir empfahl, Milchprodukte zu kaufen. Ich kaufte also Milchprodukte und ging am selben Abend wieder ins »Diamond Nights«, das mir den Eindruck eines redlichen Lokals gemacht hatte, in dem man nicht übermäßig zum Verzehr gezwungen wurde. Es saßen gut dreißig Mädels an der Bar, aber nur zwei Kunden. Ich entschied mich für eine Marokkanerin, die wohl kaum älter als siebzehn war; ihr Dekollete brachte ihre großen Brüste gut zur Geltung, und ich glaubte wirklich, es würde klappen, aber als wir im Zimmer waren, mußte ich mich den Tatsachen beugen: Meine Erektion war so kläglich, daß die Frau nicht einmal ein Kondom über meinen Schwanz ziehen konnte, und unter diesen Bedingungen weigerte sie sich, mir einen zu blasen, also was nun? Sie holte mir schließlich einen runter und blickte dabei starr in eine Ecke des Raums, sie ging zu unsanft dabei vor, es tat mir weh. Nach einer Minute spritzte ein kleiner durchsichtiger Strahl hervor, sie ließ sogleich meinen Pimmel los, und ich zog mir die Hose wieder hoch, ehe ich pinkeln ging.
Am nächsten Morgen bekam ich ein Fax von dem Typen, der die Regie bei dem Film Diogenes der Kyniker geführt hatte. Er habe gehört, daß ich darauf verzichtete, Die Swinger der Autobahn zu verfilmen, das fände er wirklich schade; er sei willens, selbst die Regie zu übernehmen, wenn ich mich bereit erkläre, das Drehbuch zu schreiben. Er müsse in der darauffolgenden Woche nach Madrid kommen und schlug mir vor, wir könnten uns dort treffen, um über die Sache zu sprechen.
Ich stand mit diesem Typen nicht wirklich in regelmäßigem Kontakt, tatsächlich hatte ich ihn seit über fünf Jahren nicht mehr gesehen. Als ich das Lokal betrat, wurde mir bewußt, daß ich völlig vergessen hatte, wie er aussah; ich setzte mich an den erstbesten Tisch und bestellte ein Bier. Zwei Minuten später trat ein kleiner, rundlicher, kraushaariger Mann um die Vierzig, der eine seltsame Jagdweste mit zahlreichen Taschen trug, mit einem Glas in der Hand lächelnd an meinen Tisch. Er war schlecht rasiert, seinem Gesicht war eine gewisse Verschlagenheit anzumerken, und ich erkannte ihn noch immer nicht wieder, trotzdem forderte ich ihn auf, sich zu mir zu setzen. Mein Agent habe ihm mein Expose und das Storyboard für den Trailer zum Lesen gegeben, sagte er; er fände das Projekt außergewöhnlich interessant. Ich nickte mechanisch und warf dabei einen Seitenblick auf mein Handy, bei meiner Ankunft am Flughafen hatte ich Esther eine Nachricht hinterlassen, um sie zu informieren, daß ich in Madrid war. Sie rief im richtigen Augenblick an, nämlich gerade als ich mich in meine Widersprüche verstrickte, und versprach in zehn Minuten vorbeizukommen. Dann blickte ich wieder zu dem Regisseur auf, ich konnte mich immer noch nicht an seinen Namen erinnern, aber mir wurde klar, daß ich ihn nicht mochte, ich mochte auch nicht sein Menschenbild, und überhaupt hatte ich nichts mit ihm am Hut. Er schlug mir jetzt vor, gemeinsam mit mir an dem Drehbuch zu arbeiten; bei diesem Gedanken zuckte ich zusammen. Er merkte es, machte einen Rückzieher und versicherte mir, daß ich selbstverständlich allein daran arbeiten könne, wenn mir das lieber sei, und er mir völlig vertraue. Ich hatte nicht die geringste Lust, mich mit diesem beknackten Drehbuch zu beschäftigen, ich wollte nur leben, noch ein bißchen leben, wenn es möglich war, aber ich konnte nicht offen mit ihm darüber reden, denn dieser Typ hatte ganz offensichtlich eine scharfe Zunge, so daß sich die Nachricht sehr schnell in der Branche herumgesprochen hätte, und aus irgendwelchen dunklen Gründen — vielleicht auch nur aus Überdruß — hatte ich das Bedürfnis, noch ein paar Monate lang den Schein zu wahren. Um das Gespräch nicht einschlafen zu lassen, erzählte ich ihm die Geschichte von dem Deutschen, der einen Landsmann, den er im Internet kennengelernt hatte, aufgegessen hatte. Als erstes trennte er ihm den Penis ab, briet diesen mit Zwiebeln an, und dann verzehrten sie ihn gemeinsam. Anschließend tötete er ihn, schnitt ihn in Stücke und bewahrte diese in seiner Tiefkühltruhe auf. Ab und zu nahm er ein Stück heraus, taute es auf und bereitete sich daraus eine Mahlzeit zu, und zwar jedesmal nach einem anderen Rezept. Das gemeinsame Verspeisen des Penis sei eine tiefgehende religiöse Erfahrung, ein Augenblick echter Kommunion zwischen ihm und seinem Opfer gewesen, wie er den Untersuchungsbeamten berichtete. Der Regisseur hörte mir mit einem dümmlichen und zugleich grausamen Lächeln zu, da er wohl vermutete, ich würde diese Elemente für mein Drehbuch verwenden, und freute sich schon über die abstoßenden Aufnahmen, die er damit drehen könnte. Zum Glück kam Esther mit strahlendem Lächeln herein, wobei ihr der Plissee-Sommerrock um die Schenkel wirbelte, und warf sich mir so leidenschaftlich in die Arme, daß ich alles andere vergaß. Sie setzte sich, bestellte sich eine Limonade mit Pfefferminzsirup und wartete brav darauf, daß wir das Gespräch beendeten. Der Regisseur warf ihr ab und zu anerkennende Blicke zu — sie hatte die Füße auf den Stuhl ihr gegenüber gestellt und die Beine gespreizt, sie trug keinen Slip, und all das schien ganz normal und logisch zu sein, eine simple Konsequenz der herrschenden Temperatur, ich machte mich daraufgefaßt, daß sie sich bald die Muschi mit einer Papierserviette abtrocknen würde. Endlich verabschiedete er sich, und wir versprachen, in Kontakt zu bleiben. Zehn Minuten später war ich in ihr und fühlte mich total wohl. Das Wunder ereignete sich schon wieder, ebenso stark wie am ersten Tag, und ich glaubte noch einmal — zum letzten Mal — daran, daß es ewig währen würde.
Nicht erwiderte Liebe ist eine wahre Qual. In den folgenden Monaten, während der Sommer von Spanien Besitz ergriff, hätte ich mir noch einreden können, daß alles in Ordnung und unsere Liebe auf beiden Seiten gleich stark war; aber ich habe leider nie eine große Begabung dafür gehabt, mich selbst zu belügen. Zwei Wochen später besuchte sie mich in San Jose, und auch wenn sie sich mir noch immer mit der gleichen Leidenschaft und ohne die geringste Hemmung hingab, stellte ich doch fest, daß sie immer öfter ein paar Schritte abseits ging, das Handy in der Hand, um zu telefonieren. Sie lachte oft bei diesen Gesprächen, öfter als mit mir, versprach, daß sie bald zurückkommen werde, und der Vorschlag, den ich ihr machen wollte, den Sommer mit mir zu verbringen, kam mir immer sinnloser vor; als ich sie schließlich zum Flughafen zurückfuhr, war ich fast erleichtert. Ich hatte den Bruch vermieden, war noch mit ihr zusammen, wie man so schön sagt, und in der folgenden Woche fuhr ich nach Madrid.
Sie ging oft in Diskotheken, das wußte ich, und tanzte manchmal dort die ganze Nacht, aber sie schlug mir nie vor, sie zu begleiten. Ich stellte mir vor, wie sie zu ihren Freunden, die mit ihr ausgehen wollten, sagte: »Nein, heute abend treffe ich mich mit Daniel…« Inzwischen kannte ich die meisten von ihnen, viele waren Studenten oder Schauspieler; häufig Typen im groove-Stil mit halblangem Haar und bequemer Kleidung; andere dagegen machten sich einen Spaß daraus, sich wie ein Macho oder ein Latin lover zu kleiden. Aber alle waren natürlich jung, wie hätte es auch anders sein sollen? Wie viele unter ihnen, fragte ich mich manchmal, waren wohl ihre Liebhaber? Sie tat nie etwas, was in mir den Eindruck erweckt hätte, daß ich fehl am Platz war, aber andererseits hatte ich auch nie das Gefühl, ihrem Freundeskreis anzugehören. Ich erinnere mich noch an einen Abend, als wir etwa zu zehnt in einer Bar saßen, es mochte gegen zweiundzwanzig Uhr gewesen sein, und alle angeregt die Vorteile verschiedener Diskotheken priesen, einige davon, die eher in Richtung House Music gingen, andere, in denen Trance gespielt wurde. Seit zehn Minuten hatte ich eine irrsinnige Lust, ihnen zu sagen, daß auch ich diese Welt gern kennenlernen, mich mit ihnen amüsieren und die Nacht durchmachen wollte; ich war bereit, sie anzuflehen, mich mitzunehmen. Doch dann sah ich zufällig mein Gesicht in einem Spiegel und kapierte: Ich war hoch in den Vierzigern, mein Gesicht war sorgenvoll, starr, von Lebenserfahrung, Verantwortung und Kummer gezeichnet; ich sah wirklich nicht wie jemand aus, mit dem man Lust haben könnte, sich zu amüsieren. Ich hatte keine Chance.
Im Verlauf der Nacht, nachdem ich mit Esther geschlafen hatte (das war das einzige, das immer noch gut klappte, vermutlich war es die einzige jugendliche, unverbrauchte Seite meiner selbst) und ihren weißen, glatten Körper betrachtete, der im Mondlicht ruhte, dachte ich mit schmerzlichem Gefühl an Bratarsch zurück. Wenn ich den Worten des Evangeliums entsprechend an dem Maß gemessen würde, das ich selbst angewandt hatte, dann stand es schlecht um mich, denn es ließ sich nicht leugnen, daß ich mich Bratarsch gegenüber mitleidlos verhalten hatte — was nicht heißen soll, daß Mitleid etwas geändert hätte: Es gibt viele Dinge, die man aus Mitgefühl tun kann, aber nicht einen hochkriegen, nein, das war nicht möglich.
Als ich Bratarsch kennenlernte, war ich etwa dreißig und begann einen gewissen Erfolg zu haben — noch nicht beim breiten Publikum, aber immerhin einen Achtungserfolg. Ich bemerkte ziemlich bald diese bleiche dicke Frau, die alle meine Veranstaltungen besuchte, sich in die erste Reihe setzte und mir jedesmal ihr Autogrammheft vorlegte, damit ich es signierte. Es dauerte etwa sechs Monate, ehe sie es wagte, mich anzusprechen — nein, ich glaube, ich habe schließlich selbst die Initiative ergriffen. Sie war eine gebildete Frau, unterrichtete Philosophie an einer Pariser Universität, und ich habe ihr wirklich keinerlei Mißtrauen entgegengebracht. Sie bat mich um die Erlaubnis, den Text meiner Sketche mit einem Kommentar im Cahier d'etudes phenomenologiques veröffentlichen zu dürfen; ich ging natürlich darauf ein. Ich fühlte mich ein wenig geschmeichelt, das gebe ich zu, schließlich hatte ich bloß das Abitur, nicht mal studiert, und sie verglich mich mit Kierkegaard. Ein paar Monate lang haben wir per Internet korrespondiert, doch nach und nach artete die Sache aus, ich nahm eine Einladung zum Abendessen bei ihr an, ich hätte mich gleich in acht nehmen sollen, als ich ihr Hauskleid sah, ich habe es immerhin geschafft, fortzugehen, ohne sie allzusehr zu demütigen, zumindest hatte ich das gehofft, aber schon am nächsten Tag erhielt ich die ersten pornographischen E-Mails. »Ach, wenn ich dich endlich in mir spüre, wenn ich spüre, wie dein Stengel aus Fleisch meine Blume öffnet…«, es war schrecklich, sie schrieb wie Gerard de Villiers. Sie war nicht sehr attraktiv, sah älter aus, als sie war, denn in Wirklichkeit war sie erst siebenundvierzig, als ich sie kennenlernte — hatte also genau das gleiche Alter wie ich zu dem Zeitpunkt, da ich Esther kennenlernte. Ich sprang aus dem Bett, als mir das bewußt wurde, hechelte vor Beklemmung und ging im Schlafzimmer auf und ab — Esther schlief friedlich und hatte die Bettdecke zur Seite geschoben, mein Gott, wie hübsch sie doch war.
Ich hatte mir damals vorgestellt — fünfzehn Jahre später dachte ich noch voller Scham und Ekel daran zurück — ich hatte mir vorgestellt, daß das sexuelle Begehren ab einem gewissen Alter verschwand oder daß es einen zumindest einigermaßen in Ruhe ließ. Wie hatte ich nur trotz meiner, wie ich glaubte, so bissigen und scharfzüngigen Art einer so lächerlichen Illusion auf den Leim gehen können? Im Prinzip kannte ich das Leben und hatte sogar diverse Bücher gelesen; und wenn es ein Thema gab, ein einfaches Thema, über das alle Zeugenaussagen übereinstimmen, wie man sagt, dann dieses. Das sexuelle Begehren verschwindet nicht mit zunehmendem Alter, im Gegenteil, es wird immer grausamer, unerbittlicher, unersättlicher, und selbst bei Männern, bei denen die Hormonsekretion, die Erektion und alle damit verbundenen Phänomene aufhören — was im übrigen ziemlich selten vorkommt —, wird die Anziehungskraft, die junge weibliche Körper auf sie ausüben, nicht geringer, sondern wird, und das ist vielleicht noch schlimmer, zur cosa mentale und zum Begehren des Begehrens. Das ist die Wahrheit, die nicht zu leugnende Wahrheit, die alle ernstzunehmenden Autoren unermüdlich wiederholt haben.
Ich hätte Bratarsch zur Not mit einem Cunnilingus bedienen können — ich stellte mir vor, wie sich mein Gesicht zwischen ihre schlaffen Schenkel, ihre bleichen Fettwülste vorwagte und ich versuchte, ihren herabhängenden Kitzler wiederzubeleben. Aber ich war mir sicher, selbst das hätte nicht genügt — und vielleicht sogar ihr Leid verstärkt. Sie wollte wie so viele andere Frauen penetriert werden, unter dem würde sie sich nicht zufriedengeben, darüber ließ sie nicht mit sich reden.
Ich ergriff die Flucht; wie alle Männer in einer ähnlichen Situation ergriff ich die Flucht, antwortete nicht mehr auf ihre E-Mails, verbot ihr den Zugang zu meiner Garderobe. Doch sie ließ nicht locker, fünf, vielleicht sieben Jahre, auf jeden Fall eine endlos lange Zeit ließ sie nicht locker; ich glaube, sie verfolgte mich bis zu dem Tag, an dem ich Isabelle kennenlernte. Ich hatte ihr natürlich nichts gesagt, ich hatte keinerlei Kontakt mehr zu ihr, aber vielleicht gibt es ja so etwas wie Intuition, weibliche Intuition, wie man sagt, auf jeden Fall verschwand sie genau in jenem Augenblick, verließ mein Leben und vielleicht das Leben überhaupt, wie sie mir mehrfach angedroht hatte.
Am Tag nach dieser unerquicklichen Nacht nahm ich das erste Flugzeug nach Paris. Esther war leicht überrascht, sie dachte, ich würde die ganze Woche in Madrid verbringen, und mir ging es ähnlich, denn das hatte ich eigentlich vorgehabt, ich begriff auch nicht so recht, warum ich so plötzlich abreiste, vielleicht wollte ich mich wichtig machen, ihr zeigen, daß auch ich ein eigenes Leben, meine Verpflichtungen, meine Unabhängigkeit hatte — falls das der Grund gewesen sein sollte, hatte ich mich auf jeden Fall gründlich verrechnet, denn sie war weder gerührt noch verunsichert durch diesen Entschluß, sie sagte nur »Bueno …«, und das war alles. Ich glaube, mein Handeln hatte vor allem keinen rechten Sinn mehr, ich begann mich zu verhalten wie ein altes tödlich verletztes Tier, das nach allen Seiten angreift, sich an allen Hindernissen stößt, zu Boden stürzt, sich immer wütender und immer schwächer wieder aufrichtet und berauscht vom Geruch seines eigenen Blutes schließlich kopflos wird.
Ich hatte den Wunsch, Vincent wiederzusehen, als Vorwand genommen, das hatte ich Esther erklärt, und erst als ich in Roissy landete, wurde mir klar, daß ich tatsächlich Lust hatte, ihn wiederzusehen, auch hier weiß ich nicht, warum, vielleicht nur, um mich zu vergewissern, daß das Glück existiert. Er hatte sich mit Susan wieder in dem Einfamilienhaus seiner Großeltern niedergelassen — in dem Haus, in dem er letztlich sein ganzes Leben lang gewohnt hatte. Es war Ende Mai, aber der Himmel war grau, und der rote Backsteinbau wirkte ziemlich finster; ich war überrascht, als ich die Namen las, die auf dem Briefkasten standen. »Susan Longfellow«, na gut, aber »Vincent Macaury«? Ja richtig, der Prophet hieß Macaury, Robert Macaury, und Vincent hatte nicht mehr das Recht, den Namen seiner Mutter zu tragen; der Name Macaury war ihm in einem amtlichen Schreiben mitgeteilt worden, weil er einen Namen brauchte, bis die Justiz eine Entscheidung traf. »Ich bin ein Versehen…«, hatte Vincent einmal zu mir gesagt, wobei er wohl auf seine Abstammung als Sohn des Propheten anspielte. Möglicherweise, aber seine Großeltern hatten ihn aufgenommen und wie ein unschuldiges Opfer geliebt, denn sie waren bitter enttäuscht von ihrem Sohn und dessen genußsüchtigem, verantwortungslosem Egoismus — der im übrigen der einer ganzen Generation war, ehe die Sache noch schlimmer wurde und, sobald der Sinnengenuß verflogen war, nur noch der Egoismus zurückblieb. Sie hatten ihn auf jeden Fall aufgenommen, ihm die Tür zu ihrem Heim geöffnet, und das war zum Beispiel etwas, was ich für meinen eigenen Sohn nie getan hätte, allein der Gedanke daran, unter demselben Dach wie dieser kleine Arsch zu leben, ist mir unerträglich, er genau wie ich waren ganz einfach Menschen, die es nie hätte geben sollen. Im Gegensatz zu Susan, die jetzt in dieser verstaubten, überladenen, finsteren Umgebung lebte, so weit entfernt von ihrem Heimatland Kalifornien, und die sich sofort dort wohl gefühlt hatte, sie hatte nichts weggeworfen, ich erkannte die gerahmten Familienfotos, die Verdienstorden des Großvaters und die von einer Reise an die Costa Brava mitgebrachten beweglichen Stierfiguren wieder; sie hatte vielleicht ein wenig gelüftet, Blumen gekauft oder was weiß ich, ich kenne mich damit nicht aus, ich selbst habe immer in Hotels gelebt und habe keinen Sinn für das Häusliche. Ohne die Anwesenheit einer Frau wäre ich wohl nie auf diesen Gedanken gekommen, auf jeden Fall war es jetzt ein Haus, das den Eindruck machte, als könnten die Menschen darin glücklich sein, das war etwas, was in Susans Macht stand. Sie liebte Vincent, das merkte ich sofort, das war offensichtlich, aber vor allem liebte sie. Es lag in ihrer Natur zu lieben, so wie bei der Kuh das Grasen, (oder beim Vogel das Singen oder bei der Ratte das Schnuppern). Nachdem sie ihren früheren Herrn und Meister verloren hatte, hatte sie diesen fast augenblicklich durch einen neuen ersetzt, und die Welt, die sie umgab, wurde erneut von einer positiven Gewißheit erfüllt. Ich aß mit ihnen zu Abend, es war ein angenehmes, harmonisches Beisammensein mit wenig schmerzvollen Momenten; ich hatte jedoch nicht den Mut, bei ihnen zu übernachten, und verabschiedete mich gegen elf Uhr, nachdem ich ein Zimmer im Hotel Lutetia reserviert hatte.
In der Metrostation Montparnasse-Bienvenue dachte ich wieder an die Lyrik zurück, vermutlich weil ich gerade Vincent wiedergesehen hatte und mir das erneut meine eigenen Grenzen vor Augen führte: schöpferische Grenzen zum einen, aber auch Begrenzungen in der Liebe. Ich muß allerdings hinzusagen, daß ich in jenem Augenblick an einem Plakat mit der Aufschrift »Lyrik in der Metro« vorbeifuhr, und zwar genauer gesagt an jenem, auf dem »Die freie Liebe« von Andre Breton abgedruckt war. Ganz gleich, welchen Ekel einem Andre Breton als Mensch einflößen konnte, ganz gleich, wie dumm der Titel war, eine elende Antinomie, die abgesehen von einer gewissen Hirnerweichung nur von dem Reklame-Instinkt zeugte, der den Surrealismus kennzeichnet und auf den er sich letztlich beschränken läßt, eines mußte man anerkennen: Dieser Idiot hatte, zumindest was diesen Text anging, ein sehr schönes Gedicht geschrieben. Ich war offensichtlich nicht der einzige, der gewisse Vorbehalte empfand, denn als ich zwei Tage später an demselben Plakat vorbeifuhr, stellte ich fest, daß es mit einer Inschrift überpinselt war, die besagte: »Statt eurer beknackten Gedichte solltet ihr uns besser in den Stoßzeiten mehr Züge zur Verfügung stellen«, was genügte, um mich den ganzen Nachmittag in gute Laune zu versetzen und mir sogar wieder etwas Selbstvertrauen zu geben: Ich war zwar nur ein Komiker, aber eben doch ein Komiker.
Am Tag nach dem Abendessen bei Vincent gab ich der Rezeption des Lutetia Bescheid, daß ich das Zimmer vermutlich noch mehrere Tage lang behalten würde. Sie nahmen die Nachricht höflich und mit einem freundlichen Augenzwinkern auf. Schließlich war ich ja eine Berühmtheit; ich konnte es mir durchaus leisten, mein Geld zu verschleudern und an der Bar einen Alexandra On Ice mit Philippe Sollers oder Philippe Bouvard zu trinken — allerdings wohl nicht mit Philippe Leotard, denn er war tot; aber wie dem auch sei, aufgrund meiner Berühmtheit hätte ich garantiert Zugang zu diesen drei Kategorien von Philippes haben können. Ich konnte eine Nacht mit einer slowenischen transsexuellen Nutte verbringen; und ich konnte ein schillerndes mondänes Leben führen, vermutlich erwartete man das sogar von mir, talentierte Leute werden im allgemeinen durch ein oder zwei Werke bekannt, nicht mehr, denn im Grunde ist es ja schon erstaunlich, daß ein Mensch überhaupt ein oder zwei Dinge zu sagen hat. Anschließend finden sie sich mehr oder weniger gelassen, mehr oder weniger betrübt mit ihrem Niedergang ab, das ist von Fall zu Fall verschieden.
Ich tat jedoch in den darauffolgenden Tagen nichts von alledem; statt dessen rief ich schon am nächsten Morgen Vincent wieder an. Er begriff sehr schnell, daß der Anblick seines Eheglücks schmerzlich für mich sein könne, und schlug mir vor, uns in der Bar des Lutetia zu treffen. Er erzählte mir im Grunde nur von seinen Plänen für die Botschaft, die zu einer Rauminstallation geworden war und deren Besucher die Menschen der Zukunft sein sollten. Er hatte eine Limonade bestellt, rührte sie aber nicht an; ab und zu ging ein Promi durch die Bar, erkannte mich und gab mir ein Zeichen des geheimen Einverständnisses; Vincent merkte nichts davon. Er sprach, ohne mich anzusehen und sogar ohne darauf zu achten, ob ich ihm zuhörte, seine Stimme war bedächtig und abwesend, etwa so, als spräche er auf ein Tonbandgerät oder als mache er eine Aussage vor einem Untersuchungsausschuß. Je ausführlicher er mir seine Vorstellungen auseinandersetzte, desto klarer wurde mir, daß er sich nach und nach von seiner ursprünglichen Absicht entfernte und seine Pläne immer ehrgeiziger wurden. Jetzt ging es ihm überhaupt nicht mehr darum, ein Zeugnis davon abzulegen, was ein manierierter Autor des 20. Jahrhunderts mit dem anmaßenden Titel So lebt der Mensch überschrieben hatte. Über die Menschheit, bemerkte er, gäbe es schon viele Zeugnisse, die alle zu der gleichen jämmerlichen Feststellung kämen; mit einem Wort, dieses Thema sei bereits bekannt. Gelassen, aber ohne sich die Möglichkeit der Rückkehr offenzuhalten, verließ er das Gestade der Menschen, um einem absoluten Anderswo entgegenzusegeln, wohin ich ihm nicht folgen konnte, vermutlich war es der einzige Raum, in dem er selbst frei atmen konnte, sein Leben hatte sicher nie ein anderes Ziel gehabt, aber es war ein Ziel, das er nur allein verfolgen konnte; allerdings war er schon seit jeher allein gewesen.
Wir seien nicht mehr die gleichen, fuhr er mit sanfter Stimme fort, wir seien unvergänglich geworden; natürlich würden wir noch eine Weile brauchen, ehe wir uns an diesen Gedanken gewöhnen und uns mit ihm vertraut machen könnten, dennoch hätten sich die Dinge schon jetzt grundlegend geändert. Der Professor sei nach der Abreise aller Anhänger mit ein paar Technikern auf Lanzarote geblieben, um seine Forschungsarbeit fortzusetzen; es gebe keinen Zweifel, daß er sein Ziel erreichen werde. Der Mensch habe ein großes Gehirn, ein Gehirn, das im Hinblick auf die primitiven Anforderungen, die für das Überleben, die Nahrungssuche und die Befriedigung des Sexualinstinkts erforderlich sei, überdimensionale Proportionen besitze; endlich könnten wir beginnen, es wirklich einzusetzen. Keine geistige Kultur, rief er mir ins Gedächtnis zurück, habe sich je in einer Gesellschaft mit hoher Kriminalitätsrate entwickeln können, und zwar einfach deswegen, weil die körperliche Sicherheit die Voraussetzung für ungehindertes Denken sei, keine ernstzunehmende Reflexion, keine Dichtung, kein halbwegs kreativer Gedanke sei je von einem Menschen hervorgebracht worden, der sich Sorgen um sein Überleben machen und ständig auf der Hut sein müsse. Sobald die Konservierung unserer DNA sichergestellt sei und wir somit potentiell unsterblich geworden seien, fuhr er fort, befänden wir uns in absoluter körperlicher Sicherheit, unter Bedingungen also, die noch kein menschliches Wesen je erlebt habe; niemand könne voraussehen, welche Folgen das in geistiger Hinsicht haben werde.
Diese friedliche und gewissermaßen von allem losgelöste Unterhaltung tat mir äußerst gut, und zum erstenmal begann ich an meine eigene Unsterblichkeit zu denken und die Dinge etwas offener in Betracht zu ziehen. Aber als ich in mein Zimmer zurückkam, fand ich auf meinem Handy eine Nachricht von Esther, die nur sagte: »I miss you«, und sofort spürte ich wieder tief in meinem Fleisch das Bedürfnis nach ihr. Freude ist etwas Seltenes. Am nächsten Tag flog ich nach Madrid zurück.