Schon seit mehreren Wochen versucht Vincent27, einen Kontakt herzustellen. Ich hatte nur ab und zu mit Vincent26 in Verbindung gestanden; er hatte mich weder über seinen bevorstehenden Tod in Kenntnis gesetzt noch darüber, dass er sich ins Intermediärstadium begab. Bei den Neo-Menschen sind die Intermediärphasen häufig nur von kurzer Dauer. Jeder kann seine Digitaladresse nach Belieben ändern und somit unauffindbar werden; ich habe so wenige Kontakte aufgenommen, daß ich das nie für nötig gehalten habe. Wochenlang stelle ich oft keine Verbindung her, was Marie22, meine eifrigste Gesprächspartnerin, zur Verzweiflung bringt. Wie Smith bereits einräumte, wird die Trennung von Subjekt und Objekt durch ein konvergierendes Bündel von Mißerfolgen im Verlauf kognitiver Prozesse hervorgerufen. Nagel bemerkt, daß die Trennung zwischen Subjekten auf die gleiche Art erfolgt (mit der Einschränkung, daß der Mißerfolg in diesem Fall nicht empirischer, sondern affektiver Natur ist). In Mißerfolgen und durch Mißerfolge bildet sich das Subjekt, und der Übergang von der Menschheit zur Neo-Menschheit und der damit einhergegangene Verlust aller körperlichen Kontakte hat nichts an dieser grundlegenden ontologischen Gegebenheit geändert. Genau wie die Menschen sind auch wir nicht vom Status des Individuums und der damit verbundenen dumpfen Verlassenheit befreit; aber im Gegensatz zu ihnen wissen wir, daß dieser Status nur die Folge einer gescheiterten Wahrnehmung ist, anders gesagt, des Nichts, des Fehlens der Worte. Wir sind vom Tod erfüllt, ja geradezu formatiert und haben daher nicht mehr die Kraft, in die Anwesenheit vorzudringen. Für manche Menschen konnte die Einsamkeit zur beglückenden Erfahrung werden, wenn sie der Gruppe den Rücken kehrten; doch das bedeutete auch, daß diese Einzelgänger ihre ursprüngliche Zugehörigkeit aufgeben und andere Gesetze, eine andere Gruppe entdecken mußten. Heute, da es keine Gruppe mehr gibt und alle Stämme zersprengt sind, wissen wir, daß wir isoliert sind, uns jedoch gleichen, und wir haben die Lust verloren, uns zusammenzutun.
Drei Tage lang sandte mir Marie22 keinerlei Nachricht; das war ungewöhnlich. Nachdem ich eine Weile geschwankt hatte, übermittelte ich ihr schließlich eine codierende Sequenz, die zur Kamera der Videoüberwachung der Einheit Proyecciones XXI,13 führte; sie antwortete umgehend mit folgender Nachricht:
Unter der Sonne des toten Vogels
Liegt die endlose Ebene
Es gibt keinen beschaulichen Tod:
Zeig mir etwas von deinem Körper.
535356, 5375, 246133, 435366. Unter der angegebenen Adresse erschien nichts, nicht einmal eine Fehlermeldung; ein völlig weißer Bildschirm. Sie wollte also, daß ich in den nicht codierenden Modus überging. Ich zögerte noch, während auf dem weißen Bildschirm ganz langsam folgende Nachricht erschien: »Wie du vermutlich erraten hast, bin ich eine Intermediäre.« Die Buchstaben verschwanden, und eine neue Nachricht erschien: »Morgen sterbe ich.«
Seufzend schaltete ich die Videoanlage ein und richtete die Gummilinse auf meinen entblößten Körper. »Weiter nach unten bitte«, schrieb sie. Ich schlug ihr vor, in den Sprachmodus umzuschalten. Nach einer Minute antwortete sie: »Ich bin eine alte Intermediäre, die bald stirbt; ich weiß nicht, ob meine Stimme angenehm klingt. Aber wenn es dir lieber ist, dann ja …« Da begriff ich, daß sie mir nichts von ihrem Körper zeigen wollte; der Verfall im Intermediärstadium ist oft sehr drastisch.
Ihre Stimme war tatsächlich fast völlig synthetisch; aber ihre Intonationen hatten manchmal noch etwas Neo-Menschliches, vor allem bei den Vokalen, die eine seltsam sanfte Färbung annahmen. Ich machte einen langsamen Panoramaschwenk bis zu meinem Bauch. »Noch weiter nach unten …«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Zeig mir doch bitte dein Geschlechtsteil.« Ich gehorchte; ich masturbierte mein Glied nach den Regeln, die uns die Höchste Schwester gelehrt hat; manche weiblichen Intermediären haben gegen Ende ihres Lebens Sehnsucht nach einem männlichen Glied und betrachten es gern in den letzten Minuten ihres Reallebens; Marie22 gehörte offensichtlich zu ihnen — angesichts der Nachrichten, die wir in der Vergangenheit ausgetauscht hatten, wunderte mich das nicht wirklich.
Drei Minuten lang geschah nichts; dann erhielt ich die letzte Nachricht — Marie22 war wieder in den nichtvokalen Modus gegangen: »Danke, Daniel. Ich trenne jetzt die Verbindung, schreibe die letzten Seiten meines Kommentars und bereite mich dann auf das Ende vor. In ein paar Tagen wird sich Marie23 hier einrichten. Ich hinterlasse ihr deine IP-Adresse und bitte sie, Kontakt mit dir zu halten. In der Zeit nach der Zweiten Verringerung haben sich durch unsere Teilinkarnationen verschiedene Dinge ereignet; andere Dinge werden sich durch unsere zukünftigen Inkarnationen ereignen. Unsere Trennung wird keine endgültige sein; das ahne ich.«