Daniel25,15

»Wir wenden unsere Blicke dem Himmel zu, und der Himmel ist leer«, schreibt Ferdinand12 in seinem Kommentar. Ungefähr in der zwölften Generation der Neo-Menschen tauchten die ersten Zweifel über das Kommen der Zukünftigen auf — also etwa ein Jahrtausend nach den Ereignissen, die Daniel1 schildert; etwa zur gleichen Zeit sind die ersten Fälle von Neo-Menschen bekanntgeworden, die abtrünnig wurden.

Ein weiteres Jahrtausend ist inzwischen verstrichen, die Lage ist beständig geblieben, und der Prozentsatz der Abtrünnigen ist noch der gleiche. Der menschliche Denker Friedrich Nietzsche, der sich als erster von den wissenschaftlichen Gegebenheiten gelöst und damit eine Tradition eingeführt hat, die die Philosophie dem Untergang weihte, sah im Menschen »das noch nicht festgestellte Tier«. Dieses Urteil, das schon auf die Menschen nicht zutraf — jedenfalls weniger als auf die meisten Tierarten —, galt ebensowenig für die Neo-Menschen, die ihnen folgten. Man kann sogar sagen, daß der Charakterzug, der bei uns im Vergleich zu unseren Vorgängern am stärksten ausgeprägt ist, ein gewisser Konservatismus ist. Die Menschen, zumindest die Menschen der letzten Periode, schienen mit großer Leichtigkeit jedem neuen Projekt zuzustimmen, ganz gleich in welche Richtung es ging; die Veränderung als solche war in ihren Augen etwas Positives. Wir dagegen betrachten jede Neuerung mit großer Skepsis und übernehmen sie nur dann, wenn sie in unseren Augen eine eindeutige Verbesserung darstellt. Seit der Genetischen Standard-Korrektur, die aus uns die erste autotrophe Gattung innerhalb des Tierreichs gemacht hat, ist keine Veränderung von vergleichbarem Ausmaß in Angriff genommen worden. Die wissenschaftlichen Instanzen von Central City haben uns zum Beispiel Vorschläge gemacht, um unsere Flugfähigkeit zu entwickeln oder das Überleben in submarinem Milieu zu ermöglichen; sie sind lange, sehr lange diskutiert worden, ehe sie schließlich abgelehnt wurden. Die einzigen genetischen Merkmale, die mich von Daniel2, meinem ersten neomenschlichen Vorgänger, unterscheiden, sind winzige praktische Verbesserungen, die zum Beispiel einen wirksameren Stoffwechsel bei der Aufnahme mineralischer Salze herbeiführen oder die Empfindlichkeit der für den Schmerz verantwortlichen Nervenfasern leicht verringern. Unsere kollektive Geschichte wie auch unser jeweiliges individuelles Schicksal erscheint daher im Vergleich zur Geschichte der Menschen der letzten Periode ausgesprochen unbewegt. Manchmal stehe ich nachts auf, um die Sterne zu beobachten. Klimatische und geologische Veränderungen von großem Ausmaß haben das Aussehen dieser Region wie auch das der meisten Regionen der Welt im Verlauf der letzten beiden Jahrtausende grundlegend gewandelt; der Glanz und die Position der Sterne und ihr Zusammenschluß zu Sternbildern sind vermutlich die einzigen natürlichen Elemente, die seit der Zeit von Daniel1 keinerlei Veränderung erfahren haben. Wenn ich den nächtlichen Himmel betrachte, kommt es manchmal vor, daß ich an die Elohim denke, an jenen seltsamen Glauben, der auf Umwegen schließlich die Große Veränderung ausgelöst hat. Daniel1 lebt in mir weiter, sein Körper hat in mir eine neue Inkarnation erfahren, seine Gedanken sind die meinen, seine Erinnerungen die meinen; sein Dasein setzt sich tatsächlich in mir fort, und zwar viel stärker, als es je ein Mensch, der davon träumte, sich in seinen Nachfahren fortzusetzen, erlebt hat. Mein eigenes Leben jedoch, und daran denke ich oft, ist ganz anders als das, das er gern gelebt hätte.