Daniel25,1

Als sich das Tor im Elektrozaun schloß, brach die Sonne zwischen den Wolken hindurch, und das ganze Anwesen wurde in blendendes Licht getaucht. Die Farbe der Außenwände der Gebäude enthielt eine kleine Menge Radium mit abgeschwächter Radioaktivität, das zwar einen wirksamen Schutz vor den Magnetstürmen bot, aber die Lichtreflexion erhöhte; daher war es angeraten, in den ersten Tagen eine Schutzbrille zu tragen.

Fox kam schwanzwedelnd auf mich zu. Hunde überleben den Tod ihres neo-menschlichen Gefährten, mit dem sie ihr ganzes Leben verbracht haben, nur selten. Sie erkennen natürlich die genetische Identität des Nachfolgers wieder, dessen Körpergeruch ebenfalls identisch ist, aber das reicht im allgemeinen nicht aus, sie hören auf zu spielen, fressen nicht mehr und sterben meist nach wenigen Wochen. Daher wußte ich, daß der Beginn meines Daseins von Trauer begleitet sein würde; ich wußte auch, daß ich in einer Region lebte, die von zahlreichen Wilden bevölkert war, und daß die Schutzmaßnahmen daher streng befolgt werden mußten; darüber hinaus war ich mit den wesentlichen Elementen eines normalen Lebens vertraut.

Ich wußte jedoch nicht, daß ich, als ich das Arbeitszimmer meines Vorgängers betrat, entdecken würde, daß Daniel24 ein paar handschriftliche Notizen hinterlassen hatte, die er nicht an die IP-Adresse seines Kommentars gesandt hatte — und das war eher ungewöhnlich. Die meisten zeugten von einer seltsam ernüchterten Bitterkeit — wie etwa folgende, die auf ein herausgerissenes Blatt eines Spiralhefts gekritzelt war:

Insekten stoßen sich an den Wänden,

Auf ihren stumpfsinnigen Flug begrenzt

Der keine andere Botschaft enthält

Als die Wiederholung des Ärgsten.

Andere Notizen schienen von einem Überdruß und einem Gefühl der Leere erfüllt zu sein, die seltsam menschlich anmuteten:

Schon seit Monaten nicht die geringste Eintragung

Und nichts, was es verdient, eingetragen zu werden.

In beiden Fällen hatte er den nicht codierenden Modus verwandt. Auch wenn ich nicht mit dieser Überraschung gerechnet hatte, wunderte mich die Sache nicht wirklich: Ich wußte, daß alle Nachfahren Daniels, ähnlich wie der Begründer dieser Linie, einen gewissen Hang zu Zweifel und Selbsterniedrigung hatten. Ich bekam dennoch einen Schock, als ich die letzte Notiz fand, die er auf dem Nachttisch liegengelassen hatte und die, dem Zustand des Papiers nach zu urteilen, wohl vor ganz kurzer Zeit geschrieben worden war:

Als ich in einem Hotel der unteren Kaste

Am Swimmingpool saß und die Bibel las,

Deine Prophezeiungen, Daniel! Ich erblaßte,

Bis ich sogar die Farbe des Himmels vergaß.

Der leicht humoristische Ton, die Selbstironie — und auch die direkte Anspielung auf Elemente des menschlichen Lebens — waren hier so ausgeprägt, daß diese Notiz ohne Schwierigkeit auch von Daniel1, unserem Vorfahren aus ferner Zeit, hätte stammen können anstatt von einem seiner neo-menschlichen Nachfolger. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Mein Vorgänger hatte sich so intensiv mit der lächerlichen und zugleich tragischen Biographie von Daniel1 beschäftigt, daß er sich nach und nach verschiedene Aspekte von dessen Persönlichkeit zu eigen gemacht hatte; was in gewissem Sinn durchaus dem Ziel der Gründer entsprach; aber der Lehre der Höchsten Schwester zuwider hatte er keine ausreichende kritische Distanz zu wahren vermocht. Diese Gefahr bestand, sie war registriert worden, und ich fühlte mich auch imstande, ihr zu trotzen; vor allem wußte ich, daß es keinen anderen Ausweg gab. Wenn wir die Ankunft der Zukünftigen vorbereiten wollten, mußten wir zunächst die Schwächen, die Neurosen und die Zweifel der Menschheit nachvollziehen; wir mußten sie uns völlig zu eigen machen, um sie anschließend zu überwinden. Die exakte Duplikation des genetischen Codes, das gründliche Nachdenken über den Lebensbericht des Vorgängers, das Verfassen des Kommentars: das waren die drei Säulen unseres Glaubens, die seit der Zeit der Gründer unverändert geblieben sind. Ehe ich mir ein leichtes Essen zubereitete, faltete ich die Hände zu einem kurzen Gebet an die Höchste Schwester, und sogleich fühlte ich mich wieder bei klarem Verstand, ausgeglichen, aktiv. Bevor ich einschlief, überflog ich den Kommentar von Marie22; ich wußte, daß ich bald mit Marie23 in Kontakt treten würde. Fox streckte sich neben mir aus, winselte leise. Er würde an meiner Seite sterben und wußte das; er war jetzt schon ein alter Hund; er schlief fast augenblicklich ein.