Daniel24,7

Es gibt 6174 Lebensberichte, das entspricht der Kaprekar-Konstante. Ganz gleich, ob sie von Männern oder von Frauen, aus Europa oder Asien, aus Amerika oder Afrika stammen, ob die Berichte vollendet oder unvollendet sind, alle stimmen sie in einem und übrigens nur in einem Punkt überein, und zwar darin, wie unerträglich der moralische Schmerz des Alterns ist.

Brunol verdeutlicht es in seiner knappen, schonungslosen Formulierung wohl am deutlichsten, wenn er schreibt, daß »sein Körper eines alten Mannes voller jugendlichem Begehren« sei; aber alle Zeugnisse stimmen wie gesagt überein, sowohl das von Daniel1, meinem Vorgänger aus fernen Zeiten, wie das von Rachidl, Pauli, Johnl, Felicitel oder der herzzerreißende Bericht von Esperanzal. Das Altern scheint in keiner Phase der Geschichte der Menschen etwas Angenehmes gewesen zu sein, doch in den Jahren, die dem Verschwinden der Menschheit vorausgingen, war dieser Prozeß offensichtlich so unerträglich geworden, daß die Rate derer, die sich das Leben nahmen, was die Gesundheitsbehörde mit dem schamhaften Begriff »freiwilliger Abschied« bezeichnete, fast 100% erreichte und das Durchschnittsalter der freiwillig Abschiednehmenden auf sechzig Jahre in bezug auf den gesamten Erdball und auf etwa fünfzig in den hochentwickelten Ländern geschätzt wurde.

Diese Zahlen waren das Ergebnis einer langwährenden Entwicklung, die zur Zeit von Daniel1, in der das durchschnittliche Sterbealter noch viel höher und der Selbstmord alter Menschen relativ selten war, gerade erst begonnen hatte. Doch schon damals riefen der körperliche Verfall und die Verunstaltung alter Menschen allgemein Abscheu hervor. Offensichtlich war der Hitzesommer im Jahre 2003, der besonders in Frankreich zahlreiche Todesopfer forderte, der Auslöser dafür, daß dieses Problem ins Bewußtsein der Öffentlichkeit drang. »Die Demo der Greise« lautete die Schlagzeile in Liberation, nachdem die ersten Zahlen bekannt wurden — mehr als zehntausend Menschen waren innerhalb von zwei Wochen in Frankreich gestorben; allein in ihrer Wohnung, im Krankenhaus oder im Altenheim, und zwar alle wegen unzureichender Pflege. In den darauffolgenden Wochen veröffentlichte dieselbe Zeitung eine Reihe von grauenerregenden Reportagen mit Fotos, die aus einem KZ zu stammen schienen, Reportagen, in denen die Todesqualen von Greisen beschrieben wurden, die nackt oder in Windeln in Gemeinschaftssälen lagen und den ganzen Tag stöhnten, ohne daß ihnen jemand etwas zu trinken reichte oder auf irgendeine Weise Wasser zuführte; und sie beschrieben, wie die Krankenschwestern, die vergeblich versucht hatten, die in Ferien gefahrenen Familien zu benachrichtigen, die Toten einsammelten, um Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen. »Szenen, die eines modernen Landes unwürdig sind«, schrieb der Journalist, ohne sich dabei klarzumachen, daß sie der beste Beweis für die Modernität Frankreichs waren, denn nur ein wirklich modernes Land war imstande, Greise wie bloßen Müll zu behandeln; in Afrika oder in einem traditionsverbundenen Land Asiens wäre eine solche Mißachtung alter Menschen unvorstellbar.

Die konventionelle Entrüstung, die diese Bilder hervorriefen, legte sich schnell, und die Durchsetzung der Euthanasie — es handelte sich immer öfter um aktive Sterbehilfe — sollte in den darauffolgenden Jahrzehnten das Problem lösen.

Den Menschen würde empfohlen, möglichst einen vollendeten Lebensbericht abzulegen, weil zu jener Zeit der Glaube weit verbreitet war, die Menschen könnten in den letzten Minuten ihres Lebens so etwas wie eine Erleuchtung haben. Das von den Betreuern am häufigsten zitierte Beispiel dafür war Marcel Proust, der sich, als er das Nahen des Todes spürte, sogleich auf das Manuskript von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit stürzte, um seine Eindrücke von seinem allmählichen Hinscheiden festzuhalten.

Doch in der Praxis hatten nur wenige den Mut dazu.