Daniel1,2

»Wenn man sieht, welchen Erfolg

die Sonntage ohne Auto und die

Spaziergange auf den Uferstraßen haben,

kann man sich gut vorstellen,

wohin das führt…«

Gérard — Taxifahrer

Ich kann mich heute beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, warum ich meine erste Frau geheiratet habe; wenn ich ihr auf der Straße begegnete, würde ich sie vermutlich nicht einmal wiedererkennen. Manche Dinge vergißt man einfach, vergißt sie tatsächlich; die Annahme, daß alles im Gedächtnis gespeichert wird, ist ein Irrtum; manche, sogar die meisten Begebenheiten werden ganz einfach getilgt, sie hinterlassen keine Spur, als hätte es sie nie gegeben. Um auf meine Frau zurückzukommen, meine erste Frau jedenfalls, glaube ich sagen zu können, daß wir zwei oder drei Jahre zusammengelebt haben; als sie schwanger wurde, habe ich sie fast augenblicklich sitzen lassen. Ich hatte damals noch keinen Erfolg, und daher hat sie nur eine dürftige Unterhaltsrente bekommen.

An dem Tag, an dem mein Sohn Selbstmord beging, habe ich mir Rührei mit Tomaten zubereitet. »Ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe«, meint der Prediger Salomo zu Recht. Ich hatte dieses Kind nie geliebt: Es war so dumm wie seine Mutter und so gemein wie sein Vater. Sein Tod war wirklich keine Katastrophe; auf solche Menschenwesen kann man verzichten.

Nach meinem ersten Auftritt vergingen zehn Jahre, die von sporadischen, ziemlich unbefriedigenden Abenteuern gekennzeichnet waren, ehe ich Isabelle kennenlernte. Ich war damals neununddreißig und sie siebenunddreißig; ich hatte großen beruflichen Erfolg. Als ich die erste Million Euro verdient hatte (damit meine ich, als ich sie wirklich verdient hatte, nach Abzug der Steuern und sicher angelegt), begriff ich, daß ich keine Figur aus Balzacs Romanen war. Eine Balzacsche Figur, die gerade eine Million Euro verdient hätte, würde darüber nachgrübeln, wie sie an die zweite Million herankommt, zumindest traf das auf die meisten von ihnen zu — mit Ausnahme der wenigen, die von dem Moment an zu träumen beginnen, in dem sie in zweistelligen Zahlen rechnen können. Ich dagegen fragte mich vor allem, ob ich meine Karriere nicht abbrechen könnte — ehe ich beschloß, es nicht zu tun.

In den ersten Phasen meines Aufstiegs zu Ruhm und Reichtum hatte ich gelegentlich die Freuden des Konsums genossen, durch die sich unser Zeitalter den vorangegangenen so überlegen zeigt. Man konnte endlos die Frage wälzen, ob die Menschen in den früheren Jahrhunderten glücklicher waren als wir oder nicht; man konnte das Verschwinden der Religionen oder die Schwierigkeiten, sich zu verlieben, kommentieren, die Vor- und Nachteile dieser Entwicklung gegeneinander abwägen; konnte das Aufkommen der Demokratie, den Verlust des Sinns für das Heilige, den Zerfall der sozialen Bande anführen. Ich hatte es übrigens in vielen meiner Sketche, wenn auch in humoristischer Form, getan. Man konnte sogar den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt in Frage stellen und den Verdacht äußern, daß die Verbesserungen in der Medizin zum Beispiel die soziale Kontrolle verstärkt und ganz allgemein die Freude am Leben verringert haben. Es ließ sich jedoch nicht leugnen, daß das 20. Jahrhundert auf dem Gebiet des Massenkonsums allen anderen Jahrhunderten überlegen war: In keiner anderen Zivilisation, zu keiner anderen Epoche hatte es etwas gegeben, das sich mit der Perfektion eines schnell reagierenden zeitgenössischen Einkaufszentrums vergleichen ließ, das auf Hochtouren lief. Ich hatte also mit dem Konsumrausch Bekanntschaft gemacht, vor allem was Schuhe anging, aber nach und nach verlor ich die Freude daran und begriff, daß mein Leben ohne dieses elementare, immer wieder erneuerte Vergnügen fortan nicht mehr so einfach sein würde.

Zu der Zeit, als ich Isabelle kennenlernte, war ich bei etwa sechs Millionen Euro angelangt. Eine Balzacsche Figur würde sich in diesem Stadium eine Prachtwohnung kaufen, die sie mit Kunstgegenständen füllt, und sich wegen einer Tänzerin zugrunde richten. Ich wohnte in einer banalen Dreizimmerwohnung im 14. Arrondissement und hatte noch nie mit einem Top-Model geschlafen — hatte nicht mal die geringste Lust darauf verspürt. Ich hatte wohl nur einmal mit einem halbwegs bekannten Mannequin kopuliert; aber sie hat keinen unauslöschlichen Eindruck auf mich hinterlassen. Die Frau war nicht schlecht, hatte ziemlich große Brüste, aber auch nicht größer als viele andere; letztlich war ich nicht so gekünstelt wie sie.

Das Gespräch fand in der Garderobe nach einem Auftritt statt, den man wohl als triumphal bezeichnen darf. Isabelle war damals Chefredakteurin von Lolita, nachdem sie lange bei 20 Ans gearbeitet hatte. Ich hatte anfangs keine große Lust auf dieses Interview. Beim Durchblättern der Zeitschrift war ich überrascht, was für ein unglaublich beknacktes Niveau die Zeitschriften für junge Mädchen hatten: T-Shirts in der Größe für Zehnjährige, weiße enge Shorts, der String, der auf allen Seiten hervorschaute, die kalkulierte Verwendung von Chupa-Chups … nichts fehlte. »Ja, aber sie sind seltsam positioniert…«, hatte die Pressefrau nachdrücklich gesagt. »Und die Tatsache, daß die Chefredakteurin persönlich kommt, ist doch, finde ich, ein gutes Zeichen…«

Es scheint Leute zu geben, die nicht an die Liebe auf den ersten Blick glauben; auch wenn sie nicht immer buchstäblich durch den allerersten Blick ausgelöst wird, läßt sich nicht leugnen, daß man die gegenseitige Anziehung sehr schnell spürt; schon in den ersten Minuten, in denen ich mich mit Isabelle unterhielt, wußte ich, daß sich zwischen uns etwas abspielen und daß es eine lange Geschichte sein würde; ich wußte auch, daß ihr das klar war. Nach ein paar anfänglichen Fragen über Lampenfieber, die Methode, wie ich mich vorbereitete, usw., verstummte sie. Ich blätterte erneut die Zeitschrift durch.

»Das sind doch keine richtigen Lolitas …«, bemerkte ich schließlich. »Sie sind sechzehn oder siebzehn.«

»Ja«, räumte sie ein. »Nabokov hat sich um fünf Jahre geirrt. Den meisten Männern gefällt an den jungen Mädchen nicht die Zeit vor der Pubertät, sondern der Moment direkt danach. Wie auch immer, er ist kein besonders guter Schriftsteller.«

Ich habe diesen mittelmäßigen, manierierten Pseudodichter auch nie ausstehen können, der Joyce so ungeschickt nachzuahmen versuchte und nicht einen Funken von dem Feuer hatte, das einen die gelegentliche Anhäufung von Schwerfälligkeiten bei dem verrückten Iren verzeihen läßt. Mich hat Nabokovs Stil immer an einen mißlungenen Blätterteig erinnert.

»Ja«, fuhr sie fort, »aber wenn ein so schlecht geschriebenes Buch, das noch dazu durch einen groben Fehler hinsichtlich des Alters der Protagonistin gehandikapt ist, trotzdem als ausgezeichnetes Buch durchgeht, das sogar zu einem dauerhaften Mythos geführt und Eingang in die Umgangssprache gefunden hat, kann das nur heißen, daß der Autor an etwas Wesentliches gerührt hat.«

Wenn wir uns über alles einig waren, drohte das Interview ziemlich langweilig zu wirken. »Vielleicht können wir die Diskussion beim Essen weiterführen …«, schlug sie vor. »Ich kenne ein tibetisches Restaurant in der Rue des Abbesses.«

Wie bei allen ernsten Geschichten haben wir schon in der ersten Nacht miteinander geschlafen. Als sie sich auszog, wirkte sie erst ein wenig verlegen und dann plötzlich stolz: Ihr Körper war unglaublich straff und geschmeidig. Erst viel später sollte ich erfahren, daß sie siebenunddreißig war; im ersten Augenblick schätzte ich sie auf höchstens dreißig.

»Was tust du, um dich so in Form zu halten?« fragte ich.

»Klassisches Ballett.«

»Kein Stretching, Aerobic oder so was Ähnliches?«

»Nein, das ist alles völliger Humbug; das kannst du mir glauben, ich arbeite schließlich nicht umsonst seit zehn Jahren für Frauenzeitschriften. Das einzige, was wirklich Effekt hat, ist klassisches Ballett. Aber das ist ganz schön hart, das erfordert eiserne Disziplin; doch das stört mich nicht, ich bin ziemlich rigide.«

»Was, du und rigide?«

»Ja, ja … du wirst schon sehen.«

Wenn ich an Isabelle zurückdenke, dann wundert mich vor allem, wie offen und ungezwungen unsere Beziehung von Anfang an war, sogar was Themen anging, die Frauen im allgemeinen lieber mit einem Schleier des Geheimnisses umgeben, weil sie in dem Irrglauben sind, daß Geheimnisse den erotischen Reiz einer Beziehung steigern, dabei finden die meisten Männer eine direkte sexuelle Anmache viel aufreizender. »Es ist nicht sehr schwer, einen Mann zum Orgasmus zu bringen …«, hatte sie beim Abendessen in dem tibetischen Restaurant halb im Spaß, halb im Ernst zu mir gesagt. »Mir ist es auf jeden Fall immer gelungen.« Und damit hatte sie recht. Sie hatte ebenfalls recht, wenn sie behauptete, daß dieses Geheimnis nichts Besonderes und auch nichts Seltsames hat. »Man darf nur nie vergessen«, fuhr sie seufzend fort, »daß Männer auch einen Sack haben. Daß sie einen Pimmel haben, das wissen die Frauen nur zu gut, denn seit die Männer zu einem Sexualobjekt herabgewürdigt worden sind, interessieren sich die Frauen nur noch für den Pimmel; aber wenn sie mit einem Typen schlafen, vergessen sie fast immer, daß auch die Eier ein höchst empfindliches Organ sind. Egal, ob es sich um eine Masturbation, eine Penetration oder um eine Lutschpartie handelt, ab und an muß man die Eier in die Hand nehmen und sie mehr oder weniger intensiv streicheln oder sie gar pressen, das hängt davon ab, wie fest sie sind, aber das merkt man sofort. Das ist alles.«

Es war etwa fünf Uhr morgens, ich war gerade in ihr gekommen und fühlte mich so richtig wohl, es war eine friedliche, zärtliche Atmosphäre, und ich spürte, daß jetzt wohl eine glückliche Phase meines Lebens begann, als ich plötzlich ohne besonderen Grund die Inneneinrichtung ihres Schlafzimmers wahrnahm — ich erinnere mich noch, daß das Mondlicht auf eine Graphik fiel, die ein Rhinozeros darstellte, eine alte Graphik, wie man sie in Enzyklopädien der Tierwelt aus dem 19. Jahrhundert findet.

»Gefällt es dir bei mir?«

»Ja, du hast Geschmack.«

»Wundert es dich, daß jemand, der bei einer beschissenen Zeitschrift arbeitet, Geschmack hat?«

Es würde wirklich nicht so einfach sein, ihr zu verheimlichen, was ich dachte. Diese Feststellung erfüllte mich erstaunlicherweise mit einer gewissen Freude; ich vermute, daß das wohl eines der Anzeichen für wahre Liebe ist.

»Ich werde gut bezahlt… Und das ist schon ein hinreichender Grund.«

»Wieviel?«

»Fünfzigtausend Euro im Monat.«

»Das ist allerdings viel, aber im Moment verdiene ich noch mehr.«

»Das ist normal. Du bist wie ein Gladiator in der Arena. Völlig normal, daß du dafür gut bezahlt wirst: Du setzt dein Leben aufs Spiel, in jedem Augenblick kann Schluß sein.«

»Ach, weißt du…«

Das sah ich etwas anders, und ich erinnere mich, daß ich mich auch darüber wieder gefreut habe. Es ist schön, wenn man mit jemandem völlig einverstanden und sich in allen Dingen mit ihm einig ist — anfangs ist das sogar unerläßlich; aber kleine Meinungsverschiedenheiten sind auch nicht schlecht, und sei es nur, um sie anschließend in einer lockeren Unterhaltung auszuräumen.

»Ich nehme an, daß du mit ziemlich vielen Frauen geschlafen hast, die zu deinen Auftritten gekommen sind …«, fuhr sie fort.

»Ja, mit einigen.«

In Wirklichkeit waren es gar nicht so viele: vielleicht fünfzig, höchstens hundert; aber ich sagte ihr nicht, daß die Nacht, die wir gerade verbracht hatten, mit Abstand die schönste war; ich spürte, daß sie es wußte. Nicht aus Überheblichkeit oder übertriebener Eitelkeit, sondern rein intuitiv, einfach, weil sie einen ausgeprägten Sinn für menschliche Beziehungen hatte und auch, weil sie ihre eigene erotische Ausstrahlung genau einzuschätzen wußte.

»Frauen, die von Männern, die im Rampenlicht stehen, sexuell angezogen sind«, fuhr sie fort, »suchen nicht nur die Berühmtheit, sondern sie spüren, daß einer, der im Rampenlicht steht, ständig seine Existenz aufs Spiel setzt, denn das Publikum ist wie ein wildes Tier, das sein Geschöpf in jedem Augenblick wegjagen, es zwingen kann, schmachvoll, unter dem Gespött der Menge davonzulaufen. Die Belohnung, die sie dem zu bieten haben, der seine Existenz auf der Bühne aufs Spiel setzt, ist ihr Körper; das ist genau wie mit den Gladiatoren oder den Stierkämpfern. Es wäre dumm, sich einzubilden, daß diese primitiven Mechanismen verschwunden sind: Ich kenne sie, ich setze sie ein, ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt damit. Ich kenne genau die erotische Anziehungskraft eines Rugbyspielers, die eines Rockstars, eines Schauspielers oder eines Rennfahrers: All das läuft nach einem alten Schema ab, das nur gewissen zeit- oder modebedingten Schwankungen unterliegt. Ein gutes Teeny-Magazin versteht es, diese Schwankungen ein wenig zu antizipieren.«

Ich dachte eine gute Minute lang nach; ich mußte ihr meinen Standpunkt auseinandersetzen. Das war wichtig oder auch nicht — sagen wir besser, ich hatte Lust dazu.

»Du hast völlig recht…«, sagte ich. »Allerdings mit der Einschränkung, daß ich gar nichts aufs Spiel setze.«

»Wie meinst du das?« Sie richtete sich im Bett auf und blickte mich überrascht an.

»Selbst wenn das Publikum Lust haben sollte, mich abzuservieren, kann es das nicht tun; es gibt niemanden, den es an meine Stelle setzen kann. Ich bin ganz einfach unersetzlich.«

Sie runzelte die Stirn und blickte mich an; es war inzwischen hell geworden, und ich sah, wie sich ihre Brustwarzen beim Atmen bewegten. Ich hatte Lust, eine in den Mund zu nehmen, daran zu saugen und an nichts mehr zu denken, aber ich sagte mir, daß es wohl besser war, wenn ich ihr ein wenig Zeit zum Nachdenken ließ. Dazu brauchte sie nicht mehr als dreißig Sekunden; sie war wirklich eine intelligente Frau.

»Du hast recht«, sagte sie. »Du bist jemand, der eine völlig unnormale Offenheit besitzt. Ich weiß nicht, ob irgendein besonderes Ereignis in deinem Leben dafür verantwortlich ist oder ob es durch deine Erziehung oder sonstwas ausgelöst wurde; auf jeden Fall besteht kaum die Chance, daß sich so ein Phänomen in dieser Generation wiederholt. Die Leute brauchen dich tatsächlich, mehr als du sie brauchst — die Leute in meinem Alter zumindest. In ein paar Jahren dürfte sich das ändern. Du kennst ja die Zeitschrift, für die ich arbeite: Wir versuchen eine Welt zu propagieren, in der sich die Leute nur noch für gekünstelte, oberflächliche Dinge interessieren; Ernst oder Humor haben darin keinen Platz mehr, statt dessen stürzen sich die Leute bis zu ihrem Tod in eine Suche nach fun und Sex, die immer verzweifelter wird, eine Generation von endgültigen kids. Und das wird uns auch garantiert gelingen; in einer solchen Welt hast du dann keinen Platz mehr. Aber ich nehme an, daß das nicht allzu schlimm ist, du hast sicher Zeit genug gehabt, um eine ordentliche Summe Geld zu sparen.«

»Sechs Millionen Euro.«

Ich hatte mechanisch, gedankenlos geantwortet; mich beschäftigte seit mehreren Minuten eine andere Frage: »Deine Zeitschrift … Du hast natürlich recht, ich habe mit deinen Lesern so gut wie gar nichts gemein. Ich bin zynisch und verbittert, das kann im Grunde nur Leute interessieren, die einen gewissen Zweifel zulassen, Leute, die sich in einer Art Untergangsstimmung befinden. Das Interview paßt nicht zu der Politik, die ihr betreibt.«

»Da hast du recht…«, sagte sie mit erstaunlicher Ruhe, wie ich rückblickend sagen muß, denn Isabelle war so offen und ehrlich, so unbegabt für die Lüge. »Das Interview wird nie erscheinen; das war nur ein Vorwand, um dich zu treffen.«

Sie blickte mir fest in die Augen, und ich war derart erregt, daß diese Worte genügten, um eine Erektion bei mir hervorzurufen. Ich glaube, sie war über diese so sentimentale, so menschliche Reaktion richtig gerührt; sie schmiegte sich an mich, legte den Kopf an meine Schulter und begann mich zu wichsen. Sie ließ sich Zeit, nahm meine Eier in die Hand und bewegte die Finger mal schneller, mal langsamer und mit unterschiedlichem Druck. Ich entspannte mich, überließ mich ganz ihrer Liebkosung. Etwas entstand zwischen uns, ein Zustand der Unschuld gleichsam, ich war offensichtlich nicht ganz so zynisch, wie ich geglaubt hatte. Sie wohnte im 16. Arrondissement auf den Höhen von Passy; in der Ferne führte eine Metrobrücke über die Seine. Der Tag begann, der Lärm des Verkehrs wurde hörbar; Sperma spritzte auf ihre Brust. Ich nahm sie in die Arme.

»Isabelle …«, flüsterte ich ihr ins Ohr, »ich würde gern hören, wie du bei dieser Zeitschrift gelandet bist.«

»Das ist erst ein gutes Jahr her, wir haben bisher 14 Nummern von Lolita herausgebracht. Ich habe sehr lange bei der Zeitschrift 20 Ans gearbeitet, in allen Bereichen; Evelyne, die Chefredakteurin, hat sich ganz auf mich verlassen. Zum Schluß, kurz bevor die Zeitschrift aufgekauft wurde, hat sie mich zu ihrer Stellvertreterin ernannt; das war wohl auch das mindeste, denn seit zwei Jahren hatte ich ihre ganze Arbeit gemacht. Und trotzdem haßte sie mich; ich erinnere mich noch an den haßerfüllten Blick, den sie mir zuwarf, als sie mir die Einladung von Lajoinie übergab. Du weißt doch, wer Lajoinie ist, der Name sagt dir sicher was, oder?«

»Ein bißchen…«

»Ja, er ist in der Öffentlichkeit nicht sehr bekannt. Er war Aktionär von 20 Ans, keiner der Hauptaktionäre, aber er hatte die anderen zu dem Verkauf überredet; eine italienische Gruppe hat die Zeitschrift übernommen. Evelyne wurde natürlich vor die Tür gesetzt; die Italiener waren bereit, mich zu behalten, aber die Tatsache, daß Lajoinie mich zum Brunch an einem Sonntagmittag zu sich einlud, konnte natürlich nur bedeuten, daß er mir ein anderes Angebot machen wollte; das hat Evelyne natürlich gespürt, und das machte sie verrückt vor Wut. Er wohnte im Marais, ganz in der Nähe der Place des Vosges. Als ich dort ankam, habe ich zuerst einen richtigen Schock erlebt: Karl Lagerfeld war da, Naomi Campbell, Tom Cruise, Jade Jagger, Björk… Auf jeden Fall nicht die Kategorie von Leuten, mit denen ich bisher zusammengekommen war.«

»Hat er nicht eine Zeitschrift für Schwule gegründet, die sehr gut läuft?«

»Nein, die Sache ist ein bißchen anders: Ursprünglich hatte GQ als Zielgruppe nicht die Schwulen, sondern es war eher eine etwas abgehobene Macho-Zeitschrift: Supergirls, Autos und ein paar aktuelle Nachrichten aus dem Militärbereich; nach sechs Monaten haben sie dann gemerkt, daß unheimlich viel Schwule das Blatt kauften, doch das war eine Überraschung, ich glaube nicht, daß sie die Gründe dafür im einzelnen herausgefunden haben. Wie dem auch sei, kurz darauf hat er die Zeitschrift verkauft und damit die Branche ungeheuer beeindruckt: Er hat GQ zu einem Zeitpunkt verkauft, als sie ganz oben war und jeder glaubte, der Aufstieg würde immer noch weiter gehen, und dann hat er 21 gegründet. Seitdem ist es mit GQ ständig abwärts gegangen, ich glaube, sie haben landesweit 40 % im Vertrieb verloren, und 21 ist zum ersten monatlich erscheinenden Herrenmagazin aufgestiegen — sie haben sogar Le Chasseur français übertroffen.

Ihr Rezept ist ganz einfach: rein metrosexuell. Fitneß, Schönheitspflege, Modetendenzen. Nicht ein bißchen Kultur, keine Zeile über aktuelle Ereignisse, kein Humor. Kurz gesagt, ich fragte mich wirklich, was er mir anbieten wollte. Er hat mich sehr freundlich empfangen, mich allen Leuten vorgestellt und mir den Platz ihm gegenüber angeboten. ›Ich habe große Achtung vor Evelyne …‹ waren seine ersten Worte. Ich habe mich bemüht, nicht in die Luft zu gehen: Niemand konnte Achtung vor Evelyne haben; diese alte Schnapsnase konnte einem nur Verachtung, Mitleid, Abscheu und was weiß ich alles einflößen, aber auf keinen Fall Achtung. Später habe ich dann gemerkt, daß das die Methode war, wie er mit seiner Belegschaft umging: Er sagte nie etwas Schlechtes über jemanden, unter gar keinen Umständen; im Gegenteil, er war immer des Lobes voll über seine Mitarbeiter, auch wenn diese es überhaupt nicht verdienten — was ihn natürlich nicht davon abhielt, sie zu gegebener Zeit vor die Tür zu setzen. Mir war die Sache natürlich etwas peinlich, und daher versuchte ich das Gespräch auf 21 zu bringen.

»Wir müssen un-be-dingt…‹, er sprach seltsam abgehackt, betonte jede Silbe, fast so als drücke er sich in einer Fremdsprache aus, »unsere Konkurrenz in-te-res-siert sich viel zu sehr für die a-me-ri-ka-nische Presse, habe ich den Eindruck. Wir sind doch Eu-ro-pä-er… Unser Vorbild ist und bleibt die eng-li-sche Presse…‹

Na gut, 21 hatte eindeutig ein englisches Konzept kopiert, aber GQ ebenfalls; das erklärte nicht, was ihn dazu bewogen hatte, von einer Zeitschrift zu einer anderen überzugehen. Hatte es vielleicht in England irgendwelche Untersuchungen gegeben, oder hatte sich das Interesse der Leserschaft gewandelt?

»Soweit ich weiß, nicht… Sie sind sehr hübsch …‹, fuhr er völlig unvermittelt fort. »Man sollte Sie viel mehr in den Medien einsetzen…‹

Ich saß direkt neben Karl Lagerfeld, der unentwegt aß: Er nahm sich mit der Hand ein Stück gedünsteten Lachs nach dem anderen, tauchte es in die Dill-Sahnesoße und schob es in den Mund. Tom Cruise warf ihm ab und zu einen angewiderten Blick zu; Björk dagegen schien völlig fasziniert zu sein — man muß allerdings dazu sagen, daß sie schon immer versucht hatte, sich mit Sagadichtung, isländischer Energie usw. einen Namen zu machen, obwohl sie im Grunde völlig konventionell und äußerst manieriert war: Daher mußte der Anblick eines authentischen Wilden sie einfach faszinieren. Plötzlich wurde mir klar, daß man dem Modeschöpfer nur sein Rüschenhemd, seine Künstlerschleife, seinen Smoking mit Satinrevers auszuziehen und ihn in Tierfelle zu hüllen brauchte, und schon würde er völlig überzeugend die Rolle eines Teutonen aus Urzeiten spielen können. Er schnappte sich eine gekochte Kartoffel und bestrich sie reichlich mit Kaviar, ehe er sich an mich wandte: »Man muß in den Medien präsent sein, wenigstens ein bißchen. Ich zum Beispiel bin ein großer Medienfreak. Ich bin geradezu mediengeil …‹ Ich glaube, er hatte gerade seine zweite Abmagerungskur abgebrochen, auf jeden Fall hatte er über die erste schon ein Buch geschrieben.

Irgend jemand legte Musik auf, es kam Bewegung in die Gruppe, ich glaube, Naomi Campbell begann zu tanzen. Ich starrte weiterhin Lajoinie an und wartete darauf, daß er mir ein Angebot machte. Aus lauter Verzweiflung knüpfte ich ein Gespräch mit Jade Jagger an, wir haben wohl über Formentera oder ein ähnlich leichtes Thema gesprochen, aber sie hat einen guten Eindruck auf mich gemacht, sie ist eine intelligente, lockere Frau; Lajoinie hatte die Augen halb geschlossen, als sei er eingeschlummert, aber ich glaube, daß er jetzt mein Verhalten den anderen gegenüber beobachtete — auch das gehörte zu der Methode, wie er mit seinen Mitarbeitern umging. Irgendwann hat er etwas gemurmelt, aber ich habe es nicht verstanden, die Musik war zu laut; dann warf er einen kurzen gereizten Blick nach links: Karl Lagerfeld ging inzwischen in einer Ecke des Raums auf den Händen; Björk sah ihm laut lachend dabei zu. Dann setzte sich der Modeschöpfer wieder neben mich, klopfte mir heftig auf die Schulter und brüllte: »Alles klar? Alles klar?‹, ehe er Schlag auf Schlag drei Aale hinunterwürgte. »Sie sind mit Abstand die hübscheste Frau hier! Da kommt keine von den anderen ran! …‹, dann machte er sich über die Käseplatte her; ich glaube, er war mir aufrichtig zugetan. Lajoinie sah ungläubig zu, wie er einen Livarot verschlang. »Du bist wirklich ein geiler Freak, Karl…‹, flüsterte er; dann wandte er sich mir zu und sagte: »Fünfzigtausend Euro.« Das war alles; mehr hat er an jenem Tag nicht gesagt.

Am folgenden Morgen bin ich in sein Büro gegangen, und da hat er mir etwas mehr erzählt. Die Zeitschrift sollte Lolita heißen. »Das wichtigste dabei ist die Diskrepanz …‹, sagte er. Ich begriff in etwa, was er damit meinte: 20 Ans zum Beispiel wurde vor allem von fünfzehn- oder sechzehnjährigen Mädchen gekauft, die den Eindruck hervorrufen wollten, sie seien total aufgeklärt, besonders, was Sex anging; mit Lolita wollte er die Sache umkehren. »Unsere Zielgruppe beginnt bei den Zehnjährigen …‹, sagte er, »aber es gibt keine Obergrenze.‹ Er ging davon aus, daß der Hang der Mütter, ihre Töchter zu imitieren, immer ausgeprägter würde. Es wirkt natürlich ein bißchen lächerlich, wenn eine Frau um die Dreißig eine Zeitschrift mit dem Titel Lolita kauft, aber auch nicht lächerlicher als ein hautenges Top oder superkurze Shorts. Außerdem ging er davon aus, daß das Gespür für Lächerlichkeit, das bei Frauen und insbesondere bei französischen Frauen sehr ausgeprägt war, allmählich verschwinden und durch einen regelrechten Jugendkult ersetzt werden würde.

Man muß schon sagen, daß er mit seiner Einschätzung recht behalten hat. Das Durchschnittsalter unserer Leserinnen ist achtundzwanzig — und jeden Monat nimmt es zu. Für die Werbefachleute sind wir inzwischen zur tonangebenden Frauenzeitschrift geworden — ich wiederhole nur, was man mir gesagt hat, auch wenn es mir schwerfällt, das zu glauben. Ich manage die Sache, versuche sie zu managen oder tue zumindest so, aber im Grunde begreife ich überhaupt nichts mehr. Ich gehe immer sehr professionell vor, das stimmt schon, ich habe dir ja gesagt, daß ich ein bißchen rigide bin, daher diese Gründlichkeit: Es gibt nie einen Druckfehler, das Layout ist perfekt, und die Zeitschrift erscheint immer zum vorgesehenen Termin, aber was den Inhalt angeht… Es ist normal, daß die Leute Angst vorm Altern haben, vor allem Frauen, das war schon immer so, aber jetzt… Das übertrifft die wildesten Vorstellungen; ich glaube, die sind völlig verrückt geworden.«