Am Morgen des Weihnachtstages erfuhr ich, daß Isabelle sich umgebracht hatte. Es wunderte mich nicht wirklich: Innerhalb weniger Minuten spürte ich, wie sich eine Leere in mir ausbreitete; aber es handelte sich um eine Leere, die voraussehbar war und die ich bereits erwartet hatte. Seit meiner Abreise aus Biarritz wußte ich, daß Isabelle irgendwann Selbstmord begehen würde; ich wußte es seit dem Blick, den wir am letzten Morgen gewechselt hatten, als ich die Küche verließ, um ins Taxi zu steigen, das mich zum Bahnhof bringen sollte. Ich hatte auch geahnt, daß sie den Tod ihrer Mutter abwarten würde, um sie bis zuletzt zu pflegen und ihr nicht weh zu tun. Und ich wußte darüber hinaus, daß ich selbst früher oder später zu der gleichen Lösung greifen würde.
Ihre Mutter war am 13. Dezember gestorben. Isabelle hatte eine Grabstätte auf dem städtischen Friedhof von Biarritz gekauft und sich um die Beerdigung gekümmert; sie hatte ein Testament gemacht und ihre Angelegenheiten ins reine gebracht; und in der Nacht zum 25. hatte sie sich dann eine hohe Dosis Morphium gespritzt. Sie war nicht nur ohne Schmerzen gestorben, sondern vermutlich sogar in einem Anflug von Freude, oder zumindest in einem Zustand euphorischer Entspannung, den dieses Mittel hervorruft. Am Morgen desselben Tages hatte sie Fox in einem Hundezwinger abgegeben. Sie hinterließ mir keinen Brief, da sie wohl angenommen hatte, daß es überflüssig sei und ich sie nur allzugut verstehen würde; aber sie hatte angeordnet, daß mir der Hund übergeben werden sollte.
Ich fuhr ein paar Tage später hin, sie war bereits eingeäschert worden. Am Morgen des 30. Dezember betrat ich den »Saal der Stille« auf dem Friedhof in Biarritz. Es war ein großer runder Raum mit einer Decke aus Glas, die den Raum in sanftes graues Licht tauchte. Alle Wände besaßen kleine Waben, in denen man Metallquader mit der Asche der Verstorbenen aufbewahren konnte. Über jeder Nische war ein kleines Schild angebracht, auf dem in kursiver Schreibschrift der Name und Vorname des Toten stand. In der Mitte des Raums befand sich ein runder Marmortisch, der von Stühlen aus Glas oder eher aus durchsichtigem Plastik umgeben war. Nachdem der Friedhofswärter mich hereingelassen hatte, stellte er den Behälter mit Isabelles Asche auf den Tisch, dann ließ er mich allein. Während ich in dem Raum war, konnte niemand anders hereinkommen; meine Anwesenheit wurde durch eine kleine rote Lampe angezeigt, die draußen aufleuchtete wie in einem Filmstudio, wenn gerade gedreht wird. Ich blieb gut zehn Minuten im Saal der Stille, so wie die meisten Leute.
Ich verbrachte einen seltsamen Sylvesterabend allein in meinem Zimmer der Villa Eugenie und wälzte einfache Endzeitgedanken, die praktisch keine Widersprüche enthielten. Am 2. Januar holte ich morgens Fox ab. Ehe ich abreisen konnte, mußte ich leider noch in Isabelles Wohnung zurückkehren, um die Papiere zu holen, die für die Erbschaftsfragen erforderlich waren. Sobald wir in die Einfahrt der Wohnanlage kamen, bemerkte ich, daß Fox vor freudiger Ungeduld zitterte; er war noch etwas dicker geworden, die Corgis sind eine Rasse, die zu Leibesfülle neigt, dennoch rannte er bis zur Tür von Isabelles Wohnung und machte dann außer Atem halt, um auf mich zu warten, denn ich ging die von winterlich kahlen Kastanien gesäumte Allee sehr viel langsamer entlang. In dem Augenblick, als ich nach den Schlüsseln suchte, kläffte er vor Ungeduld; der arme Kerl, sagte ich mir, der arme kleine Kerl. Sobald ich die Tür geöffnet hatte, stürzte er in die Wohnung, machte einmal schnell die Runde, kam dann zurück und warf mir einen fragenden Blick zu. Während ich Isabelles Sekretär durchsuchte, rannte er mehrmals wieder los, erforschte schnuppernd ein Zimmer nach dem anderen, kam dann wieder zu mir zurück, blieb vor Isabelles Schlafzimmertür stehen und blickte mich mit enttäuschter Miene an. Jedes Lebensende hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Aufräumen; man hat keine Lust mehr, ein neues Projekt zu beginnen, man begnügt sich damit, die täglichen Dinge zu erledigen. Alles, was man nie getan hat, und sei es noch so etwas Unbedeutendes wie etwa eine Mayonnaise zuzubereiten oder eine Partie Schach zu spielen, wird nach und nach aufgegeben, der Wunsch, eine neue Erfahrung zu machen oder ein neues Gefühl zu entdecken, verschwindet völlig. Aber wie dem auch sei, sie hatte alles sehr gut aufgeräumt, und es dauerte nur ein paar Minuten, bis ich Isabelles Testament und die Besitzurkunde für die Wohnung fand. Ich hatte nicht die Absicht, sofort den Notar aufzusuchen, ich sagte mir, daß ich zu einem späteren Zeitpunkt nach Biarritz zurückkommen würde, wußte aber genau, daß es eine unangenehme Aufgabe war und ich vermutlich nie den Mut aufbringen würde, sie zu erledigen, aber das war unwichtig, nichts war jetzt mehr wirklich wichtig. Als ich den Umschlag öffnete, stellte ich fest, daß dieser Schritt nicht mehr nötig war: Sie hatte alles, was sie besaß, der elohimitischen Kirche vermacht, ich erkannte das Vertragsformular wieder; die zuständigen Stellen würden sich darum kümmern.
Als ich die Wohnung verließ, folgte mir Fox ohne Schwierigkeiten, er glaubte wahrscheinlich, wir würden nur einen kleinen Spaziergang machen. In einer Tierhandlung in der Nähe des Bahnhofs kaufte ich einen Plastikbehälter, um Fox während der Reise zu transportieren; dann reservierte ich eine Fahrkarte für den Schnellzug nach Irún.
In der Gegend von Almeria herrschte mildes Wetter, ein Vorhang aus feinem Regen begrub die kurzen Tage unter sich, die den Eindruck vermittelten, als begännen sie nie richtig, und dieser düstere Friede hätte mir durchaus zusagen können, mein alter Hund und ich hätten ganze Wochen damit verbringen können, uns Träumereien zu überlassen, die nicht mal mehr richtige Träumereien waren, doch leider erlaubten es die Umstände nicht. In einem Umkreis von mehreren Kilometern rings um mein Haus waren Bauarbeiten begonnen worden, um neue Villen zu errichten. Es wimmelte von Baukränen und Mischmaschinen, und um ans Meer zu gelangen, mußten wir uns zwischen Sandhaufen sowie Stapeln von Stahlträgern hindurchschlängeln und ständig Planierraupen und Baufahrzeugen ausweichen, die ohne zu verlangsamen durch aufspritzende Schlammpfützen auf uns zurasten. Nach und nach gewöhnte ich es mir ab, nach draußen zu gehen, bis auf die zwei kurzen Spaziergänge, die ich mit Fox machte und die überhaupt nicht mehr angenehm waren: Er jaulte und preßte sich an mich, so sehr ängstigte ihn der Lärm der Lastwagen. Ich erfuhr vom Zeitungshändler, daß Hildegard gestorben war und Harry sein Haus verkauft hatte, um sein Lebensende in Deutschland zu verbringen. Nach und nach verzichtete ich sogar darauf, mein Schlafzimmer zu verlassen, und verbrachte den größten Teil meiner Tage im Bett in einem Zustand geistiger Leere, der dennoch schmerzhaft war. Manchmal dachte ich daran zurück, wie Isabelle und ich hier vor einigen Jahren angekommen waren; ich weiß noch, wieviel Freude es ihr gemacht hatte, das Haus einzurichten und vor allem zu versuchen, Blumen anzupflanzen und einen Garten anzulegen. Wir hatten immerhin ein paar kurze Augenblicke des Glücks erlebt. Ich dachte auch an die Nacht zurück, in der wir uns nach unserem Besuch bei Harry zum letzten Mal in den Dünen geliebt hatten; aber es gab keine Dünen mehr, die Planierraupen hatten alles eingeebnet, jetzt war es ein schlammiges, von Bretterzäunen umgebenes Gelände. Auch ich würde mein Haus verkaufen, ich hatte keinen Grund mehr hierzubleiben: Ich kontaktierte einen Immobilienhändler, der mir erklärte, daß die Grundstückspreise inzwischen sehr gestiegen waren, ich könne mit einem beträchtlichen Wertzuwachs rechnen. Ich wusste nicht genau, in welchem Zustand ich sterben würde, aber auf jeden Fall würde ich reich sterben. Ich bat ihn zu versuchen, das Haus so schnell wie möglich zu verkaufen, auch wenn die Angebote nicht so hoch waren, wie er hoffte; mir wurde diese Gegend mit jedem Tag unerträglicher. Ich hatte den Eindruck, daß die Arbeiter nicht nur keine Sympathie für mich empfanden, sondern daß sie mir eindeutig feindlich gesinnt waren und absichtlich ganz nah mit ihren riesigen Lastwagen an mir vorbeifuhren, mich mit Schlamm bespritzten und Fox in Furcht und Schrecken versetzten. Dieser Eindruck war vermutlich richtig: Ich war Ausländer, stammte aus dem Norden, und außerdem wußten sie, daß ich reicher war als sie, viel reicher; sie empfanden mir gegenüber einen dumpfen, animalischen Haß, der dadurch, daß er ohnmächtig war, noch verstärkt wurde, denn das Gesellschaftssystem war da, um Menschen wie mich zu schützen, und das Gesellschaftssystem war stark, die Guardia Civil war sehr präsent und führte immer öfter Streifen durch, Spanien hatte gerade eine sozialistische Regierung bekommen, die für Korruption nicht so anfällig war wie andere, weniger Kontakte zu lokalen Niederlassungen der Mafia hatte und fest entschlossen war, die Schicht der gebildeten, wohlhabenden Leute zu schützen, die den Großteil ihrer Wählerschaft bildeten. Ich hatte noch nie Sympathie für die Armen gehabt, und jetzt, da mein Leben hinüber war, hatte ich noch weniger als je zuvor. Die Überlegenheit, die mir mein Geld gab, hätte mich sogar fast etwas trösten können: Ich hätte ihnen arrogante Blicke zuwerfen können, während sie mit gekrümmtem Rücken Schuttberge fortschaufelten oder Bohlen und Backsteine von den Lastwagen abluden; ich hätte ihre furchigen Hände, ihre Muskeln, die mit nackten Frauen bebilderten Kalender, mit denen sie ihre Baufahrzeuge ausschmückten, ironisch abtun können. Doch diese winzigen Momente der Genugtuung konnten mich, wie ich genau wußte, nicht daran hindern, sie um ihre natürliche, ungezügelte Männlichkeit zu beneiden, um ihre proletarische animalische Jugend, die mir mit brutaler Deutlichkeit ins Auge sprang.