Daniel1,11

»Uns geht es wie allen Künstlern,

wir glauben an unser Produkt.«

Gruppe Début de soirée

Mit trauriger Resignation machte ich mich in den ersten Oktobertagen wieder an die Arbeit — zu anderem war ich einfach nicht fähig. Nun, das Wort Arbeit ist vielleicht ein bißchen zu hoch gegriffen, um mein erstes Vorhaben zu charakterisieren — eine Rap-CD mit dem Titel »Fick die Beduinen« und dem Untertitel »Tribute to Ariel Sharon«. Sie wurde von der Kritik gut aufgenommen (ich zierte erneut das Cover von Radikal Hip-Hop, diesmal allerdings ohne mein Auto), verkaufte sich aber nicht besonders. In der Presse nahm ich wieder einmal die Position eines paradoxen Kreuzritters der freien Welt ein, aber der Skandal war nicht so heftig wie zur Zeit meiner Show »Am liebsten Gruppensex mit Palästinenserinnen« — diesmal, sagte ich mir mit einem leichten Gefühl der Nostalgie, waren die radikalen Islamisten wirklich out.

Die relativ schlechten Verkaufszahlen waren vermutlich darauf zurückzuführen, daß die Musik ziemlich mittelmäßig war; es war nicht einmal richtiger Rap, ich hatte mich damit begnügt, meine Sketche auf einem Drum'n'Bass-Rhythmus zu sampeln und ab und zu ein paar Vokalparts hinzuzufügen — Jamel Debbouze nahm an einem der Chorusse teil. Ich hatte immerhin einen Originalsong mit dem Titel »Reißt auf den Anus der Neger« geschrieben, mit dem ich recht zufrieden war: Neger reimte sich mal auf heißen Feger und mal auf integer; Anus auf Lapsus oder Cunnilingus; sehr hübsche lyrics, die sich auf mehreren Ebenen interpretieren ließen — der Journalist von Radikal Hip-Hop, der privat selbst ein Rapper war, es aber nicht gewagt hatte, in seiner Redaktion davon zu erzählen, war sichtlich beeindruckt, und in seinem Artikel verglich er mich sogar mit Maurice Scève. Der Titel hätte also durchaus zu einem Hit werden können, außerdem hatte ich einen guten buzz; es war wirklich schade, daß die Musik im Vergleich dazu etwas abfiel. Man hatte mir viel Gutes über einen unabhängigen Produzenten namens Bertrand Batasuna erzählt, der Kultplatten, die nicht mehr zu finden waren, bei einem obskuren Label unter der Hand wieder herausbrachte; doch ich wurde bitter enttäuscht. Der Typ war nicht nur eine kreative Null — während der Aufnahme lag er schnarchend auf dem Teppichboden und furzte alle Viertelstunde —, er war auch privat sehr unangenehm, ein richtiger Nazi — später erfuhr ich, daß er tatsächlich bei der FANE mitgemischt hatte. Gott sei Dank bekam er nicht viel Geld; aber wenn das alles war, was Virgin mir als »neue französische Talente« anzubieten hatte, dann verdienten sie wirklich, von Sony BMG geschluckt zu werden. »Wenn wir Goldman oder Obispo genommen hätten, wie alle anderen Musiker, dann wäre uns das erspart geblieben …«, sagte ich schließlich zum künstlerischen Leiter von Virgin, der daraufhin einen langen Seufzer ausstieß; im Grunde war er mit mir einer Meinung, sein voriges Projekt mit Batasuna, eine auf Hardcore Techno gesampelte Polyphonie mit Schafen aus den Pyrenäen, war im übrigen ein kommerzieller Flop gewesen. Aber er verfügte eben nur über ein begrenztes Budget und konnte es sich nicht leisten, es zu überziehen, sonst hatte er darüber mit der Hauptgeschäftsstelle in New Jersey verhandeln müssen, kurz gesagt, ich gab's auf. Man kann sich eben auf niemanden verlassen. Mein Aufenthalt in Paris während der Zeit, in der ich die Aufnahme machte, war dennoch eher angenehm. Ich wohnte im Hotel Lutetia, was mich an Francis Blanche und die Kommandantur erinnerte, also an all die schönen Jahre, in denen ich voller Eifer und voller Haß war und die Zukunft noch vor mir hatte. Jeden Abend las ich vor dem Einschlafen Agatha Christie, vor allem ihre früheren Werke, ihre letzten Bücher hatten mich zu sehr bewegt, besonders Endless night, das mich in eine regelrechte Trance der Trauer versetzt hatte. Und beim Ende von Curtain: Poirot's last case hatte ich immer bei den letzten Sätzen des Abschiedsbriefs von Poirot an Hastings weinen müssen.

»Aber jetzt bin ich sehr demütig und sage wie ein Kind: ›Ich weiß es nicht…‹

Leben Sie wohl, cher ami! Das Amylnitrit ist nicht in Reichweite meines Bettes. Ich habe es weggetan. Ich ziehe es vor, mich ganz in die Hände des bon Dieu zu geben. Möge seine Strafe oder seine Gnade mir rasch zuteil werden!

Wir werden nie mehr zusammen auf die Jagd gehen, mein Freund. Unsere erste Jagd fand hier statt — und auch unsere letzte…

Es waren schöne Zeiten.

Ja, es waren schöne Zeiten ..,«

Außer dem Kyrieeleison der h-Moll-Messe und vielleicht dem Adagio von Barber gab es kaum etwas, was mich in solch einen Zustand versetzen konnte. Körperliches Gebrechen, Krankheit, Vergessen, all das war gut: Es war real. Vor Agatha Christie hatte niemand die Trostlosigkeit des körperlichen Verfalls und den allmählichen Verlust all dessen, was dem Leben Sinn und Freude verleiht, auf so ergreifende Weise dargestellt; und auch nach ihr war es niemandem gelungen, es ihr gleichzutun. Ein paar Tage lang hatte ich fast Lust, mich wieder meiner Karriere zu widmen und etwas Ernsthaftes zu beginnen. In dieser geistigen Verfassung rief ich Vincent Greilsamer an, den elohimitischen Künstler; er schien sich über meinen Anruf zu freuen, und wir beschlossen, uns noch am selben Abend zu treffen.

Ich kam mit fünf Minuten Verspätung in dem Bistro an der Porte de Versailles an, wo wir uns verabredet hatten. Er stand auf und winkte mir zu. Die Vereine zur Bekämpfung von Sekten geben im allgemeinen den Ratschlag, man solle sich nicht von dem positiven Eindruck beirren lassen, den ein erster Kontakt oder ein Einführungskurs sehr oft vermittelten, bei denen die schädlichen Seiten der Doktrin durchaus verschwiegen werden konnten. Ich muß sagen, daß ich bisher nicht recht sah, wo die Falle sein sollte; dieser Typ zum Beispiel machte einen völlig normalen Eindruck. Na gut, er war ein bißchen introvertiert und vermutlich ziemlich einsam, aber auch nicht mehr als ich. Er drückte sich einfach und sehr direkt aus.

»Ich kenne mich mit zeitgenössischer Kunst nicht besonders aus«, sagte ich entschuldigend. »Ich habe von Marcel Duchamp gehört, aber das ist schon alles.«

»Ja, er hat ohne Zweifel den größten Einfluß auf die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts ausgeübt. Seltsamerweise denkt man seltener an Yves Klein; dabei beziehen sich alle Leute, die Performances oder Happenings veranstalten oder etwas mit ihrem eigenen Körper machen, mehr oder weniger bewußt auf ihn.«

Er verstummte. Als er sah, daß ich nicht antwortete und nicht einmal zu begreifen schien, wovon er sprach, fuhr er fort:

»Schematisch gesehen gibt es drei große Tendenzen. Die erste und wichtigste, die 80 Prozent der Subventionen bekommt und deren Werke sich am teuersten verkaufen, läßt sich der Kategorie des gore zurechnen: Amputationen, Kannibalismus, Enukleationen usw. Alles, was zum Beispiel in Zusammenarbeit mit Massenmördern in der Kunst gemacht wird. Die zweite hat einen Bezug zum Humor: etwa die unmißverständliche Ironie im Zusammenhang mit dem Kunstmarkt im Stil von Ben; oder etwas feinsinnigere Dinge im Stil von Broodthaers, wo es darum geht, Unbehagen und Scham bei dem Zuschauer, dem Künstler oder bei beiden hervorzurufen, indem man ein miserables, jämmerliches Schauspiel aufführt, bei dem man sich ständig fragen muß, ob es irgendeinen künstlerischen Wert hat; es gibt auch eine Richtung, die sich mit Kitsch beschäftigt, sich ihm annähert, ihn streift und ihn manchmal sogar kurz erreicht, aber natürlich nur unter der Bedingung, daß ein Metatext zu erkennen gibt, daß man die Sache durchschaut. Und dann gibt es eine dritte Tendenz, das ist die Arbeit mit dem Virtuellen: Häufig sind es junge Leute, die von Mangas und Heroic-Fantasy-Filmen beeinflußt worden sind; viele fangen so an und ziehen sich dann auf die erste Tendenz zurück, nachdem sie gemerkt haben, daß man vom Internet nicht leben kann.«

»Ich nehme an, daß du dich keiner dieser drei Tendenzen zurechnest.«

»Ich mag Kitsch zuweilen ganz gern, ich habe nicht unbedingt ein Bedürfnis, mich darüber lustig zu machen.«

»Die Elohimiten gehen da ein bißchen weiter, oder?«

Er lächelte. »Weißt du, der Prophet geht ganz naiv damit um, das hat nichts Ironisches, das ist viel gesünder …« Mir fiel auf, daß er das Wort »Prophet« ganz natürlich ausgesprochen hatte, ohne daß sich seine Stimme dabei irgendwie verändert hätte. Glaubte er wirklich an die Elohim? Seine Abscheu vor der malerischen Produktion des Propheten müßte ihm doch eigentlich etwas peinlich sein; irgend etwas an diesem Mann entging mir, ich mußte sehr aufpassen, wenn ich ihn nicht vor den Kopf stoßen wollte; ich bestellte mir ein weiteres Bier.

»Im Grunde gibt es nur graduelle Unterschiede«, fuhr er fort. »Wenn man so will, ist alles Kitsch. Die ganze Musik ist Kitsch; Kunst ist Kitsch, Literatur ist Kitsch. Jede Emotion ist fast zwangsläufig Kitsch; und auch Gedanken sind Kitsch und in gewisser Weise sogar alle Handlungen. Das einzige, was absolut kein Kitsch ist, ist das Nichts.«

Er ließ mir ein bißchen Zeit, um über seine Worte nachzudenken, ehe er fortfuhr: »Hättest du Lust, dir anzusehen, was ich mache?«

Ich nahm die Einladung natürlich an. Am darauffolgenden Sonntag war ich am frühen Nachmittag bei ihm. Er wohnte in einem Einfamilienhaus in Chevilly-Larue, mitten in einem Gelände, das sich gerade in der Phase eines »schöpferischen Zerstörungsprozesses« befand, wie Schumpeter gesagt hätte: schlammige, verwahrloste Grundstücke mit Kränen und Bauzäunen, soweit das Auge reichte; ein paar halbfertige Wohnblocks und andere, von denen erst die Grundmauern existierten. Sein aus Kalkstein erbautes Haus, das vermutlich aus den dreißiger Jahren stammte, war das einzige aus dieser Zeit, das nicht dem Abriß zum Opfer gefallen war. Er trat vor die Tür, um mich zu begrüßen. »Das ist das Haus meiner Großeltern …«, sagte er. »Meine Großmutter ist vor fünf Jahren gestorben und mein Großvater drei Monate später. Ich glaube, er ist vor Kummer gestorben — es hat mich sogar überrascht, daß er überhaupt drei Monate durchgehalten hat.«

Als ich das Eßzimmer betrat, bekam ich fast einen Schock. Im Gegensatz zu dem, was ich in zahlreichen Interviews zum Besten gegeben hatte, entstammte ich nicht der Arbeiterklasse; mein Vater hatte bereits die erste und schwierigste Hälfte des sozialen Aufstiegs geschafft — er hatte es bis zum leitenden Angestellten gebracht. Trotzdem kannte ich die Arbeiterklasse, während meiner ganzen Kindheit hatte ich bei meinen Onkeln und Tanten Gelegenheit genug gehabt, mich mit ihr vertraut zu machen: Ich kannte ihren Sinn für die Familie, ihre kindische Sentimentalität, ihre Vorliebe für Alpenbilder in knalligen Farben und ihre in Kunstleder gebundenen Sammlungen großer Schriftsteller. All das fand ich in Vincents Haus wieder, sogar die gerahmten Fotos und den grünen Samtbezug für das Telefon; er hatte seit dem Tod seiner Großeltern offensichtlich nicht die geringste Veränderung vorgenommen.

Etwas befangen ließ ich mich zu einem Sessel führen, ehe ich an der Wand das einzige Dekorationselement entdeckte, das wohl nicht aus dem letzten Jahrhundert stammte: ein Foto von Vincent, neben einem großen Fernseher sitzend. Auf einem niedrigen Tisch vor ihm standen zwei ziemlich grob gefertigte Skulpturen, die fast wirkten, als habe sie ein Kind gemacht, und die einen Brotlaib und einen Fisch darstellten. Auf dem Fernseher war in großen Lettern zu lesen: »Gebt den Menschen zu essen. Organisiert sie.«

»Das ist mein erstes Werk, das wirklich Erfolg hatte …«, erklärte er. »Anfangs war ich noch von Joseph Beuys beeinflußt, insbesondere von seiner Aktion: ›Dürer, ich führe persönlich Baader + Meinhof durch die documenta V‹. Das war in den siebziger Jahren, als die Terroristen der RAF in ganz Deutschland gesucht wurden. Damals war die »documenta« in Kassel die bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst in der ganzen Welt; Beuys hatte zwei Schilder mit diesem Satz im Eingang der Ausstellung aufgestellt, um anzuzeigen, daß er bereit war, Baader oder Meinhof, wann immer sie wollten, durch die Ausstellung zu führen, um ihre revolutionäre Energie in eine positive Kraft zu verwandeln, die der ganzen Gesellschaft zugute kam. Das war absolut ernst gemeint, und darin liegt die Schönheit dieser Geste. Selbstverständlich sind weder Baader noch Meinhof gekommen: Zum einen erschien ihnen die zeitgenössische Kunst als eine Verfallserscheinung der Bourgeoisie, und zum anderen fürchteten sie, es könne sich um eine Falle der Polizei handeln — was im übrigen durchaus möglich war, denn der »documenta« kam keinerlei besonderer Status zu; aber Beuys in seinem damaligen Größenwahn hatte vermutlich nicht einmal an die Existenz der Polizei gedacht.«

»Ich erinnere mich noch an irgend etwas im Zusammenhang mit Duchamp … Eine Gruppe, ein Spruchband mit einem Satz in der Art: ›Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet.‹«

»Ja, genau; der Satz war ursprünglich auf deutsch verfaßt. Aber das ist genau das Prinzip der Aktionskunst: Es geht darum, eine wirksame Parabel zu schaffen, die anschließend mehr oder weniger abgewandelt von anderen aufgegriffen wird, um indirekt die gesamte Gesellschaft zu verändern.«

Natürlich war ich jemand, der das Leben, die Gesellschaft und die Dinge kannte; aber ich besaß nur eine alltägliche Kenntnis, die sich auf die geläufigen Motivationen der menschlichen Maschine beschränkte; meine Sicht war die eines scharfen Beobachters gesellschaftlicher Ereignisse, also die eines Balzac-Anhängers der Kategorie medium light; es war eine Weltsicht, in der Vincent keinen zuweisbaren Platz hatte, und zum erstenmal seit Jahren, ja, im Grunde zum erstenmal seit meiner Begegnung mit Isabelle fühlte ich mich leicht verunsichert. Seine Worte erinnerten mich an das Werbematerial von Zwei Fliegen später, insbesondere an die T-Shirts. Auf jedem von ihnen war ein Zitat aus Pierre Louys' Handbuch des guten Benehmens für kleine Mädchen — zur Verwendung in Erziehungsheimen abgedruckt, der Lieblingslektüre des Filmhelden. Insgesamt waren es etwa zwölf verschiedene Zitate; die T-Shirts waren aus einer neuartigen glitzernden, etwas durchsichtigen Faser hergestellt, die so leicht war, daß das T-Shirt in einer Zellophanhülle zusammen mit der Nummer von Lolita verkauft werden konnte, die kurz vor der Premiere des Films herausgekommen war. Bei der Gelegenheit hatte ich Isabelles Nachfolgerin kennengelernt, eine total unfähige Schnepfe, die kaum imstande war, ihr Kennwort für den Computer im Gedächtnis zu behalten; trotzdem lief die Zeitschrift gut. Das Zitat, das ich für Lolita ausgesucht hatte, hieß: »Einem Armen ein paar Groschen zu geben, weil er nichts zu essen hat, ist gut; aber ihm einen zu blasen, weil er keine Geliebte hat, ist zuviel: das muß nicht sein.«

Also, sagte ich zu Vincent, im Grunde habe ich Aktionskunst gemacht, ohne es zu wissen. »Ja, ja…«, erwiderte er unsicher. In diesem Augenblick bemerkte ich leicht verlegen, daß er errötete; das war rührend und ein bißchen erschreckend. Gleichzeitig wurde mir klar, daß vermutlich noch nie eine Frau dieses Haus betreten hatte; denn eine Frau hätte als erstes die Inneneinrichtung geändert und wenigstens ein paar der Gegenstände weggeräumt, die eine Atmosphäre schafften, die nicht nur verstaubt wirkte, sondern sogar etwas von einer Leichenhalle hatte.

»Ab einem gewissen Alter ist es gar nicht mehr so leicht, Beziehungen zu unterhalten, finde ich …«, sagte er, als habe er meine Gedanken erraten. »Man hat kaum noch Gelegenheit und nicht mehr soviel Lust auszugehen. Und außerdem sind so viele Dinge zu erledigen, Formalitäten, Behördengänge … Einkäufe, Wäsche waschen. Und man braucht mehr Zeit, um die Gesundheit zu pflegen und körperlich einigermaßen in Form zu bleiben. Ab einem gewissen Alter geht es vor allem darum, das Leben zu managen.«

Seit Isabelle mich verlassen hatte, war ich es nicht mehr gewohnt, mit Menschen zu sprechen, die intelligenter waren als ich und imstande, meine Gedanken zu erraten; was er gerade gesagt hatte, war vor allem erschreckend wahr, und einen Augenblick lang blieben wir beide etwas befangen — sexuelle Themen sind immer ein bißchen heikel, und um die Atmosphäre aufzulockern, schnitt ich ein politisches Thema an, immer noch unter dem Aspekt der Aktionskunst, und erzählte ihm, wie die trotzkistische Splittergruppe Lutte Ouvriere ein paar Tage nach Öffnung der Berliner Mauer Dutzende von Aufrufen in Paris plakatiert hatte, auf denen zu lesen war: »Der Kommunismus ist noch immer die Zukunft der Welt.« Er hörte mir sehr aufmerksam und mit einem kindlichen Ernst zu, der mich allmählich bedrückte, und sagte dann zusammenfassend, daß diese Aktion zwar möglicherweise eine politische Bedeutung gehabt habe, sie jedoch keinerlei poetische und künstlerische Dimension besitze, da Lutte Ouvriere in erster Linie eine Partei und somit eine ideologische Maschine war, und daß Kunst immer eine cosa individuale sei; sogar wenn sie sich in Form von Protest ausdrücke, habe sie nur dann einen Wert, wenn es sich um einen individuellen Protest handele. Er entschuldigte sich für seinen Dogmatismus, lächelte traurig und sagte dann: »Willst du sehen, was ich mache? Dann müssen wir nach unten gehen … Ich glaube, danach wird die Sache konkreter.« Ich stand auf und folgte ihm zu der Treppe, die vom Eingangsflur hinabführte. »Ich habe die Zwischenwände rausgerissen und dadurch einen Raum von zwanzig mal zwanzig Metern im Keller zur Verfügung; vierhundert Quadratmeter ist genau das Richtige für das, was ich im Augenblick mache …«, fuhr er mit unsicherer Stimme fort. Mir wurde immer unbehaglicher zumute: Ich hatte mich zwar schon oft mit Leuten über das Showgeschäft, über Medienarbeit und Mikrosoziologie unterhalten, aber nie über Kunst, und ich ahnte dunkel, dass es sich um etwas Neues handeln würde, das gefährlich und möglicherweise tödlich war; ein Bereich, in dem man — ähnlich wie in der Liebe — so gut wie nichts gewinnen, aber fast alles verlieren konnte.

Nach der letzten Stufe setzte ich den Fuß auf einen ebenen Boden und ließ das Treppengeländer los. Es herrschte völlige Finsternis. Hinter mir drückte Vincent auf einen Schalter.

Zunächst tauchten unbestimmte blinkende Formen auf, wie eine Prozession von winzigen Gespenstern; dann erhellte sich ein paar Meter links von mir ein Bereich. Ich begriff überhaupt nicht, aus welcher Richtung die Beleuchtung kam; das Licht schien von dem Raum selbst hervorgebracht zu werden. »BELEUCHTUNG IST METAPHYSIK …«: Der Satz ging mir mehrere Sekunden lang durch den Kopf, dann verschwand er. Ich ging auf die Gegenstände zu. In einem Kurort in Mitteleuropa fuhr ein Zug ein. Die schneebedeckten Berge im Hintergrund lagen in gleißendem Sonnenlicht; glitzernde Seen, Almen. Die jungen Damen sahen reizend aus, trugen lange Kleider und Hüte mit Schleiern. Die Herren grüßten sie lächelnd und lüfteten den Zylinder. Alle sahen glücklich aus. »SCHÖNE NEUE WELT …«: Der Satz funkelte ein paar Sekunden auf und verschwand wieder. Die Lokomotive dampfte ein wenig, wirkte wie ein großes gutmütiges Tier. Alles schien sehr ausgeglichen, an seinem Platz. Die Beleuchtung wurde allmählich schwächer. Auf den Glaswänden des Casinos spiegelte sich die untergehende Sonne, und die herrschende Freude war von deutscher Ehrlichkeit geprägt. Dann wurde es wieder völlig dunkel, und im Raum wurde eine gewundene Linie aus durchsichtigen roten Plastikherzen sichtbar, die halb mit einer pulsierenden Flüssigkeit gefüllt waren. Ich folgte der Linie der Herzen, und eine neue Szene tauchte auf: Diesmal handelte es sich um eine asiatische Hochzeit, die vielleicht in Taiwan oder in Korea gefeiert wurde, auf jeden Fall in einem Land, das erst seit kurzem den Reichtum kannte. Mehrere blaßrote Mercedes setzten die Gäste auf dem Vorplatz einer neugotischen Kathedrale ab; der Bräutigam schwebte in einem weißen Smoking einen Meter über dem Erdboden durch die Luft, sein kleiner Finger war mit dem seiner Braut verschränkt. Dickbäuchige, von bunten Glühbirnen umgebene chinesische Buddhas bebten vor Freude. Eine seltsame, flüssige Musik wurde allmählich lauter, während sich das Brautpaar immer höher in die Lüfte erhob, bis es schließlich über der Hochzeitsgesellschaft schwebte — es hatte inzwischen die Höhe der Fensterrose der Kathedrale erreicht. Unter dem Applaus der Anwesenden gaben sich die beiden einen langen jungfräulichen und zugleich sehr intimen Kuß — ich sah, wie kleine Hände winkten. Im Hintergrund hoben Köche die Deckel von dampfenden Gerichten, das Gemüse bildete kleine farbige Flecken auf dem Reis. Knallkörper explodierten und es erklangen schmetternde Fanfaren.

Dann wurde es wieder dunkel, und ich schlug einen kaum zu erkennenden Weg ein, eine Art Fährte im Wald, umgeben von raschelndem grünen und goldenen Laub. Hunde tummelten sich auf der Engelslichtung, wälzten sich in der Sonne auf dem Boden. Später waren die Hunde mit ihren Herren zusammen, beschützten sie mit liebevollem Blick, und anschließend waren sie tot, und auf der Lichtung erhoben sich kleine Stelen — zum Gedenken an die Liebe, an die Spaziergänge in der Sonne und die geteilte Freude. Kein Hund war vergessen worden: ihr Relieffoto schmückte die Stelen, vor die die Herren das Lieblingsspielzeug ihres Hundes gelegt hatten. Es war ein fröhlicher Moment, ohne Tränen.

In der Ferne bildeten sich in goldenen Lettern Worte, die scheinbar an zitternden Vorhängen befestigt waren. Das Wort »LIEBE«, das Wort »GÜTE«, das Wort »ZÄRTLICHKEIT«, das Wort »TREUE«, das Wort »GLÜCK«. Sie tauchten aus völliger Dunkelheit auf, nahmen eine mattgoldene Färbung an, die immer intensiver wurde, bis sie blendende Helle erreichten; dann verblaßten sie wieder eines nach dem anderen, folgten aber einander in ihrem Aufstieg zum Licht, so daß es aussah, als hätten sie sich gegenseitig hervorgebracht. Geleitet vom Licht, das nach und nach alle Winkel des Raums erhellte, ging ich weiter durch den Keller. Es folgten andere Szenen, andere Visionen, so daß ich allmählich das Zeitgefühl verlor und erst wieder richtig zu mir kam, als ich draußen auf einer Gartenbank aus Korb an einer Stelle saß, an der sich früher vielleicht einmal eine Terrasse oder ein Wintergarten befunden hatte. Die Dunkelheit legte sich über das Baugelände; Vincent hatte eine Lampe mit einem großen Lampenschirm angezündet. Ich war sichtlich mitgenommen, er stellte mir, ohne daß ich ihn darum bitten mußte, ein Glas Cognac hin.

»Die Schwierigkeit liegt darin, daß ich damit keine Ausstellung mehr machen kann…«, sagte er. »Es muß viel zu viel eingestellt werden, und es ist so gut wie unmöglich, die Installation zu transportieren. Eine Frau aus der Abteilung Bildende Kunst vom Ministerium ist hergekommen; die überlegen sich, ob sie nicht einfach das Haus kaufen, Videos machen und sie dann verkaufen.«

Ich begriff, daß er den praktischen oder finanziellen Aspekt der Sache aus reiner Höflichkeit anschnitt, um die Unterhaltung wieder auf ein normales Gleis zu lenken — es war völlig klar, daß materielle Fragen in seiner Situation, hart an der Grenze des emotionalen Überlebens, nur noch eine begrenzte Bedeutung haben konnten. Ich wußte nichts darauf zu erwidern, wackelte mit dem Kopf und schenkte mir ein weiteres Glas Cognac ein; seine Selbstbeherrschung in diesem Augenblick wirkte geradezu erschreckend auf mich.

»Es gibt einen berühmten Satz«, fuhr er fort, »der Künstler in zwei Kategorien einteilt: die Revolutionäre und die Dekorateure. Man darf sagen, daß ich mich für die Dekorateure entschieden habe. Allerdings habe ich im Grunde keine andere Wahl gehabt, das Leben hat die Sache für mich entschieden. Ich erinnere mich noch an meine erste Ausstellung in der Galerie Saatchi in New York für die Aktion ›Feed the people. Organize them‹ — sie hatten den Titel übersetzt. Ich war ziemlich beeindruckt, es war das erstemal seit langer Zeit, daß ein französischer Künstler in einer bedeutenden New Yorker Galerie ausstellte. Damals war ich auch noch ein Revolutionär und vom revolutionären Wert meiner Arbeit überzeugt. Es war ein eiskalter Winter in New York, jeden Morgen fand man auf den Straßen erfrorene Penner; ich war überzeugt, die Leute würden, nachdem sie meine Arbeit gesehen hatten, sofort ihre Einstellung ändern, auf die Straße gehen und die Aufforderung wörtlich befolgen, die auf dem Bildschirm zu lesen war. Selbstverständlich geschah nichts von alledem: Die Leute kamen, nickten, wechselten ein paar kluge Worte und gingen wieder.

Ich nehme an, daß Revolutionäre fähig sind, sich der Brutalität der Welt zu stellen, und darüber hinaus imstande sind, mit noch größerer Brutalität darauf zu antworten. Ich hatte diesen Mut einfach nicht. Dabei war ich sehr ehrgeizig, aber es kann sein, daß Dekorateure im Grunde noch ehrgeiziger sind als Revolutionäre. Vor Duchamp bestand das höchste Ziel des Künstlers darin, eine persönliche, aber zugleich exakte, das heißt aufrüttelnde Sichtweise der Welt zu vertreten; das war bereits ein äußerst ehrgeiziger Anspruch. Seit Duchamp begnügt sich der Künstler nicht mehr damit, eine bestimmte Sichtweise der Welt zu vertreten, sondern er bemüht sich, seine eigene Welt zu schaffen; er wird zum Rivalen Gottes. In meinem Keller bin ich Gott. Ich habe beschlossen, ein leicht zugängliches kleines Universum zu schaffen, in dem man nur dem Glück begegnet. Der regressive Charakter meiner Arbeit ist mir völlig bewußt; ich weiß, daß man sie mit der Haltung der Jugendlichen vergleichen kann, die sich für ihre Briefmarkensammlung, ihr Herbarium oder sonst irgendeine begrenzte Welt in schillernden Farben begeistern, anstatt sich mit den Problemen der Jugend auseinanderzusetzen. Niemand wagt es, mir das offen ins Gesicht zu sagen, ich habe gute Kritiken in Art Press wie auch in den meisten europäischen Medien; aber ich habe die Verachtung im Blick der jungen Frau vom Ministerium gesehen. Sie war schlank, stark gebräunt und ganz in weißes Leder gekleidet — äußerst sexy; ich habe sofort gemerkt, daß sie mich wie ein kleines, behindertes, sehr krankes Kind betrachtete. Sie hat recht: Ich bin ein kleines, behindertes, sehr krankes Kind, das nicht lebensfähig ist. Ich kann mich der Brutalität der Welt nicht stellen; es gelingt mir einfach nicht.«

Als ich wieder im Hotel Lutetia war, hatte ich Mühe einzuschlafen. Vincent hatte ganz offensichtlich jemanden in seinen Kategorien vergessen. Genau wie der Revolutionär stellt sich der Humorist der Brutalität der Welt und antwortet darauf mit noch größerer Brutalität. Seine Aktion zielt jedoch nicht darauf ab, die Welt zu verändern, sondern sie ganz einfach annehmbar zu machen, indem er die Gewalt, die für jede revolutionäre Aktion erforderlich ist, in Lachen verwandelt — und nebenbei auch eine ganze Menge Kohle macht. Kurz gesagt, wie alle Spaßmacher und Hofnarren seit Urzeiten war ich eine Art Kollaborateur. Ich ersparte der Welt schmerzhafte und überflüssige Revolutionen — denn die Wurzel aller Übel war biologisch bedingt und unabhängig von jeder erdenklichen Form gesellschaftlicher Veränderung; ich sorgte für Klarheit, verhinderte aber die Aktion und vernichtete die Hoffnung; meine Bilanz war ziemlich gemischt.

Innerhalb weniger Minuten hielt ich mir meine ganze Karriere und insbesondere meine Filmkarriere noch einmal vor Augen. Rassismus, Pädophilie, Kannibalismus, Vatermord, Folterung und barbarische Handlungen: In knapp zehn Jahren hatte ich fast alle zugkräftigen Themen abgehakt. Es war wirklich seltsam, sagte ich mir noch einmal, daß die Verbindung von Bosheit und Lachen in der Filmbranche als echte Neuerung betrachtet wurde; sie lasen wohl nicht oft Baudelaire in diesem Milieu.

Dann blieb noch die Pornographie, an der sich alle die Zähne ausgebissen hatten. Sie schien bisher noch jedem Versuch, die Sache auf ein höheres Level zu bringen, zu widerstehen. Weder eine virtuose Kameraführung noch eine raffinierte Beleuchtung hatten etwas daran ändern können: Im Gegenteil, sie schienen eher ein Handikap zu sein. Auch ein ans Dogma 95 angelehnter Versuch mit Handkameras und Bildern aus einer Videoüberwachung war nicht erfolgreicher: Die Leute wollten Bilder, die scharf und deutlich waren. Häßlich, aber scharf und deutlich. Die Versuche, »anspruchsvolle Pornographie« zu produzieren, waren an Lächerlichkeit kaum zu überbieten und kommerziell ein totaler Flop. Die alte Devise der Marketingspezialisten »Natürlich wollen die Leute Standardprodukte, das hält sie aber nicht davon ab, unsere Luxusartikel zu kaufen« schien diesmal endgültig widerlegt zu sein, und der Sektor, der immerhin einer der lukrativsten der Filmbranche war, wurde obskuren ungarischen oder gar lettischen Stümpern überlassen. Zu der Zeit, als ich »Gras mir den Gazastreifen ab« drehte, hatte ich zu Dokumentarzwecken einen Nachmittag lang den Dreharbeiten eines der letzten noch aktiven französischen Filmemacher namens Ferdinand Cabarel zugeschaut. Es war keine vergeudete Zeit — auf menschlicher Ebene, meine ich. Trotz seines Namens, der auf eine Herkunft aus dem Südwesten Frankreichs schließen ließ, glich Ferdinand Cabarel einem ehemaligen Groupie von AC/DC: bleiche Hautfarbe, fettes, schmutziges Haar, ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Fuck your cunts« und Totenkopfringen. Ich sagte mir sogleich, daß ich selten so einen blöden Arsch gesehen hatte. Er konnte sich nur dadurch über Wasser halten, daß er seinen Teams einen tierischen Rhythmus abverlangte — er drehte pro Tag etwa vierzig Minuten, die verwendbar waren, machte nebenbei noch Werbe-Fotos für Hot Video und wurde darüber hinaus von der Branche als Intellektueller angesehen, vielleicht weil er behauptete, Filme aus einem inneren Bedürfnis zu machen. Ich lasse die Dialoge mal beiseite (»Ich mach dich geil, alte Schlampe, hm?« »Ja, du machst mich geil, du scharfe Sau«), ich gehe auch auf die bescheidenen Szenenanweisungen nicht weiter ein (»Jetzt kommt ein Dreier« wies natürlich darauf hin, daß die Schauspielerin von zwei Männern gleichzeitig penetriert wurde), nein, vor allem hat es mich verblüfft, mit welch unglaublicher Verachtung er die Schauspieler behandelte, vor allem die männlichen. Ohne die geringste Ironie, ohne jeden Humor brüllte Cabarel seinen Darstellern Sätze durchs Megaphon, wie zum Beispiel: »Wenn ihr nicht bald einen hochkriegt, ihr Säcke, dann gibt's keine Kohle!« oder: »Wenn der Arsch abspritzt, kann er gleich gehen …« Der Schauspielerin stand wenigstens ein Mantel aus unechtem Pelz zur Verfügung, damit sie ihre Blöße zwischen zwei Aufnahmen bedecken konnte; die männlichen Schauspieler mußten sich selbst eine Wolldecke mitbringen, wenn sie sich aufwärmen wollten. Schließlich gingen die Männer ja nur ins Kino, um die Schauspielerin zu sehen, sie würde vielleicht eines Tages auf dem Cover von Hot Video abgebildet werden; die männlichen Schauspieler wurden ganz einfach wie Pimmel auf zwei Beinen behandelt. Außerdem erfuhr ich (nicht ohne Schwierigkeiten, denn die Franzosen sprechen ja, wie man weiß, nicht gern über ihr Gehalt), daß die Schauspielerin fünfhundert Euro pro Drehtag verdiente, während sich die Kollegen mit hundertfünfzig begnügen mußten. Sie machten diesen Job nicht einmal, um Geld zu verdienen: so unglaublich und erschütternd sich das auch anhören mag, sie taten es, um Weiber zu vögeln. Ich erinnerte mich vor allem an die Szene in einer Tiefgarage: Es war bitterkalt, und als ich den beiden Typen zusah, Fred und Benjamin (der eine war Gruppenleiter bei der Feuerwehr und der andere Verwaltungsangestellter), die sich trübsinnig einen abwichsten, um bei dem anschließenden Dreier in Form zu sein, sagte ich mir, daß Männer doch manchmal wirklich brave Tiere waren, wenn eine Möse ins Spiel kam.

Diese wenig erfreuliche Erinnerung brachte mich nach einer so gut wie durchwachten Nacht schließlich dazu, ein Drehbuch zu entwickeln, dem ich vorläufig den Titel »Die Swinger der Autobahn« gab und das mir erlauben würde, sehr geschickt die kommerziellen Vorteile von Pornographie und extremer Gewalt zu verbinden. Während des Vormittags schrieb ich die Sequenz, die dem Vorspann vorausgehen sollte, und stopfte mich dabei mit Brownies in der Bar des Lutetia voll. Eine große schwarze Limousine (vielleicht ein Packard aus den sechziger Jahren) fuhr langsam zwischen Viehweiden und leuchtend gelben Ginsterbüschen eine Landstraße entlang (ich hatte vor, den Film in Spanien zu drehen, vermutlich in der Region Las Hurdes, die im Mai sehr schön ist); der Wagen erzeugte beim Fahren ein dumpfes Brummen (so ähnlich wie ein Bomber, der zu seinem Stützpunkt zurückfliegt).

Mitten auf einer Weide liebte sich ein Paar in freier Natur (es war eine Weide mit hohem Gras und vielen Blumen, Klatschmohn, Kornblumen und gelbe Blumen, deren Name mir im Moment nicht einfiel, aber ich schrieb an den Rand: »Vor allem viel gelbe Blumen«). Der Rock der jungen Frau war gerafft, ihr T-Shirt bis über die Brüste hochgeschoben, kurz gesagt, sie machte den Eindruck einer geilen Sau. Sie hatte die Hose des Mannes aufgeknöpft und bedachte ihn mit einer Fellatio. Ein Traktor mit gedrosseltem Motor, der im Hintergrund zu sehen war, schien darauf hinzudeuten, daß es sich um ein junges Bauernpaar handelte. Eine kleine Lutschpartie in einer Pause beim Pflügen, Le sacre du printemps usw. Eine Kamerafahrt nach hinten klärte uns aber bald darüber auf, daß das Liebespaar sein Spielchen im Bildfeld einer Kamera trieb und daß es sich in Wirklichkeit um Dreharbeiten für einen Pornofilm handelte, und zwar vermutlich um einen eher anspruchsvollen Film, da ein komplettes Team am Drehort war.

Der Packard hielt auf einer Anhöhe neben der Weide an, und zwei Killer in schwarzen Zweireihern stiegen aus. Sie mähten das junge Paar und das Team mit Schnellfeuergewehren nieder. Ich zögerte, dann strich ich »mähten mit Schnellfeuergewehren« durch: Es war besser, ein originelleres Verfahren zu wählen, zum Beispiel einen Diskuswerfer, der messerscharfe Scheiben durch die Luft schleuderte, um die Leute damit zu zerfetzen, vor allem das Liebespaar. Man durfte mit solchen Effekten nicht zu sparsam umgehen, sich nicht davor scheuen, den abgetrennten Pimmel im Mund der Frau zu zeigen usw.; man mußte einfach Szenen mit netten Bildern drehen, wie mein Produzent von »Diogenes der Kyniker« das genannt hätte. Ich schrieb an den Rand: »dafür sorgen, daß dem Typen die Eier abgerissen werden«.

Am Ende der Sequenz stieg ein beleibter Mann mit kohlschwarzem Haar und pockennarbigem, fettglänzendem Gesicht, der ebenfalls einen schwarzen Zweireiher trug, in Begleitung eines finster dreinblickenden Greises hinten aus dem Auto, der eine gewisse Ähnlichkeit mit William Burroughs hatte und dessen spindeldürrer Körper in einen Überzieher gehüllt war. Dieser betrachtete das Blutbad (rote Fleischfetzen auf der Weide, gelbe Blumen, Männer in schwarzen Anzügen), seufzte leicht, wandte sich zu seinem Gefährten um und sagte: »A moral duty, John.«

Nach mehreren blutigen Morden, die zumeist an jungen Paaren verübt wurden — zum Teil waren es noch halbe Kinder —, stellte sich heraus, daß diese etwas zwielichtigen Gestalten Mitglieder einer fundamentalistischen katholischen Vereinigung waren, die möglicherweise Opus Dei nahestand; von diesem Seitenhieb gegen das Auftrumpfen der Hüter der öffentlichen Moral versprach ich mir, die Sympathie der linken Kritiker zu gewinnen. Kurz darauf wurde jedoch deutlich, daß die Killer selbst von einem zweiten Team gefilmt wurden und das eigentliche Ziel der Sache nicht die Vermarktung von Pornofilmen, sondern die von Aufnahmen war, die extreme Gewalt vor Augen führten. Erzählung in der Erzählung, Film im Film usw. Eine bombensichere Sache.

Wie ich meinem Agenten noch am selben Abend erklärte, hatte ich mich wieder an die Arbeit gemacht, kam voran, fand allmählich meinen Rhythmus wieder; er zeigte sich erfreut darüber, gestand mir, daß er sich Sorgen gemacht habe. Bis zu einem gewissen Punkt hatte ich es ehrlich gemeint. Erst zwei Tage später, als ich wieder nach Spanien zurückflog, wurde mir im Flugzeug klar, daß ich dieses Drehbuch nie zu Ende schreiben würde — vom Drehen ganz zu schweigen. In Paris ist man einer gewissen Aufruhrstimmung ausgesetzt, die einem die Illusion vermittelt, man könne alle Projekte verwirklichen, die einem durch den Kopf schwirren; doch sobald ich wieder in San Jose war, das wußte ich, würde ich mich wie versteinert fühlen. Auch wenn ich mich noch so weltmännisch aufgespielt hatte, war ich jetzt dabei, mich zusammenzukrümmen wie ein alter Affe; ich fühlte mich völlig verbraucht, total ausgebrannt; das Gemurmel und Geschwafel, das ich von mir gab, war schon das eines Tattergreises. Ich war inzwischen siebenundvierzig und hatte mich seit dreißig Jahren bemüht, meine Mitmenschen zum Lachen zu bringen; doch jetzt war ich kaputt, wie erschossen, am Ende. Die Neugier, die manchmal noch in dem Blick aufflackerte, den ich auf die Welt warf, würde bald erlöschen, und dann würde ich den Steinen gleichen, mit dem Unterschied, daß ich noch dazu litt. Meine Karriere war kein Mißerfolg gewesen, zumindest kommerziell: Wenn man die Welt gewalttätig genug angreift, spuckt sie schließlich ihr dreckiges Geld aus; aber Freude kann sie einem nie wiedergeben, nie.