Daniel25,14

Mein erster Kontakt mit Esther31 war überraschend für mich; vermutlich vom Lebensbericht meines menschlichen Vorgängers beeinflußt, rechnete ich mit jemandem, der noch jung war. Sie war von meiner Bitte um Intermediation benachrichtigt worden und schaltete auf den Bildmodus um: Ich sah vor mir eine Frau von Anfang Fünfzig mit ruhigem, ernstem Gesicht, die eine Brille trug; sie saß vor ihrem Bildschirm in einem kleinen gut aufgeräumten Raum, der ihr wohl als Arbeitszimmer diente. Die Ordnungszahl 31, die sie trug, hatte mich schon leicht überrascht; sie erklärte mir, daß alle Nachfahren von Esther1 ihr Nierenleiden geerbt hätten, was bei allen zu einer kürzeren Lebensdauer geführt habe. Sie war natürlich über den Fortgang von Marie23 informiert: Sie war sich auch ziemlich sicher, daß sich eine Gemeinschaft von höher entwickelten Primaten an der Stelle niedergelassen hatte, an der sich einst Lanzarote befunden hatte; dieses Gebiet des Nordatlantiks, teilte sie mir mit, hatte ein bewegtes geologisches Schicksal hinter sich: nachdem die Insel im Verlauf der Ersten Verringerung im Meer versunken war, war sie unter dem Druck erneuter Vulkanausbrüche wieder an die Oberfläche gekommen; zum Zeitpunkt der Großen Dürre war sie dann zu einer Halbinsel geworden, und ein schmaler Streifen Land verband sie den letzten Aufnahmen zufolge mit der afrikanischen Küste.

Im Gegensatz zu Marie23 war Esther31 der Ansicht, daß die Gemeinschaft, die sich in diesem Gebiet niedergelassen hatte, nicht aus Wilden bestand, sondern aus Neo-Menschen, die die Lehre der Höchsten Schwester verworfen hatten. Die Satellitenbilder ließen allerdings einen Zweifel zu: Es konnte sich um Wesen handeln, die durch die GSK verändert worden waren oder auch nicht; doch wie sollten Wesen mit heterotropher Ernährung in einer Umgebung überleben, bemerkte sie, die keinerlei Spur von Vegetation aufwies? Sie war überzeugt, daß Marie23, die damit rechnete, Menschen der alten Rasse zu begegnen, in Wirklichkeit auf Neo-Menschen stoßen würde, die den gleichen Weg eingeschlagen hatten wie sie.

»Vielleicht ist das genau das, was sie sucht…«, sagte ich zu ihr. Sie dachte lange nach, ehe sie mir mit ausdrucksloser Stimme antwortete: »Gut möglich.«