Daniel1,13

Es war eine andere Welt, die von der normalen Welt nur durch ein paar Zentimeter Stoff getrennt war — ein unerläßlicher gesellschaftlicher Schutz, denn 90 Prozent aller Männer, die Esther begegneten, verspürten augenblicklich die Lust, sie zu penetrieren. Nachdem ihre Jeans ausgezogen war, spielte ich eine Weile mit ihrem rosa String und stellte fest, daß ihre Scheide schnell feucht wurde; es war fünf Uhr nachmittags. Ja, es war eine andere Welt, und ich blieb darin bis zum nächsten Morgen um elf — der letzte Moment, um noch ein Frühstück zu bekommen, und es wurde höchste Zeit, daß ich etwas zu mir nahm. Ich hatte vermutlich zwischendurch mehrmals kurz geschlafen. Was den Rest anging, reichten diese wenigen Stunden aus, um meinem Leben einen Sinn zu geben. Ich übertrieb nicht, und mir war bewußt, daß ich nicht übertrieb: Wir befanden uns jetzt in einem Stadium absoluter Einfachheit. Die Sexualität oder genauer gesagt das sexuelle Begehren war natürlich ein Thema, das ich oft in meinen Sketchen angeschnitten hatte; daß sich viele Dinge auf dieser Welt um die Sexualität oder genauer gesagt um das sexuelle Begehren drehen, war mir so klar wie jedem anderen — und vielleicht noch klarer als vielen anderen. Deshalb hatte ich mich als alternder Komiker wohl manchmal von einer gewissen lauen Skepsis übermannen lassen: Die Rolle der Sexualität war vielleicht wie viele oder fast alle Dinge auf dieser Welt etwas übertrieben worden; vielleicht handelte es sich dabei um eine einfache List, die nur dazu diente, den Konkurrenzkampf unter den Menschen und die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft zu erhöhen. Vielleicht hatte die Sexualität keine größere Bedeutung als ein Mittagessen bei Taillevent oder ein Bentley Continental GT; vielleicht war das Aufheben, das man um sie machte, völlig unberechtigt.

Diese Nacht hat mir gezeigt, daß ich mich geirrt hatte, und brachte mich dazu, die Dinge etwas einfacher zu sehen. Als ich am folgenden Tag wieder in San Jose war, ging ich an die Playa de Monsul. Ich betrachtete das Meer und die Sonne, die sich über das Meer hinabsenkte, und schrieb ein Gedicht. Die Sache war als solche schon erstaunlich, denn ich hatte noch nie zuvor ein Gedicht geschrieben und, was noch hinzukam, mit Ausnahme von Baudelaire praktisch nie Gedichte gelesen. Im übrigen war die Poesie, soweit ich informiert war, so gut wie tot. Ich kaufte mir regelmäßig eine vierteljährlich erscheinende Literaturzeitschrift mit eher esoterischer Tendenz — ohne wirklich dem Literaturbetrieb anzugehören, fühlte ich mich der Literatur manchmal nahe; immerhin schrieb ich meine Sketche selbst, und auch wenn ich mich nur bemühte, den Stil der gesprochenen Sprache einigermaßen zu parodieren, wußte ich, wie schwierig es ist, Worte aneinanderzureihen und sie zu Sätzen zusammenzufügen, ohne daß das Ganze inkohärent wird oder langweilig wirkt. In dieser Zeitschrift hatte ich zwei Jahre zuvor einen langen Artikel gelesen, der dem Ende der Poesie gewidmet war — ein Ende, das der Autor des Artikels für unabwendbar hielt. Ihm zufolge hatte die Poesie als nicht kontextuelle Sprache, die die Unterscheidung zwischen Objekt und Eigenschaft noch nicht integriert hatte, die Welt der Menschen endgültig verlassen. Sie war in einem ursprünglichen Diesseits angesiedelt, zu dem wir nie wieder Zugang haben würden, denn es ging der Zeit, in der sich das Objekt und die Sprache gebildet hatten, voraus. Da sie keine präziseren Informationen übermitteln konnte als körperliche und emotionale Empfindungen, die von ihrem Wesen her zutiefst mit dem magischen Zustand des menschlichen Geistes verbunden waren, war sie durch die Einführung verläßlicher Verfahren zur Erfassung objektiver Prozesse ein für allemal außer Kraft gesetzt worden. All das hatte mich damals überzeugt, aber ich hatte mich an diesem Morgen noch nicht gewaschen und war noch von Esthers Düften, von ihrem Geschmack erfüllt (wir benutzten keine Kondome, das Thema war nicht angeschnitten worden, ich glaube, es wäre ihr nicht einmal in den Sinn gekommen — auch mir war es nicht eingefallen, und das war schon erstaunlicher, denn meine ersten Liebeserfahrungen stammten aus einer Zeit, als AIDS noch unweigerlich zum Tod führte, und das war immerhin etwas, was mich hätte prägen sollen). Na ja, AIDS war vermutlich dem kontextuellen Bereich zuzurechnen, damit durfte man sich sicher trösten, auf jeden Fall schrieb ich an jenem Morgen mein erstes Gedicht, während ich noch in Esthers Geruch gehüllt war. Hier also dieses Gedicht:

Im Grunde habe ich stets gewußt,

Daß ich die Liebe kennenlerne,

Auch wenn es erst sehr spät,

Kurz vor meinem Tod geschieht.

Ich habe immer darauf vertraut,

Die Hoffnung nie aufgegeben,

Lange vor deiner Gegenwart

Bist du mir verkündet worden.

Du sollst es also sein,

Die mich mit großer Freude

Über deine Gegenwart erfüllt

Mit deiner so realen Haut

Beim Streicheln so sanft

So zart und so leicht

Kein göttliches Wesen und doch

Eine geballte Zärtlichkeit.

Nach dieser Nacht war die Sonne wieder über Madrid aufgegangen. Ich rief ein Taxi und wartete ein paar Minuten in der Hotelhalle, während Esther neben mir zahlreiche Nachrichten beantwortete, die sie auf ihrem Handy erwarteten. Sie hatte schon mehrmals im Laufe der Nacht telefoniert, sie schien ein reges Gesellschaftsleben zu haben; meistens beendete sie das Gespräch mit der Formel un besito oder manchmal un beso. Ich sprach nur schlecht Spanisch, und der feine Unterschied, falls es ihn geben sollte, entging mir, aber als das Taxi vor dem Hotel hielt, fiel mir auf, daß sie in der Praxis nur selten küßte. Das war erstaunlich, denn ansonsten schätzte sie Penetrationen in jeder Form, streckte mir den Hintern mit großer Anmut entgegen (sie hatte einen kleinen hohen Hintern, der eher dem eines Jungen glich), und lutschte mir ohne zu zögern und sogar mit einer gewissen Begeisterung einen ab; aber bei jedem meiner Versuche, sie zu küssen, hatte sie das Gesicht ein wenig verlegen abgewandt.

Ich verstaute meine Reisetasche im Kofferraum; sie hielt mir ihre Wange hin, ich drückte ihr schnell einen Kuß darauf, dann stieg ich ins Auto. Kurz nachdem das Taxi losgefahren war, drehte ich mich um und winkte ihr noch einmal zu; aber sie telefonierte schon wieder und bemerkte mein Zeichen nicht.

Kaum war ich auf dem Flughafen von Almeria eingetroffen, wurde mir schlagartig klar, wie mein Leben in den folgenden Wochen aussehen würde. Schon seit Jahren ließ ich mein Handy fast ständig ausgeschaltet: Das war eine Statusfrage, ich war ein europäischer Star; wenn man mich erreichen wollte, mußte man mir eine Nachricht hinterlassen und warten, daß ich zurückrief. Das war zwar manchmal hart gewesen, aber ich hatte mich an diese Regel gehalten und war im Laufe der Jahre auch gut damit gefahren: Die Produzenten hinterließen Nachrichten; bekannte Schauspieler und Chefredakteure von Zeitungen hinterließen Nachrichten; ich war auf dem Gipfel meines Ruhms und hatte vor, wenigstens noch ein paar Jahre dort zu bleiben, bis ich meinen Abgang von der Bühne offiziell verkündete. Doch diesmal schaltete ich als erstes mein Handy wieder ein, kaum daß ich aus dem Flugzeug gestiegen war; ich war überrascht und fast erschrocken darüber, wie heftig meine Enttäuschung war, als ich feststellte, daß Esther mir keine Nachricht hinterlassen hatte.

Wenn man ernsthaft verliebt ist, besteht die einzige Überlebenschance darin, es der Frau, die man liebt, zu verheimlichen und bei allen Gelegenheiten eine leichte Gleichgültigkeit vorzutäuschen. Wie traurig diese einfache Feststellung ist! Und was für eine Anklage gegen den Menschen!… Dennoch wäre es mir nie in den Sinn gekommen, dieses Gesetz abzustreiten oder zu versuchen, mich ihm zu entziehen: Die Liebe macht schwach, und der Schwächere der beiden wird unterdrückt, gequält und letztlich vom anderen getötet, der unterdrückt, quält und tötet, ohne sich etwas Böses dabei zu denken und sogar ohne Lust dabei zu empfinden, sondern nur völlige Gleichgültigkeit; und das nennen die Menschen gewöhnlich Liebe. In den ersten beiden Tagen überkamen mich oft Zweifel im Hinblick auf das Telefon. Ich ging in den Zimmern auf und ab, rauchte eine Zigarette nach der anderen, hin und wieder lief ich ans Meer, machte kehrt und stellte fest, daß ich das Meer nicht gesehen hatte und nicht in der Lage gewesen wäre zu bestätigen, daß es in diesem Augenblick tatsächlich noch existierte — bei diesen Spaziergängen zwang ich mich dazu, mich von meinem Handy zu trennen, es auf meinem Nachttisch liegen zu lassen, und darüber hinaus zwang ich mich dazu, eine zweistündige Pause einzuhalten, ehe ich es wieder einschaltete, um dann wieder einmal feststellen zu müssen, daß sie mir noch immer keine Nachricht hinterlassen hatte. Am Morgen des dritten Tages kam ich auf die Idee, mein Handy die ganze Zeit eingeschaltet zu lassen und zu versuchen, das Warten auf das Klingeln zu vergessen; mitten in der Nacht, als ich meine fünfte Tranxiliumtablette schluckte, wurde mir klar, daß das alles nichts nützte, und ich fand mich allmählich damit ab, daß Esther die Stärkere war und ich über mein Leben nicht mehr selbst verfügen konnte.

Am Abend des fünften Tages rief ich sie an. Sie schien sich nicht im geringsten darüber zu wundern, daß sie meine Stimme hörte, die Zeit sei so schnell vergangen. Sie sei gern bereit, mich in San Jose zu besuchen; sie kenne die Provinz Almeria gut, da sie als kleines Mädchen mehrmals ihre Ferien dort verbracht habe; seit einigen Jahren fahre sie eher nach Ibiza oder Formentera. Sie könne ein Wochenende bei mir verbringen, nicht das nächste, aber das darauffolgende; ich atmete tief, um mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Un besito …«, sagte sie, ehe sie auflegte. So, nun wurde ich noch ein bißchen mehr von dem Räderwerk erfaßt.