Daniel1,16

»Um netstat umfunktionieren zu können,

muß man darin aufgenommen werden;

und dafür bleibt einem keine andere Wahl,

als das ganze userland umzufunktionieren.«

kdm.fr.st

Ich hatte die Existenz der Elohimiten fast vergessen, als ich einen Anruf von Patrick bekam, der mich daran erinnerte, daß das Winterseminar in zwei Wochen begann, und mich fragte, ob ich nach wie vor die Absicht habe, daran teilzunehmen. Ich hätte ein Einladungsschreiben bekommen, einen VIP-Brief, fügte er hinzu. Ich fand die Einladung schnell in meinem Stapel: Das Papier war mit einem Wasserzeichen versehen, das nackte, zwischen Blumen tanzende junge Mädchen darstellte. Seine Heiligkeit der Prophet lud mich und ein paar andere befreundete illustre Persönlichkeiten dazu ein, wie in jedem Jahr den Jahrestag der »wunderbaren Begegnung« — der Begegnung mit den Elohim, nehme ich an — mit ihm zu feiern. Es sei eine ganz besondere Feier, bei der noch unbekannte Einzelheiten über die Errichtung des Botschaftsgebäudes in Gegenwart von Anhängern aus der ganzen Welt enthüllt würden, die von neun Erzbischöfen und neunundvierzig Bischöfen angeführt würden — diese Ehrentitel hatten nichts mit ihrer tatsächlichen Funktion innerhalb der Organisation zu tun; sie waren von Flic eingesetzt worden, der sie für das perfekte Management einer Körperschaft für unerläßlich hielt. »Da können wir so richtig die Sau rauslassen!« hatte der Prophet handschriftlich für mich hinzugesetzt.

Esther mußte wie vorhergesehen in jenem Monat ein paar Prüfungen ablegen und konnte mich nicht begleiten. Und da sie sowieso nicht viel Zeit gehabt hätte, um mich zu sehen, nahm ich die Einladung ohne zu zögern an — schließlich war ich jetzt im Ruhestand und konnte ein bißchen auf Reisen gehen, soziologische Exkursionen machen und versuchen, ein paar reizvolle oder witzige Momente zu erleben. Ich hatte in meinen Sketchen nie Sekten in Szene gesetzt, dabei handelte es sich um ein typisch modernes Phänomen, sie verbreiteten sich trotz aller rationalistischen Kampagnen und der vielen Warnungen, nichts schien sie aufhalten zu können. Ich spielte eine Weile mit dem Gedanken, einen Sketch über die Elohimiten zu verfassen, verwarf ihn aber bald wieder und kaufte mir ein Flugticket.

Es war eine Zwischenlandung auf Gran Canaria vorgesehen, und während wir über der Insel kreisten, um auf die Landeerlaubnis zu warten, beobachtete ich neugierig die Dünen von Maspalomas. Die riesigen Sandformationen senkten sich in den strahlendblauen Ozean hinab; wir flogen in geringer Höhe, und ich konnte die Figuren im Sand erkennen, die durch den Wind gebildet worden waren und die manchmal die Form von Buchstaben, manchmal die von Tieren oder menschlichen Gesichtern hatten; man konnte nicht umhin, sie als Wahrsagezeichen zu interpretieren, und ich empfand dabei trotz oder wegen der einheitlichen azurblauen Farbe eine gewisse Beklemmung.

Das Flugzeug leerte sich auf dem Flughafen von Las Palmas fast ganz; dann stiegen ein paar Passagiere ein, die von Insel zu Insel flogen. Die meisten von ihnen wirkten eher wie Weltenbummler im Stil australischer backpackers, die mit dem Reiseführer Let's go Europe und einem Lageplan aller McDonald's ausgerüstet waren. Sie verhielten sich ruhig, auch sie betrachteten die Landschaft, wechselten halblaut kluge oder poetische Bemerkungen. Kurz vor der Landung überflogen wir eine Vulkanzone mit dunkelroten bizarren Felsen.

Patrick wartete in der Empfangshalle des Flughafens von Arrecife auf mich, er trug eine Hose und eine weiße Tunika mit dem aufgestickten bunten Stern der Sekte und lächelte mir strahlend zu — ich hatte den Eindruck, als habe er schon fünf Minuten vor meiner Ankunft zu lächeln begonnen, und tatsächlich lächelte er immer noch ohne ersichtlichen Grund, als wir über den Parkplatz gingen. Er wies auf einen weißen Toyota Minivan, der ebenfalls mit dem bunten Stern verziert war. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz: Auf Patricks Gesicht strahlte immer noch das gleiche unmotivierte Lächeln; während wir langsam in einer Schlange auf den Parkscheinautomaten zufuhren, trommelte er mit den Fingern auf das Lenkrad und bewegte den Kopf hin und her, als habe er eine Melodie im Kopf.

Wir fuhren über eine tiefschwarze, fast bläulich wirkende Ebene, die von plumpen, kantigen, kaum von der Erosion angegriffenen Felsen übersät war, als er das Wort ergriff. »Du wirst schon sehen, dieses Seminar ist toll …«, sagte er halblaut, als spreche er zu sich selbst oder als vertraue er mir ein Geheimnis an. »Hier sind ganz besondere Schwingungen … Das ist wirklich ein echtes geistiges Abenteuer.« Ich stimmte ihm höflich zu. Seine Bemerkung überraschte mich nur halb: In der New-Age-Literatur wird allgemein davon ausgegangen, daß Vulkanlandschaften von Erdströmen durchzogen werden, für die die meisten Säugetiere — und insbesondere die Menschen — empfänglich sind; es wird behauptet, daß sie unter anderem die Promiskuität fördern. »Genau das, genau das …«, sagte Patrick immer noch fast ekstatisch, »wir sind die Söhne des Feuers.« Ich enthielt mich einer Antwort.

Kurz bevor wir ankamen, fuhren wir an einem schwarzen Sandstrand entlang, der mit kleinen weißen Steinen übersät war; ich muß zugeben, daß das seltsam und sogar ziemlich verwirrend war. Ich blickte erst sehr aufmerksam hin, dann wandte ich den Kopf ab; diese unerwartete Umkehrung der Werte schockierte mich ein wenig. Wenn das Meer rot gewesen wäre, hätte ich das vermutlich eher gelten lassen können; aber es war noch immer genauso hoffnungslos blau.

Die Straße machte plötzlich eine abrupte Biegung in Richtung des Landesinneren, und fünfhundert Meter weiter hielten wir vor einem drei Meter hohen soliden Metallzaun, der von Stacheldraht umgeben war und sich endlos hinzuziehen schien. Zwei mit Schnellfeuergewehren bewaffnete Wächter patrouillierten hinter dem Tor, das offensichtlich der einzige Zugang war. Patrick gab ihnen ein Zeichen, sie schlossen das Tor auf, kamen auf uns zu und musterten mich genau, ehe sie uns passieren ließen. »Das ist unerläßlich …«, sagte Patrick mit unverändert ätherischer Stimme zu mir. »Du weißt ja, die Journalisten …«

Die ungeteerte, aber gut instand gehaltene Straße führte durch eine ebene, staubige Zone voller kleiner roter Steine. In dem Augenblick, als ich in der Ferne ein weißes Zeltdorf entdeckte, bog Patrick nach links in Richtung eines auf einer Seite ausgehöhlten steilen Felshangs ein, der aus dem gleichen schwarzen, vermutlich vulkanischen Gestein war, das ich schon kurz zuvor bemerkt hatte. Nach zwei oder drei Serpentinen stellte er den Wagen auf einem kleinen befestigten Platz ab, und wir mußten zu Fuß weitergehen. Trotz meines Protests ließ er sich nicht davon abbringen, meinen Koffer zu tragen, der ziemlich schwer war. »Nein, nein, ich bitte dich … Du bist unser Gast und ein VIP …« Er bemerkte das zwar in scherzhaftem Ton, aber irgendwas sagte mir, daß er das durchaus ernst meinte. Wir gingen an einem knappen Dutzend Höhlen entlang, die in die Felswand gehauen waren, ehe wir wieder einen kleinen Platz kurz vor dem Gipfel des Hügels erreichten. Eine etwa drei Meter breite und zwei Meter hohe Öffnung führte zu einer Höhle, die viel geräumiger war als die anderen; auch dort standen zwei bewaffnete Wächter vor dem Eingang.

Als erstes gelangten wir in einen viereckigen Saal mit kahlen Wänden und einer Seitenlänge von etwa zehn Metern, in dem sich nur ein paar Klappstühle befanden, die vor den Wänden standen; dann folgten wir einem Wächter durch einen Gang, der von hohen säulenförmigen Stehlampen erhellt war, wie sie in den siebziger Jahren in Mode waren: In einer zähflüssigen leuchtenden Flüssigkeit von gelber, türkisgrüner, rötlicher oder violetter Farbe bildeten sich dicke Blasen, die langsam durch die leuchtende Säule nach oben stiegen und verschwanden.

Die Gemächer des Propheten waren ebenfalls im Stil der siebziger Jahre eingerichtet: Ein dicker orangefarbener Teppichboden mit gezackten bläulichen Streifen und niedrige, mit Pelzen bedeckte Sofas, die in unregelmäßiger Anordnung im Raum standen. Im hinteren Teil führten mehrere breite Stufen zu einem drehbaren Relaxsessel aus rosa Leder mit eingebauter Fußstütze; der Sessel war leer. Dahinter erkannte ich das Bild wieder, das in Zwork im Eßzimmer des Propheten gehangen hatte — inmitten eines Gartens, der wohl den Paradiesgarten darstellen sollte, betrachteten zwölf mit durchsichtigen Gewändern bekleidete Mädchen den Propheten voller Bewunderung und Begehren. Das war lächerlich, wenn man so will, aber nur in dem — letztlich begrenzten — Maß, wie etwas rein Sexuelles lächerlich sein kann; der Humor und das Gefühl des Lächerlichen (ich war immerhin bezahlt, sogar gut bezahlt worden, um das zu wissen) können nur dann einen echten Triumph erzielen, wenn sie etwas aufs Korn nehmen, das bereits ziemlich angeschlagen ist. wie etwa die Frömmigkeit, der Hang zur Sentimentalität, die Opferbereitschaft oder das Ehrgefühl usw.; den tiefer gelagerten egoistischen oder animalischen Trieben des menschlichen Verhaltens dagegen können sie nichts anhaben. Wie dem auch sei, dieses Bild war so schlecht gemalt, daß ich erst nach einiger Zeit in den realen Mädchen, die auf den Stufen saßen und versuchten, mehr oder weniger die gleiche Pose einzunehmen — sie waren wohl von unserer Ankunft unterrichtet worden —, die Modelle wiedererkannte, doch die Ähnlichkeit mit dem Bild war nur unvollkommen: Einige von ihnen trugen zwar die gleichen durchsichtigen, griechisch anmutenden Gewänder, die bis zur Taille geschürzt waren, andere dagegen hatten sich für trägerlose Tops und Strapshalter aus schwarzem Latex entschieden; alle hatten auf jeden Fall einen unverhüllten Venushügel. »Das sind die Bräute des Propheten …«, sagte Patrick respektvoll zu mir.

Dann erklärte er mir, daß diese Erwählten das Vorrecht hatten, ständig in der Nähe des Propheten zu leben; alle hatten ein Zimmer in seiner Residenz in Kalifornien. Sie vertraten alle Rassen der Erde und waren aufgrund ihrer Schönheit dazu bestimmt, ausschließlich in den Dienst der Elohim zu treten: Sie konnten daher nur mit ihnen Geschlechtsverkehr haben — natürlich erst, sobald diese die Erde mit ihrem Besuch beehrten — und mit dem Propheten; sie konnten auch, wenn er es wünschte, untereinander geschlechtlich verkehren. Ich dachte eine Weile über diese Perspektive nach und versuchte gleichzeitig die Mädchen zu zählen: es waren eindeutig nur zehn. In diesem Augenblick hörte ich ein Plätschern, das von rechts kam. Halogenlampen, die in die Decke eingelassen waren, leuchteten auf und bestrahlten einen in den Fels gehauenen Swimmingpool, der von üppigem Pflanzenwuchs umgeben war; der Prophet badete nackt darin. Die beiden fehlenden Mädchen warteten respektvoll neben den Stufen, die in das Becken führten, und hielten einen weißen Bademantel und ein weißes Handtuch bereit, die beide mit dem bunten Stern verziert waren. Der Prophet ließ sich Zeit, drehte sich im Wasser um die eigene Achse und ließ sich faul auf dem Rücken treiben. Patrick verstummte und senkte den Kopf; es war nur noch ein leises Plätschern zu hören.

Schließlich kam er aus dem Wasser und wurde sogleich in den Bademantel gehüllt, während sich das zweite Mädchen niederkniete, um ihm die Füße abzureiben; da stellte ich fest, daß er größer und vor allem kräftiger war, als ich ihn in Erinnerung hatte; er machte bestimmt Muskeltraining, hielt seinen Körper in Form. Er kam mit weit ausgebreiteten Armen auf mich zu, drückte mich an sich. »Ich freue mich …«, sagte er mit tiefer Stimme, »ich freue mich wirklich, dich zu sehen …« Ich hatte mich während der Reise mehrmals gefragt, was er eigentlich von mir erwartete; vielleicht hatte er meine Berühmtheit überschätzt. Die Scientology-Organisation zum Beispiel zog einen gewissen Vorteil aus der Mitgliedschaft von John Travolta oder von Tom Cruise; aber ich konnte mich bei weitem nicht mit ihnen vergleichen. Er allerdings auch nicht, und vielleicht lag die Erklärung ganz einfach darin, daß er nahm, was ihm in die Finger kam.

Der Prophet nahm in seinem Relaxsessel Platz; wir setzten uns auf Sitzkissen ein wenig unterhalb. Auf ein Zeichen von ihm sprangen die Mädchen auf und kamen mit Steinschalen voller Mandeln und Trockenobst zurück; andere trugen Amphoren, die ein Getränk enthielten, das sich als Ananassaft herausstellte. Er blieb der griechischen Note also treu, doch die Inszenierung ließ ein wenig zu wünschen übrig, denn die Verpackungen des Ültje Cashew-Erdnuß-Mix, die ich auf einem Serviertisch entdeckte, wirkten leicht störend. »Susan…«, sagte der Prophet sanft zu einer hellblonden, blauäugigen Schönen mit treuherzigem Gesicht, die zu seinen Füßen sitzengeblieben war. Sie kniete sich wortlos zwischen seinen Beinen hin, schob den Bademantel auseinander und begann ihm einen zu blasen; sein Glied war kurz und dick. Er wollte offensichtlich von vornherein seine dominante Stellung unzweideutig zum Ausdruck bringen; ich fragte mich kurz, ob er das nur aus Vergnügen tat oder ob das Teil eines Plans war, um mich zu beeindrucken. Auf jeden Fall beeindruckte mich das in keiner Weise, ich bemerkte jedoch, daß Patrick peinlich berührt wirkte, betreten auf seine Füße blickte und leicht errötete, dabei entsprach all das im Prinzip durchaus der Lehre, die der Prophet verkündete. Das Gespräch drehte sich zunächst um die internationale Situation, die dem Propheten zufolge durch eine schwere Bedrohung der Demokratie gekennzeichnet war; die Gefahr, die der muslimische Fundamentalismus darstellte, war seiner Ansicht nach in keiner Weise übertrieben, er verfüge über beunruhigende Informationen, die er von seinen afrikanischen Anhängern bekommen habe. Ich hatte wenig dazu zu sagen, und das war im Grunde gar nicht so schlecht, denn auf diese Weise konnte ich einen Gesichtsausdruck respektvollen Interesses beibehalten. Ab und zu legte er der Schönen die Hand auf den Kopf, die daraufhin eine Weile innehielt; auf ein erneutes Zeichen hin begann sie wieder, ihn abzukauen. Nachdem der Prophet ein paar Minuten lang einen regelrechten Vortrag gehalten hatte, wollte er wissen, ob ich mich vor dem Abendessen, das in Gesellschaft der Hauptverantwortlichen der Organisation eingenommen werde, noch eine Weile ausruhen wolle; ich hatte den Eindruck, daß die richtige Antwort ein »Ja« war.

»Das ist ja toll gelaufen! Das ist ja richtig toll gelaufen! …« raunte mir Patrick ganz aufgeregt ins Ohr, während wir in umgekehrter Richtung wieder den Gang entlangliefen. Ich wunderte mich ein bißchen über seine deutlich bekundete Ergebenheit und versuchte mir wieder vor Augen zu führen, was ich über primitive Stammesriten und hierarchische Ritualhandlungen wußte, doch es fiel mir schwer, mich daran zu erinnern, das waren wirklich Jugendlektüren gewesen, die aus der Zeit stammten, als ich noch Schauspielunterricht nahm; damals war ich überzeugt, daß man die gleichen Mechanismen in kaum abgewandelter Form in den modernen Gesellschaften wiederfand und daß ihre Kenntnis mir nützlich sein könne, um meine Sketche zu schreiben — diese Hypothese hatte sich übrigens im wesentlichen als richtig herausgestellt, vor allem die Lektüre von Levi-Strauss war sehr hilfreich gewesen. Als ich wieder den kleinen Vorplatz erreichte, machte ich beim Anblick des gut fünfzig Meter unter mir liegenden Zeltlagers, in dem die Anhänger untergebracht waren, überrascht halt: Es waren mindestens tausend makellos weiße, identische Iglu-Zelte, die eng nebeneinander standen und so angeordnet waren, daß sie einen Stern mit gekrümmten Zacken bildeten, das Emblem der Sekte. Man konnte dieses Muster nur von hier oben sehen — oder vom Himmel, wie Patrick meinte. Die Botschaft würde, wenn sie erst mal errichtet war, die gleiche Form haben, der Prophet habe die Pläne dafür selbst entworfen und würde sie mir sicher gern zeigen.

Ich hatte eigentlich ein Festessen mit erlesenen Köstlichkeiten erwartet, doch ich wurde schnell enttäuscht. In Sachen Ernährung begnügte sich der Prophet mit äußerst frugalen Dingen: Tomaten, Bohnen, Oliven, Hartweizengries — und alles in kleinen Mengen; ein wenig Schafskäse und dazu ein Glas Rotwein. Er war nicht nur ein Schonkostfreak, sondern trieb täglich eine Stunde Gymnastik, machte Übungen, die speziell für die Stärkung des kardiovaskulären Systems entwickelt waren, außerdem nahm er Panteston und MDMA-Tabletten und andere Medikamente, die nur in den USA zu bekommen waren. Er war buchstäblich vom Gedanken an das körperliche Altern besessen, und das Gespräch drehte sich fast ausschließlich um die Ausbreitung freier Radikale, die Verschränkung der Kollagene, die Fragmentierung des Elastins und die Anhäufung von Lipofuszin in den Leberzellen. Er schien das Thema sehr genau zu kennen, der Professor griff nur hin und wieder ein, um eine Einzelheit zu erläutern. Mit uns am Tisch saßen Flic, der Humorist und Vincent — den ich zum erstenmal seit meiner Ankunft sah und der mir noch verlorener vorkam als sonst: Er hörte überhaupt nicht mehr zu, schien an persönliche, unformulierbare Dinge zu denken, und sein Gesicht zuckte nervös, vor allem immer dann, wenn Susan auftauchte — wir wurden von den Bräuten des Propheten bedient, die für diesen Anlaß lange weiße, seitlich geschlitzte Gewänder angelegt hatten.

Der Prophet trank keinen Kaffee, und die Mahlzeit wurde mit einem Kräuteraufguß von grüner Farbe beendet, der äußerst bitter, aber ihm zufolge sehr wirksam gegen die Anhäufung von Lipofuszin war. Der Professor bestätigte diesen Hinweis. Wir gingen früh auseinander, der Prophet betonte, wie wichtig es sei, lange und viel zu schlafen. Vincent holte mich mit schnellen Schritten auf dem Gang ein, der ins Freie führte, ich hatte den Eindruck, daß er sich an mich hängte, mit mir sprechen wollte. Die Höhle, die man mir zur Verfügung gestellt hatte, war etwas geräumiger als seine, es gehörte noch eine Terrasse hinzu, von der man einen Blick auf das Zeltlager hatte. Es war erst elf Uhr abends, aber alles war völlig ruhig, keine Musik war zu hören, und zwischen den Zelten war kaum Bewegung zu erkennen. Ich schenkte Vincent ein Glas Glenfiddich ein, den ich im Duty-free-Shop des Flughafens von Madrid gekauft hatte.

Ich hatte eigentlich damit gerechnet, daß er ein Gespräch beginnen würde, aber er tat es nicht, sondern begnügte sich damit, sich nachzuschenken und die Flüssigkeit im Glas zu schwenken. Auf meine Fragen nach seiner Arbeit gab er mir nur enttäuschte, einsilbige Antworten; er hatte noch mehr abgenommen. Als ich keinen anderen Ausweg mehr sah, erzählte ich ihm von mir, das heißt von Esther, denn das war in der letzten Zeit so ziemlich das Einzige, was ich in meinem Leben als erwähnenswert betrachten konnte; ich hatte mir auch eine neue Sprinkleranlage gekauft, aber ich fühlte mich nicht imstande, lange über dieses Thema zu sprechen. Er bat mich, ihm noch mehr über Esther zu erzählen, was ich mit großem Vergnügen tat; sein Gesicht erhellte sich allmählich, und er sagte mir, er freue sich für mich, und ich spürte, daß es ernst gemeint war. Die Zuneigung zwischen Männern ist eine schwierige Sache, weil sie zu nichts Konkretem führen kann, sie ist etwas Unwirkliches, Angenehmes, das aber immer auch ein wenig schmerzhaft ist; zehn Minuten später ging er wieder, ohne daß er mir das Geringste aus seinem Leben erzählt hatte. Ich legte mich in der Dunkelheit hin und dachte über die psychologische Strategie des Propheten nach, die mir unverständlich blieb. Würde er mir eine seiner Anhängerinnen zum Geschenk machen, damit ich sexuelle Zerstreuung hatte? Er zögerte vermutlich, hatte wohl nicht viel Erfahrung im Umgang mit VIPs. Ich sah der Sache ruhig entgegen: Ich hatte noch am heutigen Morgen mit Esther geschlafen, es war noch länger und schöner gewesen als gewöhnlich; ich hatte überhaupt keine Lust auf eine andere Frau und war mir nicht einmal sicher, ob ich mich gegebenenfalls für sie interessieren würde. Im allgemeinen betrachtet man Männer als Pimmel auf zwei Beinen, imstande, eine x-beliebige Frau zu vögeln, vorausgesetzt, sie ist aufreizend genug, ohne daß irgendwelche Gefühlsgründe dabei eine Rolle spielen; dieses Bild mag im großen und ganzen zutreffen, ist aber ein wenig übertrieben. Susan war ohne Zweifel bezaubernd, aber als ich sah, wie sie dem Propheten den Schwanz ablutschte, hatte ich keinerlei Adrenalinschub gespürt, keinerlei affenähnliches Rivalitätsempfinden; was mich anging, hatte die Sache ihre Wirkung verfehlt, und ich war von einer ungewöhnlichen Ruhe erfüllt.

Ich wachte gegen fünf Uhr morgens auf, kurz bevor es hell wurde, wusch mich von Kopf bis Fuß und schloß das Ganze mit einer eiskalten Dusche ab; ich hatte den Eindruck, daß mir ein entscheidender Tag bevorstand, ein Eindruck, der sich nur schwer begründen ließ und sich schließlich auch als falsch herausstellte. Ich kochte mir einen Kaffee, den ich auf der Terrasse trank, und beobachtete dabei das Zeltlager, in dem es sich allmählich regte; ein paar Anhänger gingen auf die Waschräume zu. Im Licht des anbrechenden Tages wirkte die steinige Ebene dunkelrot. In östlicher Richtung sah ich in weiter Ferne den Metallzaun, das umfriedete Gelände der Sekte umfaßte eine Fläche von mindestens zehn Quadratkilometern. Plötzlich entdeckte ich ein paar Meter unterhalb der Terrasse Vincent, der mit Susan den gewundenen Weg hinabging. Sie blieben auf dem kleinen Platz stehen, wo wir am Vortag den Minivan geparkt hatten. Vincent fuchtelte mit den Händen und schien sie zu etwas überreden zu wollen, doch er sprach mit leiser Stimme, und ich war zu weit entfernt, um etwas zu verstehen; sie blickte ihn ruhig an, aber ihr Gesichtsausdruck blieb unbewegt. Als sie den Kopf wandte, sah sie, daß ich sie beide beobachtete, und legte Vincent die Hand auf den Arm, um ihn zum Schweigen zu bringen; ich zog mich nachdenklich in meine Höhle zurück. Ich hatte den Eindruck, daß Vincent wenig Chancen hatte: Diese junge Frau mit dem klaren Blick, den anscheinend nichts verunsichern konnte, dem gesunden, athletischen Körper einer protestantischen Sportlerin wirkte wie die geborene Fanatikerin: Man hätte sie sich genausogut in einer radikalen evangelistischen Bewegung oder einer Splittergruppe von deep ecology vorstellen können; unter den gegebenen Umständen dürfte sie jedoch mit Leib und Seele dem Propheten ergeben sein, und nichts würde sie dazu bringen können, ihr Gelübde zu brechen, ausschließlich dem Propheten sexuell zu Diensten zu stehen. Da begriff ich, warum ich nie einen Sketch über Sekten verfaßt hatte: Es ist leicht, ironische Bemerkungen über Menschen zu machen und sie als burleske Automaten zu betrachten, wenn sie von Habgier oder sexuellem Begehren angetrieben werden; wenn sie jedoch den Eindruck vermitteln, von tiefem Glauben oder von einer Sache beseelt zu sein, die über den Überlebensinstinkt hinausgeht, dann kommt Sand ins Getriebe, und das Lachen erstickt schon vom Ansatz her.

Nacheinander kamen die Anhänger in weißen Gewändern aus ihren Zelten und gingen auf die Öffnung zu, die unten in den Felskegel gemeißelt war und die zu einer riesigen natürlichen Höhle führte, in der die Kurse abgehalten wurden. Viele Zelte schienen mir leer zu sein; tatsächlich sollte ich ein paar Minuten später im Verlauf eines Gesprächs, das ich mit Flic hatte, erfahren, daß in diesem Jahr nur dreihundert Leute zu dem Winterseminar gekommen waren; für eine Organisation, die behauptete, achtzigtausend Anhänger weltweit zu haben, war das wenig. Er führte diesen Mißerfolg auf das zu hohe Niveau der Vorträge von Miskiewicz zurück. »Das übersteigt die Leute völlig… In einem Kurs, der für alle gedacht ist, sollte man besser den Akzent auf einfachere Dinge legen, die das Zusammengehörigkeitsgefühl fördern. Aber der Prophet ist total fasziniert von der Naturwissenschaft …«, sagte er bitter. Ich wunderte mich, daß er so offen mit mir sprach; das Mißtrauen, das er mir beim Seminar in Zwork entgegengebracht hatte, schien verflogen zu sein. Es sei denn, er suchte in mir einen Verbündeten: Er hatte sich vermutlich erkundigt und erfahren, daß ich ein VIP ersten Ranges war und vielleicht dazu berufen, eine Rolle in der Organisation zu spielen und die Entscheidungen des Propheten zu beeinflussen. Sein Verhältnis zum Professor war nicht gut, das war offensichtlich: Dieser betrachtete ihn als eine Art Feldwebel, der höchstens dazu geeignet war, den Ordnungsdienst zu organisieren oder die Beköstigung der Kursteilnehmer sicherzustellen. Wenn es hin und wieder zwischen den beiden zu einem scharfen Wortwechsel kam, zog sich der Humorist mit Ironie aus der Klemme, vermied es, Partei zu ergreifen, und verließ sich ganz auf seine enge persönliche Beziehung zum Propheten.

Der erste Vortrag des Tages war auf acht Uhr angesetzt, und zwar, wie sollte es anders sein, ein Vortrag von Miskiewicz mit dem Titel »Der Mensch: Materie und Information«. Als ich ihn sah, wie er abgezehrt, ernst und mit einem Stapel Notizen unter dem Arm auf das Podium stieg, sagte ich mir, daß er tatsächlich in einem Doktorandenseminar eher an seinem Platz wäre als hier. Er begrüßte kurz die Anwesenden, ehe er mit seinem Referat begann: Nicht eine einzige augenzwinkernde oder humoristische Bemerkung und auch nicht der Versuch, Emotionen, sei es sentimentaler oder religiöser Art, in der Zuhörerschaft hervorzurufen; nur Wissen in Reinzustand.

Nachdem er eine halbe Stunde dem genetischen Code, der inzwischen weitgehend erforscht war, und dessen bisher weniger bekannter Funktion bei der Synthese der Proteine gewidmet hatte, kam dann doch ein kleiner Bühneneffekt. Zwei Assistenten brachten mit etwas Mühe einen Behälter von der Größe eines Zementsacks herbei, den sie vor ihm auf den Tisch stellten und der aus nebeneinander angebrachten durchsichtigen Plastiksäcken verschiedener Größe bestand, die verschiedene chemische Produkte enthielten — der mit Abstand größte Sack war mit Wasser gefüllt.

»Das hier ist ein Mensch!…« rief der Professor mit einer gewissen Emphase — später erfuhr ich, daß der Prophet ihn aufgrund von Flics Bemerkung gebeten hatte, seinen Vortrag ein bißchen dramatischer zu gestalten; er hatte ihn sogar in einen Crashkurs für Rhetorik mit Videotraining eingeschrieben, der unter der Aufsicht von Berufsschauspielern durchgeführt wurde. »Der Behälter, der auf diesem Tisch steht«, fuhr er fort, »hat die gleiche chemische Zusammensetzung wie ein erwachsener Mensch von siebzig Kilo. Wie Sie feststellen können, bestehen wir vor allen Dingen aus Wasser…« Er nahm eine Sondiernadel und stach damit in den durchsichtigen Sack; es bildete sich ein kleiner Strahl.

»Natürlich gibt es große Unterschiede …« Das Schauspiel war beendet, er wurde wieder ernst; der Wassersack wurde schlaff, entleerte sich langsam. »Diese Unterschiede, so groß sie auch sein mögen, lassen sich in einem Wort zusammenfassen: Information. Der Mensch besteht aus Materie plus der Information. Die Zusammensetzung dieser Materie kennen wir heute auf das Gramm genau: Es handelt sich um einfache chemische Elemente, die weitgehend schon in der unbelebten Natur vorhanden sind. Auch die Information ist uns bekannt, zumindest deren Prinzip: Sie beruht ausschließlich auf der DNA, jener des Zellkerns und jener der Mitochondrien. Diese DNA enthält nicht nur die erforderliche Information für den Aufbau des Ganzen, die Embryogenese, sondern auch jene, die anschließend die Funktionsweise des Organismus steuert und bestimmt. Warum sollten wir uns also dazu zwingen, den Weg über die Embryogenese zu wählen? Warum sollten wir nicht einen erwachsenen Menschen direkt mit Hilfe der erforderlichen chemischen Elemente und des durch die DNA gelieferten Schemas herstellen? Das ist natürlich der Weg, den die Forschung in der Zukunft nehmen wird. Die künftigen Menschen werden direkt im Körper eines Erwachsenen auf die Welt kommen, einem Körper von achtzehn Jahren, und dieses Modell wird anschließend reproduziert; in dieser Idealform werden diese, und auch Sie und ich, wenn meine Forschungsarbeit so schnell vorankommt, wie ich hoffe, die Unsterblichkeit erreichen. Das Klonen ist nur eine primitive Methode, die die natürliche Fortpflanzungsweise direkt nachahmt; die Entwicklung des Fötus im Uterus hat keinerlei Vorzüge, im Gegenteil, sie führt leicht zu Mißbildungen oder Geburtsfehlern; sobald wir über das Bauschema und die erforderliche Materie verfügen, wird sie zu einer überflüssigen Etappe.

Was das menschliche Gehirn betrifft«, fuhr er fort, »und darauf möchte ich Sie ausdrücklich aufmerksam machen, ist die Sache jedoch anders. Es gibt zwar gewissermaßen so etwas wie eine bereits bestehende grobe Vernetzung; einige grundlegende Elemente unter den Fähigkeiten und Charakterzügen sind bereits im genetischen Code festgelegt; aber die menschliche Persönlichkeit, also alles, was unsere Individualität und unser Gedächtnis ausmacht, bildet sich im wesentlichen erst allmählich im Verlauf unseres Lebens, indem neuronale Untervernetzungen und bestimmte Synapsen aktiviert und chemisch verstärkt werden; kurz gesagt, die individuelle Geschichte schafft das Individuum.«

Nach einem ebenso frugalen Essen wie am Vortag nahm ich neben dem Propheten in seinem Range Rover Platz. Miskiewicz stieg vorn ein, und einer der Wächter setzte sich ans Steuer. Die ungeteerte Straße, die hinter dem Zeltdorf weiterführte, war durch das Felsgestein gegraben; wir waren bald von einer roten Staubwolke eingehüllt. Nach einer Viertelstunde hielt der Wagen vor einem makellos weißen Quader ohne Öffnungen, der etwa zwanzig Meter breit und zehn Meter hoch war. Miskiewicz betätigte die Fernbedienung: Eine massive Tür drehte sich in unsichtbaren Angeln in der Vorderwand.

Im Inneren herrschten das ganze Jahr über Tag und Nacht eine konstante Temperatur und eine stets gleichbleibende Helligkeit, erklärte er mir. Über eine Treppe gelangten wir auf eine breite Galerie, die in ziemlicher Höhe um die Halle führte und den Zugang zu zahlreichen Büros ermöglichte. Die in die Wände eingelassenen Metallschränke enthielten eine Vielzahl sorgfältig beschrifteter DVDs mit Datenmaterial. Im unteren Stock befand sich nur eine Halbkugel aus durchsichtigem Plexiglas, die von Hunderten ebenfalls durchsichtiger Schläuche durchzogen war, die zu Behältern aus poliertem Stahl führten.

»Diese Schläuche enthalten die chemischen Substanzen, die zur Herstellung eines Lebewesens erforderlich sind«, fuhr Miskiewicz fort. »Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und verschiedene Spurenelemente …«

»In dieser durchsichtigen Blase«, fügte der Prophet begeistert hinzu, »wird der erste Mensch entstehen, der auf rein künstlichem Weg geschaffen wird; der erste richtige Cyborg.«

Ich blickte die beiden Männer aufmerksam an: Zum erstenmal schien der Prophet überhaupt nicht mehr zu scherzen, er wirkte selbst äußerst beeindruckt und fast eingeschüchtert durch die Perspektiven, die sich in der Zukunft eröffneten. Miskiewicz dagegen machte einen sehr selbstsicheren Eindruck und schien seine Erklärungen fortsetzen zu wollen: In dieser Halle war er der Chef, der Prophet hatte hier nichts mehr zu sagen. In diesem Augenblick wurde mir bewußt, daß die Einrichtung des Labors teuer, sogar sehr teuer gewesen sein mußte und der Großteil der Beiträge und Gewinne vermutlich in dieses Projekt flossen und daß dieser Saal im Grunde der wahre Grund für die Existenz der Sekte war. Nachdem ich Miskiewicz ein paar Fragen gestellt hatte, erwiderte er, daß sie jetzt in der Lage seien, sämtliche Proteine und komplexen Phospholipide synthetisch herzustellen, die an der Zellfunktion beteiligt waren; sie hätten ebenfalls sämtliche Organellen mit Ausnahme des Golgi-Apparats reproduzieren können, doch auch dies würde, wie er vermute, nicht mehr lange dauern; dagegen stießen sie bei der Synthese der Plasmamembran bisher noch auf unerwartete Schwierigkeiten und seien daher noch nicht in der Lage, eine hundertprozentig funktionsfähige lebendige Zelle zu erzeugen. Auf meine Frage, ob sie einen Vorsprung vor anderen Forschungsteams hätten, runzelte er die Stirn; ich hätte ihn anscheinend nicht richtig verstanden: Sie hätten nicht nur einen Vorsprung, sondern sie seien das einzige Team auf der Welt, das an einer künstlichen Synthese arbeite, bei der die DNA nicht mehr der Entwicklung der Keimblätter diene, sondern ausschließlich für die Information in bezug auf den vollendeten Organismus benutzt werde. Und ebendas müsse ihnen ermöglichen, das Stadium der Embryogenese zu umgehen und auf direktem Weg erwachsene Individuen herzustellen. Solange man von der normalen biologischen Entwicklung abhängig sei, brauche man etwa achtzehn Jahre, um ein neues menschliches Wesen zu schaffen; sobald sie jedoch alle Stadien dieses Prozesses im Griff hätten, dürfte dieser Zeitraum auf eine knappe Stunde abgekürzt werden können.