Daniel1,5

»Ich entspannte mich

mit etwas Hyperventilation;

aber trotzdem, Barnabé, konnte ich nicht umhin,

an die großen Quecksilberseen

an der Oberfläche von Saturn zu denken.«

Captain Clark

Isabelle arbeitete noch drei Monate, ehe ihre Kündigung wirksam wurde, und die letzte Nummer von Lolita, die unter ihrer Leitung entstand, erschien im Dezember. Bei dieser Gelegenheit wurde in den Büros der Zeitschrift eine kleine Abschiedsfete, genauer gesagt ein Cocktail, für sie veranstaltet. Die Atmosphäre war ein wenig gespannt, da sich alle Teilnehmer dieselbe Frage stellten, ohne daß jemand sie auszusprechen wagte: Wer würde sie als Chefredakteurin ersetzen? Lajoinie tauchte kurz auf, aß drei Blinis und ging nach einer Viertelstunde wieder, ohne einen Hinweis zu geben.

Wir fuhren am Tag vor Weihnachten nach Andalusien; dann folgten drei seltsame Monate, die wir in fast völliger Einsamkeit verbrachten. Unser neues Haus lag etwas südlich von San Jose in der Nähe der Playa de Monsul. Riesige Granitblöcke umgaben den Strand. Mein Agent hielt es für eine ausgezeichnete Idee, daß ich mich für eine Weile vom Showgeschäft zurückzog; er meinte, es sei gut, ein bißchen Abstand zu gewinnen, um die Neugier des Publikums zu reizen; ich wußte nicht recht, wie ich ihm beibringen sollte, daß ich die Absicht hatte auszusteigen.

Er war praktisch der einzige, der meine Telefonnummer hatte; ich kann nicht sagen, ich hätte in den Jahren meines beruflichen Erfolgs viele Freunde gewonnen; verloren dagegen hatte ich eine ganze Reihe. Es gibt kein besseres Mittel, sich die letzten Illusionen über die Menschheit nehmen zu lassen, als in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen; dann sieht man, wie sie ankommen, die scheinheiligen Geier. Aber damit sich einem die Augen öffnen können, ist es unerläßlich, dieses Geld auch wirklich zu verdienen: Die richtigen Reichen, die von Geburt an reich sind und nie etwas anderes gekannt haben, als im Reichtum zu leben, scheinen gegen diese Sache immun zu sein, so als hätten sie außer ihrem Reichtum auch einen gewissen unbewußten, nicht reflektierten Zynismus geerbt, der ihnen von vornherein zu verstehen gibt, daß fast alle Leute, denen sie begegnen, kein anderes Ziel verfolgen, als ihnen mit allen erdenklichen Mitteln Geld aus der Tasche zu ziehen; und daher sind sie sehr vorsichtig und verlieren in der Regel nichts von ihrem Kapital. Für Menschen, die in Armut aufgewachsen sind, ist die Situation viel gefährlicher; allerdings war ich selbst gerissen und zynisch genug, um mir die Sache klarzumachen, ich hatte es geschafft, den meisten Fallen aus dem Weg zu gehen; aber Freunde, nein, die hatte ich nicht mehr. Die Leute, mit denen ich in meiner Jugend zusammen war, waren fast alle Schauspieler, zukünftige Versager; aber ich glaube nicht, daß es mir in einem anderen Milieu anders ergangen wäre. Isabelle hatte auch keine Freunde und war vor allem in den letzten Jahren von Leuten umgeben, die davon träumten, ihren Job zu bekommen. Und daher hatten wir niemanden, den wir in unsere prächtige Villa einladen konnten; niemanden, mit dem wir ein Glas Rioja trinken und die Sterne betrachten konnten.

Was sollten wir also tun? Wir stellten uns diese Frage, während wir durch die Dünen liefen. Leben? Das war genau die Situation, in der die Leute, vom Gefühl ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit erdrückt, beschließen, Kinder zu zeugen; so setzt sich die Menschheit fort, wenn auch immer weniger. Isabelle war ziemlich hypochondrisch, und sie war gerade vierzig geworden; aber auf dem Gebiet der pränatalen Medizin waren große Fortschritte erzielt worden, und ich spürte nur zu gut, daß darin nicht das Problem lag: das Problem war ich. Ich war nicht nur von dem legitimen Ekel erfüllt, der jeden halbwegs normalen Mann beim Anblick eines Babys überkommt; und ich war nicht nur zutiefst davon überzeugt, daß ein Kind so etwas wie ein lüsterner Zwerg mit angeborener Grausamkeit ist, der sogleich die schlimmsten Züge seiner Gattung zum Ausdruck bringt und von dem sich die Haustiere in weiser Vorsicht abwenden. Nein, hinzu kam noch ein tief in mir verankertes Entsetzen, ein wahres Entsetzen vor dem endlosen Leidensweg, den das Dasein der Menschen darstellt. Der Säugling ist das einzige Lebewesen, das seine Gegenwart unmittelbar nach der Geburt durch unablässige Schmerzensschreie zum Ausdruck bringt, und zwar weil er leidet, weil er auf unerträgliche Weise leidet. Vielleicht liegt es am Verlust des Haarkleids, der die Haut für Temperaturschwankungen so empfindlich macht, ohne daß dadurch der Schutz vor Parasiten gewährleistet ist; oder vielleicht ist eine anormale nervöse Empfindlichkeit daran schuld, ein Konstruktionsfehler sozusagen. Jeder unparteiische Beobachter kann nur bestätigen, daß der Mensch nicht glücklich sein kann, er absolut nicht für das Glück geschaffen ist und ihn daher kein anderes Los erwarten kann, als Unglück zu verbreiten, indem er das Dasein seiner Mitmenschen ebenso unerträglich macht wie sein eigenes — seine ersten Opfer sind im allgemeinen die Eltern.

Mit diesen nicht gerade menschenfreundlichen Überzeugungen gerüstet, schrieb ich ein Drehbuch mit dem vorläufigen Titel Das Defizit der Kranken- und Sozialversicherung, das die wesentlichen Elemente des Problems aufgriff. In der ersten Viertelstunde des Films sah man nur, wie Schädel von Babys durch Schüsse aus einem großkalibrigen Revolver unentwegt explodierten — ich hatte Aufnahmen in Zeitlupe und andere im Zeitraffer vorgesehen, also eine richtige Choreographie der Gehirnmasse im Stil von John Woo; anschließend ging es dann etwas ruhiger zu. Die Ermittlungen, die von einem Polizeiinspektor voller Humor, aber mit recht unkonventionellen Methoden durchgeführt wurden — ich dachte an Jamel Debbouze für diese Rolle —, kamen zu dem Schluß, daß ein straff organisiertes Netz von Kindermördern dahintersteckte, die sich von Thesen aus der Szene der Fundamentalökologisten anregen ließen. Die B.A.Z. (Bewegung zur Ausrottung der Zwerge) setzte sich für die Abschaffung der Menschheit ein, die das Gleichgewicht der Biosphäre unwiederbringlich zerstörte, und wollte sie durch eine Bärenart von überdurchschnittlicher Intelligenz ersetzt sehen — parallel dazu waren Laborversuche unternommen worden, um die Intelligenz der Bären zu steigern und ihnen vor allem den Spracherwerb zu ermöglichen (ich dachte an Gerard Depardieu für die Rolle des dominanten Bärenmännchens).

Trotz dieser überzeugenden Besetzung und trotz meiner Berühmtheit wurde aus dem Vorhaben nichts; ein koreanischer Produzent zeigte sich interessiert, war aber nicht in der Lage, die Finanzierung sicherzustellen. Dieser ungewöhnliche Mißerfolg hätte den Moralisten wecken können, der in mir schlummerte (und zwar im allgemeinen durchaus friedlich): Der Grund für diesen Mißerfolg, für die Ablehnung des Projekts konnte nur darin liegen, daß es noch gewisse Tabus gab (in diesem Fall den Kindermord), die Sache war also noch nicht endgültig gescheitert. Dann ließ der Moralist wieder dem denkenden Subjekt den Vorrang: Wenn es ein Tabu gab, konnte das nur bedeuten, daß tatsächlich ein Problem bestand; im Laufe jener Jahre waren in Florida die ersten childfree zones eingeführt worden, luxuriöse Anwesen für Menschen um die Dreißig ohne Komplexe, die ungerührt zugaben, daß sie das Geschrei, das Sabbern, die Exkremente, kurz gesagt, die Beeinträchtigung der Lebensqualität, die Blagen im allgemeinen mit sich bringen, nicht mehr ertragen konnten. Kindern unter dreizehn war daher der Zugang zu diesen Anwesen ganz einfach untersagt; Kontakthöfe mit Fast-food-Restaurants waren dazu da, die Verbindung mit den Familienangehörigen aufrechtzuerhalten.

Damit war ein entscheidender Schritt getan: Seit mehreren Jahrzehnten wurde der Geburtenrückgang in der westlichen Welt (der sich jedoch nicht auf den Westen beschränkte — das gleiche Phänomen ließ sich in allen Ländern, ganz gleich aus welchem Kulturbereich, beobachten, sobald ein gewisses Niveau wirtschaftlicher Entwicklung erreicht war) mit einer gewissen Heuchelei bedauert, deren Einhelligkeit sie leicht verdächtig machte. Zum erstenmal erklärten junge, wohlerzogene Leute von relativ hohem wirtschaftlichen und kulturellen Niveau öffentlich, daß sie keine Kinder haben wollten und nicht den Wunsch hatten, den Ärger und die Last, die mit dem Großziehen von Sprößlingen verbunden war, zu ertragen. Eine solch zwanglose Einstellung mußte einfach Schule machen.