Ocean Grove, 21. Januar 2008

 

Die restlichen Zeilen verschwammen vor Sophies Augen. Sie schluchzte laut auf. Emma!, stöhnte sie verzweifelt, Emma! Dann wischte sie sich entschieden die Tränen aus den Augen, um auch den Rest der Aufzeichnungen noch zu lesen.

Liebe Sophie, lieber Thomas!

Ich habe in den folgenden Jahren nichts unversucht gelassen, um deinen Aufenthalt herauszubekommen, mein Sohn, denn ein deutsches Gericht hatte mir das Sorgerecht für dich zugesprochen. Gegen Harry Holden wurde wegen Mordes ermittelt. In meinem Haar waren erhöhte Arsenspuren gefunden worden. Es erging ein Haftbefehl, der das Papier jedoch nicht wert war, auf dem er geschrieben stand. Weder Polizei noch die Botschaft, noch eine Hand voll Detektive konnten etwas ausrichten, weil Harry Holden und Thomas mit ihm spurlos verschwunden waren. Selbst als es amtlich wurde, dass die unter einem Kauri-Baum gefundene Tote Missis Ella Holden war, die Ehefrau von Harry Holden, und er damit unter den dringenden Tatverdacht geriet, sie ermordet zu haben, und die Polizei ihre Suchanstrengung verdoppelte, blieb er wie vom Erdboden verschluckt. Es war, als hätten dieser Holden und mein Sohn niemals existiert.

Es verging keine Nacht, in der ich nicht von der Flucht träumte und mich mit der Frage quälte, ob ich ohne mein Kind überhaupt hätte fliegen dürfen. Keine Therapie half gegen den Trennungsschmerz und die Selbstvorwürfe, bis ich meiner großen Liebe, Klaas de Jong, begegnete. Da beschloss ich, mit ihm ein neues Leben anzufangen und die Gespenster der Vergangenheit aus meiner Erinnerung zu streichen.

Das gelang mir mal besser, mal schlechter bis zu jenem Tag, an dem Klaas starb. Von dem Tag an fühlte ich mich von Hines Fluch geradezu verfolgt, bis mir eine Heilerin versicherte, kein Mensch könne weit genug laufen, um seiner Geschichte zu entfliehen. Sie riet mir, mich der Vergangenheit zu stellen. An dem Tag fasste ich den Entschluss, an den Ort des Geschehens zurückzukehren und dich, meinen geliebten Sohn Thomas, selbst zu suchen und euch beide eindringlich vor der Macht des Fluches zu warnen.

Und ich ahnte, dass ich mich beeilen musste, denn im Traum war mir Klaas erschienen. Ein friedlicher Traum, der meine Seele noch bis zum nächsten Morgen erfüllte. »Ich warte auf dich, mein Herz!«, hatte er gesagt und schützend die Arme ausgebreitet. Ich hoffe, es ist dir ein Trost, meine liebe Sophie, und ihr könnt mir verzeihen,

eure Mutter Emma

 

Plötzlich glaubte Sophie zu verstehen, welches Motiv ihren Bruder umtrieb. Thomas Holden hatte es gar nicht auf ihr Geld abgesehen, sondern es ging ihm allein um Rache. Er war von seiner Mutter bei einem Mörder zurückgelassen worden und hatte beileibe keine so behütete Kindheit erfahren wie sie, Sophie! Thomas konnte nicht verzeihen. Weder Emma noch ihr, der geliebten Tochter seiner Mutter, der es vergönnt gewesen war, in einer intakten Familie aufzuwachsen. Thomas konnte ja nicht ahnen, dass sich wegen Emmas Rastlosigkeit auch bei ihr, Sophie, niemals das Gefühl eines normalen Familienlebens eingestellt hatte.

Sophies Herz klopfte bis zum Hals. In diesem Augenblick fürchtete sie sich sogar vor dem Schatten an der Wand. Doch diesen Schatten warf sie selbst, weil sie sich im Bett aufgerichtet und fassungslos über Emmas Beichte gebeugt hatte. Ich kann sie so gut verstehen, dachte sie. Aber ob Thomas das auch kann? Sophie schluckte trocken. Ein Blick auf den Wecker zeigte ihr, dass es halb vier Uhr morgens war. Zu früh, um die Wände anzustarren und auf einen möglichen Eindringling zu warten. Sophie kam sich plötzlich albern vor. Entschlossen löschte sie das Licht. Gleich nach dem Aufstehen werde ich John anrufen und ihn bitten, bei mir zu übernachten, nahm sie sich fest vor. Es tat so gut, an ihn zu denken. An seine braunen Augen, seine Stimme und seine zärtlichen Hände ...

 

Sophie rieb sich verwundert die Augen. War sie etwa eingeschlafen? Sie erinnerte sich nur noch daran, dass sie schließlich an John gedacht hatte. Sie setzte sich auf und blickte sich prüfend um. Die Kommode stand noch an ihrem Platz. Keiner hatte versucht, in ihr Zimmer einzudringen.

Es war bereits weit nach zehn Uhr. Langsam kam ihr Emmas Geschichte wieder in den Sinn. Sie fragte sich, ob es wohl für ihren Vater und sie wirklich besser gewesen wäre, wenn sie davon gewusst hätten. Glücklicher wären sie bestimmt nicht geworden! Oh, Emma, verzeih mir, dass ich manchmal so böse auf dich war, weil du mich damit allein gelassen hast!, dachte sie versöhnlich.

Sie sprang aus dem Bett. Nachdem sie die Kommode zur Seite geschoben hatte, beschloss sie, einen Strandlauf zu machen, denn draußen war es warm und freundlich und sie brauchte dringend frische Luft. Doch vorher musste sie die Polizei anrufen und nach dem Laufen dann endlich John.

Sie wählte die Nummer der Polizeistation von St Kilda und erklärte dem zuständigen Officer, was in der letzten Nacht geschehen war.

»Und warum rufen Sie denn jetzt erst an?«, fragte er vorwurfsvoll.

Sophie blieb ihm die Antwort schuldig. Sie konnte ihm ja schlecht erzählen, dass sie erst einmal hatte herausfinden wollen, warum ihr Bruder das getan hatte. Nein, Thomas würde sie ihm gegenüber mit keinem Wort erwähnen. Bevor sie das in Erwägung zog, wollte sie mit John gesprochen haben.

»Wir sind gleich da«, versprach der Officer.

Sophie entschied sich, erst einmal einen starken Kaffee zu trinken, um die Gespenster dieser Nacht zu vertreiben.

Nachdem sie ihren Kaffee getrunken hatte und sie noch überlegte, ob sie trotzdem eine Runde laufen und der Polizei einen Zettel an die Tür machen sollte, klingelte es. Natürlich vermutete sie, dass es die zuständigen Beamten waren, doch als sie die Tür öffnete, trat sie vor Schreck einen Schritt zurück.

»Darf ich?«, fragte er und setzte bereits einen Fuß in die Tür. Sophie verschlug es die Sprache. Am helllichten Tag hatte sie ihn nicht erwartet, doch auch er schien noch nach den richtigen Worten zu suchen.

»Tom McLean?«, kam sie ihm zuvor.

Er nickte und streckte ihr die Hand zum Gruß entgegen.

Diesen Augenblick nutzte Sophie, um sich aus der Garderobe einen Regenschirm zu greifen. »Einen Schritt weiter, und ich schlage zu.«

»Ich will Ihnen nichts tun!«, sagte Tom McLean gequält und trat noch einen Schritt auf sie zu.

Ein Fehler, denn Sophie zögerte nicht, mit der Spitze des Schirms nach ihm zu schlagen. Sie traf ihn am Arm und schrie: »Jede Minute wird die Polizei hier eintreffen. Also versuchen Sie erst gar nicht, mir etwas anzutun.«

»Warum sollte ich Ihnen etwas antun?«, erwiderte der hochgewachsene Mann ehrlich erstaunt.

»Geben Sie es zu, Sie sind Thomas Holden!« Sophie wollte Zeit gewinnen. Ich muss reden, bis die Polizei da ist, dachte sie. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, während sie weiter mit dem Schirm herumfuchtelte.

»Bitte, Sophie, quälen Sie mich nicht! Ich werde Ihnen eines Tages erzählen, wie alles war, aber jetzt komme ich wegen gestern Nacht. Und bitte sagen Sie mir die Wahrheit. Geht es Judith gut? Ich bin fast gestorben, als ich den Notarztwagen gesehen habe.«

»Blöd gelaufen, was? Sie wollten mich mitsamt den Aufzeichnungen abfackeln, doch das ist Ihnen nicht gelungen. Was haben Sie jetzt vor? Gift, wie Ihr Vater es gemacht hat?«

Da veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Aus der Verunsicherung wurde blanke Wut. »Verdammt, hören Sie bloß auf damit! Ich bin noch nicht in der Lage, mit Ihnen darüber zu sprechen. Ich möchte nur eines: von Ihnen wissen, wie es Judith geht. Ich kann doch nach allem, was war, nicht hinfahren und sagen: Schatz, hier bin ich! Ich habe versucht, sie per Handy zu erreichen, aber es springt immer nur die Mailbox an. Sagen Sie es mir endlich, damit ich zur Polizei fahren kann. Ich muss dringend eine Aussage machen. Ich weiß schließlich, wer es war!«

In diesem Moment fuhr ein Polizeiwagen vor.

»Ich auch!«, erwiderte Sophie scharf. »Dazu werden Sie sofort Gelegenheit haben.«

Sobald der Officer an der Tür war, schilderte sie ihm aufgeregt, was in der Nacht geschehen war, und deutete auf Tom. »Er will eine Aussage machen!«

Der Officer forderte Tom McLean auf, ihm zu sagen, was er gesehen hatte. Der räusperte sich.

»Es war nach Mitternacht. Ich fuhr den Weg zu diesem Haus entlang, weil meine Verlobte zu Besuch bei Missis de Jong war. Judith und ich hatten einen Streit. Und ich hatte mir vorgenommen, das Gespräch mit ihr zu suchen. Plötzlich kam mir ein knallroter Pritschenwagen entgegen. Am Steuer ein untersetzter Mann, den ich meinte, schon einmal gesehen zu haben. Und dann fiel es mir wieder ein: Es war der Ehemann von einer Mandantin meiner Verlobten, der sie schon das ganze Verfahren über bedroht hat. Ich habe mir die Autonummer gemerkt und überprüft, dass er der wirkliche Halter ist.« Mit diesen Worten reichte er dem Polizisten einen Zettel mit der Nummer und dem Namen.

»Gut, dann wollen wir uns mal den Tatort anschauen!«, schlug der Officer vor. »Und Sie bleiben bitte hier, falls ich noch Fragen habe.« Er meinte Thomas.

Sophie führte die Männer endlich hinein. Völlig verunsichert registrierte sie, dass Tom sich folgsam auf einen der Barhocker setzte. »Das Schlafzimmer ist oben, zweites Zimmer rechts«, erklärte sie und ließ Tom nicht aus den Augen, während der Officer die Treppe hinaufstieg. »Warum haben Sie die Unterlagen meiner Mutter gestohlen?«, wollte sie wissen.

»Es tut mir leid, Sophie. Ich stand unter Schock. Erst kurz zuvor an diesem Tag hatte ich meinen wirklichen Namen erfahren, und dann hielt ich plötzlich das Testament in der Hand und las in den Unterlagen zufällig meinen Namen. Holden! Ich war vollkommen außer mir.«

Sophie, die sich sicher fühlte, solange die Polizei im Haus war, hakte barsch nach: »Ach so, und deshalb haben Sie mich auch verfolgt?«

»Ich war völlig durch den Wind und wollte mich eigentlich nur bei Ihnen entschuldigen, weil ich die Seiten entwendet hatte. Ich habe Sie beobachtet, als Sie mit John vom Flughafen kamen. Ich wusste, wie Sie aussehen. Aber nachdem ich die Geschichte gelesen hatte, konnte ich es einfach nicht mehr. Ich habe ein paarmal über meinen Schatten springen wollen, deshalb bin Ihnen durch die Stadt gefolgt und mal zum Strandhaus gefahren, aber immer wieder hat mich der Mut verlassen.«

»Und warum haben Sie sich nicht wenigstens Judith anvertraut?« Sophie stand die Skepsis ins Gesicht geschrieben.

»Ich habe mich schrecklich geschämt. Oder möchten Sie mit einem Mann leben, dessen Vater ein gemeiner Mörder war?«

Sophie sah Tom verunsichert an. »Und Sie haben den Brand wirklich nicht gelegt?«

»Würden Sie mir so etwas tatsächlich zutrauen? Und wenn ja, warum in aller Welt sollte ich Ihnen etwas antun? Sie sind doch meine Schwester.«

Sophie musste schlucken. Sie senkte betreten den Kopf. »Vielleicht hassen Sie mich ja dafür, dass ich mit unserer Mutter aufwachsen durfte und Sie mutterlos bei einem Säufer leben mussten. Aus Rache eben!«

»Rache? Wofür? Meine Mutter musste das Flugzeug nehmen. Sie hätte mich ja geholt, wenn mein Vater unsere Spuren nicht ausgelöscht hätte. Wahrscheinlich nachdem er erfahren hat, dass ihm nichts gehört außer mir. Anscheinend war ihm das eine letzte Genugtuung, dass sie mich nicht bekommen konnte. Ich habe ihn nicht besonders geliebt. Warum sollte ich Rache üben? Weil mein Vater ein Verbrecher war, der Ihre Großmutter auf dem Gewissen hat?«

»Und Ihre! Es ist auch -«, flüsterte Sophie. Sie verstummte, weil der Officer ins Wohnzimmer trat.

»Ich denke, Sie haben recht!«, wandte er sich an Tom. »Unter dem Bett habe ich das gefunden: Sieht aus nach dem Teil eines Scheidungsurteils. Sie hören wieder von uns, Missis de Jong.«

Mit diesen Worten verließ der Officer das Haus. Sophie fragte sich, ob es richtig war, ihn einfach gehen zu lassen. Konnte sie wirklich sicher sein, dass Tom ihr nichts antun würde, auch wenn er den Brand wohl nicht gelegt hatte? Ihr Herz schrie: Ja! Er ist bestimmt ein ganz lieber Kerl. Aber ihr Kopf mahnte: Sei vorsichtig! Emma ist schließlich auch beinahe einem tödlichen Irrtum erlegen!

Während diese beiden Stimmen noch in ihr stritten, machte sich auch Tom McLean zum Gehen bereit. Das brachte Sophie völlig aus dem Konzept. »Sie können doch nicht einfach abhauen nach allem, was Sie angerichtet haben«, fuhr sie ihn an.

»Bitte, lassen Sie mich durch. Ich wollte nur, dass der Mann gefasst wird. Ansonsten möchte ich endlich wissen, was mit Judith ist.«

»Leichte Gehirnerschütterung«, erwiderte Sophie.

»Gut, dann habe ich nur noch den einen Wunsch: dass Judith frei für eine neue Beziehung wird.« Thomas versuchte sich an Sophie vorbeizudrücken, aber sie versperrte ihm den Weg.

»Aber sie liebt Sie doch!«

»Noch vielleicht, doch wenn sie erst weiß, was ich jetzt durch die Aufzeichnungen unserer Mutter erfahren musste, dann wird Sie mit mir bestimmt keine gemeinsame Zukunft wollen. Oder würden Sie Kinder mit einem Mann wollen, dessen Vater ein Mörder war? Und sie wünscht sich nichts sehnlicher als eine Familie.«

»Zu spät!«, erklärte Sophie trocken.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Tom heiser.

»Sie erwartet ein Kind von Ihnen«, schmetterte Sophie ihm entgegen.

Tom taumelte ein paar Schritte zurück und stammelte: »Das ... Das kann doch nicht sein!«

Nun trat Sophie näher zu ihm und bat ihn leise: »Bitte, sag mir die Wahrheit. Warum willst du schon wieder abhauen? Willst du keine Verantwortung übernehmen? Möchtest du kein Kind? Liebst du sie nicht genug?«

Tom stieß einen Seufzer aus. »Es hat alles keinen Zweck. Meine Geschichte klebt an mir wie ein Schmutzfilm. Ich kannte meinen Vater nur als besoffenes Wrack. Ständig hat er auf mich eingeredet, dass meine Mutter eine Schlampe sei und uns einfach wegen eines hergelaufenen Kerls verlassen habe. Wir haben immer nur in einem heruntergekommenen Campingwagen gehaust. Eines Tages hat man mich dort herausgeholt und von Pflegefamilie zu Pflegefamilie gebracht. Ein Scheißleben, um es auf den Punkt zu bringen. Nur in der letzten Familie habe ich mich wohlgefühlt. Sie hat mir eine gute Schulbildung und das Studium ermöglicht, aber die einzig guten Eltern, die ich je hatte, sind kurz nacheinander gestorben. Als Kind habe ich geglaubt, was mein Vater mir eingeredet hat: dass meine Mutter an allem schuld sei, dass sie meinen Vater zu dem gemacht habe, was er war. Zu einem heruntergekommenen Trinker. Das war schlimm genug. Bei dieser Geschichte war ich immer skeptisch, ob ich eine eigene Familie gründen soll. Aber als ich erfahren musste, dass mein Vater ein Mörder ist, da wusste ich: niemals! Sophie, ich schäme mich zu Tode. Ich fühle mich mitschuldig! Das kann ich Judith nicht antun! Und auch aus deinem Leben werde ich sang- und klanglos wieder verschwinden. Natürlich will ich nichts von dem Geld.«

Dieses Mal schaffte Tom es, sich an Sophie vorbeizudrücken, aber sie drehte sich abrupt um und packte ihn am Arm. Lange sah sie ihm in die Augen, in denen es feucht schimmerte, und dann fiel sie ihm, ohne zu überlegen, um den Hals. Sie umarmten einander weinend. Ihre geschwisterliche Umarmung wurde durch das Klingeln des Telefons jäh unterbrochen.

Als Sophie Johns aufgeregte Stimme hörte, wurde sie kalkweiß. Judith drohte eine Fehlgeburt. Sie, Sophie, solle sofort kommen und Judith' Großmutter Liz mit ins Krankenhaus bringen.

»Ist was mit Judith?«, fragte Tom ängstlich.

»Schnell! Wir müssen zu ihr. Wir nehmen deinen Wagen! Du fährst!«, erwiderte sie.

Er zögerte, doch sie sagte nur: »Merkst du nicht, dass deine kleine Schwester dich jetzt braucht?«

Das überzeugte Tom, und sie rannten zu seinem Jeep. Im Wagen berichtete sie ihm, was geschehen war, und bat ihn, die alte Liz abzuholen. Er kannte den Weg.

»Nein, bitte nicht, oh nein! Sie darf ihr Kind nicht verlieren!«, murmelte Sophie in einem fort. Schließlich verstummte sie und schlug sich die Hände vor das Gesicht.

Da hielten sie bereits vor dem Haus, in dem Judith' Großmutter lebte, wenn sie nicht in Queenstown residierte. Die alte Dame wusste anscheinend schon Bescheid, denn sie wartete ungeduldig vor dem Eingang.

Als Liz eingestiegen war und Sophie erkannte, konnte sie sich nicht beherrschen. »Ich wusste es doch, dass es nicht gut ist, wenn sie Kontakt mit Ihnen hat. Ihre Familie ist verflucht.«

Sophie fuhr herum und funkelte Liz zornig an. »Überlegen Sie lieber, was wir gegen diesen verdammten Fluch unternehmen können, denn das Kind, das Ihre Enkelin zu verlieren droht, gehört zu den Verfluchten!«

»Entschuldige, aber was für ein Fluch? Das habe ich schon in den Aufzeichnungen meiner Mutter nicht verstanden«, mischte Tom sich ängstlich ein.

»Ach, nein, was interessiert der Herr Anwalt sich denn dafür?«, schimpfte Liz.

Sophie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Bitte nicht streiten! Ich erkläre dir alles später, Tom. Ach, noch besser, du liest es. Ist ja auch deine Geschichte.«

»Darf ich jetzt bitte mal erfahren, was das alles zu bedeuten hat? Und was macht der jetzt hier?«, fragte die alte Dame spitz.

»Tom McLean ist der Vater von Judith' Kind.«

»Ach, nein! Glauben Sie, das weiß ich nicht? Aber drücken wollte er sich. Nicht als Kummer hat er meiner Kleinen gemacht.«

»Liz! Jetzt hören Sie mir aber mal zu! Tom ist nicht nur der Vater von Judith' Kind, sondern auch mein Bruder. Also ein Nachkomme meiner Urururgroßmutter Anna. Und da Judith ein Nachkomme von Ihrer Ahnin Hine ist und sich unsere Familien durch das Baby vereint haben, hat Hine das Aussterben ihrer eigenen Sippe beschworen. Verstehen Sie jetzt? Sie müssen etwas unternehmen. Ich glaube nicht an Maoriflüche, aber Sie. Und deshalb tun Sie endlich was, verdammt noch mal! Voodoo oder so. Und du, fahr bitte schneller!«

Mit quietschenden Bremsen hielten sie schließlich vor der Klinik und sprangen aus dem Wagen. Selbst Liz hüpfte leichtfüßig wie ein junges Mädchen heraus.

Vor einem der Behandlungszimmer saß John mit besorgter Miene. »Die untersuchen sie gerade. Angeblich hat sich der Muttermund bereits geöffnet.«

»Es wird höchste Zeit, dass Sie mal ein ernstes Wort mit Ihren Ahnen reden«, zischte Sophie Liz zu.

Die atmete einmal tief durch, schloss die Augen und murmelte nun beschwörende Formeln in einer eigentümlichen Sprache.

Sophie, Tom und John waren so befremdet, dass sie Liz mit großen Augen anstarrten. Sie merkten nicht einmal, dass der behandelnde Arzt, ein Maori, aus dem Zimmer getreten war. Erst als er Liz eine Hand auf die Schulter legte und raunte: »Die Ahnen haben Ihre Gebete erhört, es ist alles gut!«, bemerkten sie ihn und fielen sich gegenseitig um den Hals.

»Ich glaube, Sie sollten nacheinander zu ihr gehen. Wer von Ihnen ist denn mit der Patientin verwandt?«

Sophie zeigte auf Tom, doch dann erklärte sie grinsend: »Wenn Sie so wollen, sind wir alle miteinander verbandelt, aber ich glaube, mein Bruder macht den Anfang!«

Tom zögerte, doch sie raunte ihm zu: »Sie wird sich freuen. Ganz bestimmt!«

Seufzend folgte er dem Arzt.

Sophie wandte sich an Liz. »Ich glaube, Sie haben Hines Geist erfolgreich überzeugen können, dass sie den Spuk von uns nimmt.«

»Dürfte ich dich jetzt wohl richtig begrüßen?«, unterbrach John sie.

Sophie lachte und bot ihm ihren Mund zum Kuss. »John, würdest du mir helfen, eine gemeinnützige Stiftung zu gründen?«, fragte sie dann unvermittelt.

Der Anwalt schaute sie verblüfft an. »Natürlich, warum nicht? Worum soll es denn gehen?«

»Um die Kate-McDowell-Stiftung zur Förderung junger Künstler!«

»Okay, aber eins nach dem anderen. Lass uns das hier erst mal zu Ende bringen!«

Er zog sie in seine Arme, bis Liz demonstrativ zu hüsteln begann und ungeniert fragte: »Dann dürfen wir bei Ihnen wohl auch bald mit Nachwuchs rechnen?«

»Aber Großmutter Liz, wir haben uns doch gerade erst kennengelernt«, protestierte Sophie, doch dann lächelte sie versonnen. »Ein Mädchen würde ich Anna Kate Emma nennen.«

»Und wenn es ein Junge würde?«, fragte John.

Sie überlegte. »John!«

»Nach mir?«

»Nein, nach Annas John, der zwar irgendwie mit dir verwandt war, aber so fragend, wie du mich anguckst, sollte dir das lieber deine Mutter anhand der Ahnentafel erklären ...«

Sie unterbrach sich, denn nun trat Tom auf sie zu. »Ihr sollt alle mal zu Judith kommen!«, bat er, bevor er Sophie zuraunte. »Stell dir vor, wie sie unser Kind einmal nennen will, wenn es ein Mädchen wird: Hine!« In seinem Blick war Skepsis zu lesen. »Kannst du verstehen, wieso man sein Kind so nennen kann?«

Sophie nickte nur und zwinkerte Liz verschwörerisch zu.