Dunedin, 26. Oktober 1869
An einem warmen Frühlingstag saß Anna in einem Korbsessel in ihrem Garten und beobachtete die spielenden Kinder. Klara hatte zu ihrem sechsten Geburtstag sechs Kinder eingeladen. »Im nächsten Jahr lade ich sieben ein und im übernächsten acht«, hatte sie ihrer Mutter in dem für sie typischen bestimmten Ton erklärt.
Die Kinder spielten Verstecken und stoben in alle Richtungen davon.
Anna nippte an ihrem Tee und legte die Stirn in Falten. Die Sorgen um die Zukunft ihrer kleinen Familie waren übermächtig geworden. Ohne etwas Genaueres über die Geschäfte ihres Mannes zu wissen, ahnte sie, dass er nicht so erfolgreich war, wie er sich vorgenommen hatte. Ihr entging keineswegs, dass Onkel Rasmus des Öfteren mahnende Briefe schrieb, die Christian jedes Mal mit einem verächtlichen »Was weiß der schon!« vom Tisch fegte. John hatte sein Versprechen gehalten und Christian vor seiner Abreise ins Gewissen geredet, aber nur mit kurzfristigem Erfolg. Zwei Wochen hatten Christians gute Vorsätze gehalten. Dann war alles noch schlimmer geworden; immer häufiger übernachtete er in seinem Haus am Hafen. Doch das war nicht das Schlimmste. Viel schlimmer waren die Nächte, in denen sie sich vor Klaras Zimmertür begegneten, wenn sie ihn daran hindern wollte, das Kind in seinem Zustand zu wecken und zu herzen. Er ließ zwar stets von seinem Vorhaben ab, aber häufig fing sich Anna dabei eine Ohrfeige ein. Und sie wohnten immer noch in der Princes Street, die inzwischen zu einer belebten Straße geworden war. Dunedin hatte sich zur größten Stadt Neuseelands entwickelt und besaß seit kurzem sogar eine eigene Universität, die Universität von Otago. Obwohl die Wirtschaft boomte, waren die Bauarbeiten am Anwesen oben auf dem Berg jedoch eingestellt worden. Christian hatte ihr mit keinem Wort erklärt, wieso, doch Anna ahnte den Grund.
Manchmal wünschte sie sich jemanden zu haben, dem sie anvertrauen konnte, wie öde das Leben an der Seite eines untreuen Trunkenboldes war, doch die Damen der Gesellschaft beäugten sie stets mit äußerster Skepsis, statt ihr die Freundschaft anzutragen.
Anna hatte sich nie als hübsch empfunden, doch die neidgespickten Komplimente der Damen ließen keinen Zweifel daran, dass man sie als verführerische Schönheit betrachtete, die den Männern gefährlich werden könnte. Seit Klaras Geburt hatte sie stets rote Wangen, und sie kämmte ihr dickes Haar nicht mehr so streng zurück wie in Hamburg. John sah sie bei jedem seiner Besuche zärtlich an, aber sie gab stets vor, es nicht zu bemerken. Seit seinem Geständnis beim Abschiedsball waren sie einander niemals mehr nähergekommen.
Das alles ging Anna durch den Kopf, während sie die tobenden Kinder beaufsichtigte.
Ach, John! Ich freue mich so sehr, dich heute zu sehen!, dachte sie, während sie beobachtete, wie ihre Tochter den Freunden Kommandos erteilte. Obwohl Klara so zierlich war, tanzten alle nach ihrer Pfeife, wenn sie ihre Stimme ertönen ließ, die so gar nicht zu ihrer zarten Statur passen wollte. Mit diesem spröden Charme hatte Klara das Herz ihres Vaters erobert. Und das beruhte ganz auf Gegenseitigkeit. Sie hing ebenfalls abgöttisch an ihm. Wenn er an freien Sonntagen mit ihr zusammen war, trank er keinen Tropfen. Diese innige Verbundenheit zwischen Vater und Tochter war nicht zu übersehen und löste in Anna gemischte Gefühle aus. Einerseits war sie heilfroh darüber, dass ihre Tochter mit der Liebe ihres Vaters nahezu überhäuft wurde, andererseits wurde ihr dadurch stets bewusst, dass sie selber diesen Mann niemals geliebt hatte und niemals würde lieben können.
»Mama, ich verstecke mich unter deinem Stuhl.« Damit riss Klara ihre Mutter aus den Gedanken.
Das Kind sprach perfekt Englisch, eine Sprache, die auch Anna inzwischen sicher beherrschte. Sie strich ihrer Tochter über die dunklen Locken und ließ sie unter ihren Sessel kriechen. Wenn Anna es nicht genau wüsste, dass Klara Christians und ihr Kind war, sie würde es selbst nicht glauben. Klara hatte dichtes, lockiges dunkles Haar und eine helle, beinahe durchscheinende Haut. »Ein hübsches Kind«, hörte Anna oft. Ein fremdes Kind, dachte Anna häufig. Sie liebte die Kleine zwar abgöttisch, aber Klara besaß so gar keine Eigenschaft, von der sie hätte sagen können: Sie schlägt nach mir. Nun kam auch Timothy angerannt.
»Tante Anna, wo ist Klara?«, fragte er atemlos.
»Bist du mit Suchen dran? Dann sage ich es dir nämlich nicht!«, gab sie lachend zurück.
»Nein, ich will mich mit Klara zusammen verstecken.«
Anna deutete stumm unter sich.
Ein breites Lächeln huschte über das Gesicht des kräftigen, stets fröhlichen Jungen, bevor er unter ihren Stuhl krabbelte. Die beiden Kinder waren unzertrennlich. Seit Klara laufen und sprechen konnte, war sie diejenige, die den kleinen Sonnenschein dominierte. Und er tat alles, was die quirlige Prinzessin von ihm verlangte.
»Darf ich mich bei dir verstecken?«, fragte Timothy Klara nun scheu.
»Mal sehen!«, antwortete ihre Tochter hoheitsvoll, bevor sie hinzusetzte: »Na gut, das geht, aber nur, wenn du ganz nah an mich ranrutschst.«
Dann schwiegen die Kinder, bis Anna Timothy raunen hörte: »Klara, wenn ich groß bin, möchte ich dich heiraten!«
Anna war gerührt. Wie oft hatte sie selber schon gedacht, dass diese beiden sich wohl niemals wieder trennen würden. Dann würde auch sie auf immer und ewig mit John McDowell verbunden bleiben.
Bevor Klara antworten konnte, entdeckte die Meute das Versteck der beiden. Beinahe schubsten die Kinder Anna aus dem Sessel, während sie riefen: »Klara und Timothy, wir haben euch!« Die beiden Kleinen krochen nun unter dem Stuhl hervor, Klara wie eine kleine Rachegöttin voran, Timothy wie ein geprügelter Hund hinterher.
»Ihr habt uns ja nur gefunden, weil Timothy geredet hat. Das gilt nicht«, erklärte Klara mit einem unüberhörbaren Vorwurf in der Stimme. Annas Herz verkrampfte sich beim Anblick des kleinen Jungen, der bei der Schelte seiner Freundin rot angelaufen war. Anna seufzte. Wie gern würde sie ein nettes Wort sprechen, den Jungen beschützen, aber sie konnte sich gerade noch zurückhalten! Es wäre nicht gut, wenn sie sich einmischte.
»Wir spielen jetzt fangen!« Damit scheuchte Klara die Kinder an das andere Ende des Gartens. Sie folgten ihr johlend.
Wieder einmal wunderte sich Anna darüber, wie wenig mädchenhaft sich ihre Tochter manchmal aufführte. Und sie musste sich eingestehen, dass Klara auch Wesenszüge von Christian besaß.
In diesem Augenblick hörte Anna hinter sich energische Schritte. Ohne sich umzublicken, wusste sie, wem sie gehörten.
»Guten Tag, Anna!« Seine warme unverkennbare Stimme.
Sie sprang auf und drehte sich um, damit er sie umarmen konnte. Niemals würde Anna auf die Begrüßung mit ihm verzichten. Sie dauerte stets länger, als es üblich war, aber immerhin kurz genug, um keinerlei Spekulationen aufkommen zu lassen.
»Paula«, rief Anna ihrem Dienstmädchen zu, »bringen Sie Herrn McDowell bitte einen Tee!«
Seufzend ließ sich John in einem der Korbstühle dicht neben Anna nieder.
Er sieht einfach blendend aus, schoss es Anna durch den Kopf. Das schwarze lockige Haar, der gepflegte Bart. Dazu der Anzug aus feinem englischem Tuch. Eine elegante Erscheinung im Gegensatz zu Christian, der immer weniger auf sein Äußeres achtet, dachte sie wehmütig.
»Wie geht es dir, Anna?«
»Ich will nicht klagen. Die Kinder machen mir mit jedem Tag mehr Freude.«
»Du hast es verdient. Und ich weiß, mein Timothy könnte nirgendwo besser aufgehoben sein als bei dir«, erklärte John, während er die tobende Kinderschar beobachtete. Er senkte den Blick und seufzte schwer.
Ob er Mary immer noch so sehr vermisst, fragte Anna sich, der plötzlich unbehaglich zumute wurde. »Und wie ergeht es dir in Wellington?«, fragte sie.
»Ach, Anna, es ist ein mühsames Geschäft. Einige unserer Parlamentarier lehnen immer noch jeden Vorschlag ab, den die Maoris einbringen. Das ist doch dumm.«
»Natürlich ist das nicht klug, aber bedenke, für die Älteren unter ihnen sind diese vier Abgeordneten im Parlament immer noch die Wilden.«
»Ja, ja, aber wenn wir Ihnen keine Zugeständnisse machen, werden sie nicht aufhören, unsere Siedler anzugreifen«, gab er zu bedenken und fügte hinzu: »Das heißt, wenn die Seuchen die Maori nicht vorher dahinraffen.«
»Überleg mal, John, vor sechs Jahren hätte kein Mensch gedacht, dass die Maori jemals das Wahlrecht bekommen würden!«
»Ja. Und Mary hätte dem wahrscheinlich selbst heute nicht zugestimmt. Ihr Vater hatte ihr eingeimpft, die Maori seien nicht zivilisiert genug. Dabei war sie eine Seele von Mensch, aber auf dem Ohr war sie taub.«
»Ach, Mary!«, seufzte Anna und betrachtete John verstohlen von der Seite. Sie hatte das Gefühl, dass er etwas auf dem Herzen hatte, aber sie wollte ihn nicht mit neugierigen Fragen behelligen. »Tja, die Maori dürfen endlich wählen, nur wir Frauen nicht!«, bemerkte sie schließlich in das Schweigen hinein.
»Aber Anna!«, entfuhr es John McDowell entgeistert. »Das darfst du aber nicht vergleichen. Es ist doch nicht die Aufgabe von euch Frauen, die Geschicke der Politik zu bestimmen. Natürlich gibt es vereinzelt Frauen wie dich, denen ich ein ordentliches Maß an politischem Verstand durchaus nicht absprechen möchte, aber der Großteil der Frauen? Nein, liebe Anna, das Wahlrecht für Frauen ist eine Utopie, die sich hoffentlich niemals erfüllen wird!«
Anna lag eine Widerrede auf der Zunge, aber sie schluckte die Worte herunter. Es wäre doch zwecklos. John war ein engagierter Vorkämpfer für das Wahlrecht der Maori gewesen, aber für das Frauenwahlrecht einzutreten käme ihm nie in den Sinn.
»Anna!«, raunte John jetzt heiser, und der Klang seiner Stimme alarmierte all ihre Sinne. »Anna, ich werde Timothy dieses Mal endgültig mit nach Wellington nehmen.«
Anna wurde heiß und kalt. »Aber, aber ... Du kannst ihn dort doch gar nicht versorgen. Er ist bei uns bestens aufgehoben, und du kommst bestimmt bald nach Dunedin zurück.«
»Nein!«, entgegnete John McDowell entschieden. »Ich werde meinen Wohnsitz endgültig nach Wellington verlegen. Albert übernimmt meine Kanzlei.«
Anna zuckte zusammen. Das war kein gutes Zeichen, dass er seine Kanzlei freiwillig seinem Bruder übergab. Sie wusste doch, wie sehr er ihm misstraute. In ihrem Magen breitete sich ein Unwohlsein aus. Was konnte nur Schlimmes geschehen sein, dass er seinem ungeliebten Bruder alles überließ, der Stadt den Rücken kehrte und ihr Timothy nahm?
»Aber wer soll denn den Jungen dort betreuen?«, fragte sie verzweifelt. Der Gedanke, Timothy hergeben zu müssen, der ihr lieb und teuer war wie ein eigenes Kind, trieb ihr die Tränen in die Augen.
»Lucille McMyer!« John senkte den Blick.
Das versetzte Anna in höchste Alarmbereitschaft. »Lucille? Wer zum Teufel ist Lucille McMyer?«
»Meine zukünftige Frau!« Immer noch vermied John es krampfhaft, Anna anzusehen.
Kreidebleich starrte sie ihn an. »Deine Frau?«, wiederholte sie nach einer Weile mit erstickter Stimme. Sie umklammerte die Lehnen des Korbstuhles, damit er nicht sah, dass ihre Hände zitterten. Gegen die Tränen jedoch war sie machtlos; sie strömten ihr einfach über die Wangen.
»Aber Anna!«, entfuhr es John erschrocken, als er erkannte, wie sehr diese Nachricht sie berührte. Dabei griff er nach ihrer Hand, doch sie klammerte sich noch immer an den Lehnen fest.
Sie hasste ihn in diesem Augenblick, auch wenn ihr Verstand etwas anderes sagte. In ihrem Herzen tobte ein Sturm, der alle anderen Empfindungen hinwegfegte bis auf die Wut und die quälende Frage, wie er ihr so etwas antun könne.
John war ganz blass geworden. »Anna, wenn ich gewusst hätte, dass es dir so nahegeht ...« Er stockte.
»Es ist nur ... Es ist nur wegen Timothy. Ich ... Ich habe mich doch so an ihn gewöhnt!«, schluchzte sie, aber John sah sie durchdringend an.
»Du hast mir niemals das Gefühl gegeben, dass du meine Liebe für dich erwiderst«, flüsterte er nun.
»Was hätte das geändert?«, fragte sie, bemüht, ihn dabei nicht anzusehen. Mit dem Ärmel ihres Kleides wischte sie sich entschieden die Tränen aus dem Gesicht.
»Nichts. Gar nichts!«, gab er schließlich zerknirscht zu und fügte nachdenklich hinzu: »Du bist eine verheiratete Frau!«
»Und du bald ein verheirateter Mann!«, erwiderte Anna tonlos.
»Du wirst sie mögen«, sagte John in versöhnlichem Ton.
»Ich will sie gar nicht kennenlernen. Ich kannte Mary, und das war wunderschön, aber ihre Nachfolgerin muss ich nicht kennen«, entgegnete Anna trotzig.
»Anna, so versteh mich doch«, stöhnte er flehend. »Ich habe außer Mary nur eine Frau geliebt, und du weißt, wen, aber du hast eine Familie.«
»Ich weiß, aber es tut trotzdem so unendlich weh, und ich möchte einmal im Leben nicht tapfer sein. Bitte, einen winzigen Augenblick lang möchte ich dir zeigen, was ich wirklich fühle. Keine Sorge, es ist gleich wieder vorbei.«
Wieder wollte John ihre Hand nehmen, aber Anna ließ es nicht zu. Sie wusste, dass es ungerecht war, ihm diese versöhnliche Geste zu verweigern, aber sie konnte nicht anders. Johns Besuche waren in all den Jahren die kostbaren Augenblicke gewesen, auf die sie förmlich hingelebt hatte -mit klopfendem Herzen und weichen Knien. Was blieb ihr denn noch, wenn John aus ihrem Leben verschwand?
»Sie wird eine gute Mutter für Timothy sein«, erklärte John nun hilflos.
Anna schwieg. Sie gönnte ihm ein neues Glück, doch, ja, schließlich liebte sie ihn so sehr, aber es zerstörte alle ihre heimlichen Träume.
»Lucy ist eine sehr mütterliche und warmherzige Frau. Sie tut mir gut. Ich empfinde nicht das innere Beben, wie es mich immer wieder erschüttert, wenn ich dich wiedersehe, Anna. Aber sie kann mir die Geborgenheit, die Ruhe geben, nach der ich mich sehne. Ich bin mir in letzter Zeit wie ein hungriger Hund vorgekommen, der nur darauf wartet, ein kleines Stück vom Knochen zu bekommen. Ein Lächeln von dir, ein liebes Wort ... Dabei tat es mir jedes Mal unendlich weh, dass ich nicht mehr von dir haben konnte. Anna, ich bin doch auch nur ein Mann, und ich kann so nicht weiterleben.«
Jetzt sah Anna John fest in die Augen: »Ich glaube, wenn du mich darum gebeten hättest, dir alles zu geben, ich hätte es getan. Ich hätte meinen Mann betrogen, nur um einmal in deinen Armen zu liegen.«
»Anna, sag so etwas nicht! Niemals hätte ich dich in dieser Weise entehrt!« John nahm ihr Gesicht in beide Hände und wollte es küssen, aber sie war schlagartig wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen, als sie Christian am Gartentor sah.
»Ich wünsche dir alles Gute, John!«, raunte sie, während sie vor seiner Berührung zurückwich. Beim Anblick seines völlig verwirrten Blickes fügte sie leise hinzu: »Ich meine es ernst. Wir beide, das ist ein unerfüllbarer Traum. Klara braucht ihren Vater.« Mit diesen Worten stand sie auf und ging ihrem Mann entgegen. Sie hakte ihn unter, was er sich widerspruchslos gefallen ließ, und führte ihn zu einem der Korbsessel.
Ächzend ließ er sich fallen, bevor er John mit den Worten »Na, alter Knabe, was macht die Politik?« jovial begrüßte.
Anna atmete auf. Sein Gang hatte bereits geschwankt wie der eines Seebären, aber zu ihrer großen Erleichterung sprach er noch klar und deutlich. »Stell dir vor, unser Freund zieht ganz nach Wellington und wird heiraten!«, sagte sie schnell.
»Wer ist denn die Glückliche?«, fragte er sichtlich neugierig.
John räusperte sich: »Sie heißt Lucille, ist die Tochter schottischer Einwanderer und die Schwester eines Mitabgeordneten.«
»Ist sie hübsch?«
Anna stockte der Atem. Spätestens nach dieser indiskreten Frage würde John ahnen, wie betrunken ihr Mann bereits war, aber er ließ sich nichts anmerken.
»Sie ähnelt vom Typ her Mary ein bisschen«, erwiderte John ausweichend, nach Kräften bemüht, dass sich sein Blick nicht mit dem von Anna kreuzte.
»Dann nimmst du uns wohl den Jungen?« In Christians Stimme lag Bedauern.
»Ich kann euch nicht länger zumuten, mein Kind aufzuziehen«, erklärte John.
»Das haben wir sehr gern getan«, widersprach Anna ihm, und Christian nickte zustimmend. »Hast du es ihm schon gesagt?«, fügte sie hinzu.
»Nein, ich wollte es erst euch beiden mitteilen.«
In diesem Augenblick kamen die beiden Kinder angerannt. Timothy wie immer ein paar Meter hinter seiner Freundin, die mit einem Satz ihrem Vater auf den Schoß gesprungen war und ihn nun kräftig umarmte. Timothy hingegen stand etwas verlegen da.
»Mein Junge!«, rief John beglückt aus.
»Guten Tag, Papa!«, antwortete Timothy artig und schmiegte sich dabei an Anna.
Jetzt erst traute sie sich, John wieder anzusehen, und der Schmerz in seinem Gesicht traf sie wie ein Messerstich. Es fällt ihm auch nicht leicht, Timothy hier herauszureißen, dachte sie ein wenig versöhnlicher. Es ist doch ein Segen, dass dieser Junge wieder eine Mutter bekommt und für ihn ein Geschenk, eine Frau zu lieben, versuchte der Verstand ihr einzureden. »Bleibst du zum Abendessen?«, fragte sie freundlich.
John lehnte die Einladung zunächst ab, doch Timothy bettelte so lange, bis John klein beigab. Der Junge rang seinem Vater schließlich sogar die Erlaubnis ab, in der Princes Street bei Klara zu übernachten.
Während die Männer miteinander plauderten und Paula das Essen zubereitete, brachte Anna die Kinder ins Bett. Die beiden waren so erschöpft, dass sie bereits bei den ersten Zeilen einschliefen, die Anna ihnen vorlas. Wehmütig betrachtete sie die Pausbäckchen des friedlich schlafenden Timothys. Es wird sicher nicht ganz einfach für ihn werden, in einer anderen Welt zu leben. Besonders ohne Klara!, dachte sie und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Anna zog sich zum Abendessen noch einmal um. Sie durchschaute sich selbst und wusste genau, warum sie das tat, auch wenn ihr das eigene Motiv ganz und gar nicht gefiel. Zum Abschied wollte sie John McDowell ein Bild von sich mit auf den Weg geben, das er niemals vergessen sollte. Sie war alles andere als kokett, aber wenn er sich nun schon in die Arme dieser fremden Frau warf, sollte er sie wenigstens in bester Erinnerung behalten.
Der lange Rock raschelte bei jedem Schritt, als sie schließlich in den Salon trat. Beide Männer erhoben sich und rückten ihr den Stuhl zurecht, als sie an den Tisch kam. Nicht nur John stand die Bewunderung ins Gesicht geschrieben, nein, auch Christian starrte sie begehrlich an. Wie Anna unschwer erkennen konnte, hatte er in der Zwischenzeit reichlich getrunken.
Seine Stimme klang verwaschen, als er nun sagte: »Sie hat sich für deinen Abschied wirklich hübsch gemacht. Für mich zieht sie ja so was nicht an! Aber das ist kein Zufall. Guck doch nur, wie sie dich anhimmelt! Was würde sie darum geben, mit deiner Zukünftigen zu tauschen! Ich glaube, sie würde zu gern zu dir ins Bett kriechen.« Mit diesen Worten kniff er Anna ohne Vorwarnung in die Wange, griff sich die Karaffe mit dem Rotwein, trank sein Glas fast in einem Zuge leer und schenkte sich sofort noch einmal nach.
Anna lief rot an. Was erlaubte er sich! Wie konnte er sie so kompromittieren! Auch wenn er instinktiv gefühlt hatte, was in ihr vorging, so besaß er doch nicht das Recht, sie dermaßen bloßzustellen. Sie ballte die Fäuste und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Mit hocherhobenem Kopf setzte sie sich an die Stirnseite des Tisches, auf den Platz, den Christian sonst einzunehmen pflegte. Er ließ es widerspruchslos geschehen und senkte den Blick.
Während die beiden Männer sich rechts und links von ihr niederließen, überlegte sie fieberhaft, was sie tun sollte. Wenn Christian so ungehemmt weiter trinkt, wird noch ein Unglück geschehen, dachte sie nervös. Soll ich ihn ermahnen, das Trinken zu lassen? Aber sie wusste, dass das alles noch schlimmer machen würde. Ob er wirklich spürt, wie sehr ich John liebe?, fragte sie sich gerade, als Christian sich vertraulich zu John herüberbeugte.
»Nun sag schon, wann ist die Hochzeit? Kannst du es überhaupt noch erwarten, mein Freund? Immer nur diese gewissen Damen, das ist ja auf Dauer auch nicht das Wahre, mal abgesehen von den Krankheiten, die man sich dort holen kann. Da hat man doch gern was Gesundes in den eigenen Laken, das nach Bedarf die Beine breit macht! Nicht wahr, alter Junge?« Zur Bekräftigung klopfte er John auf die Schulter, der bei diesen Worten ebenso rot angelaufen war wie Anna.
»Ich würde gern noch mal mit dir über das Frauenwahlrecht sprechen«, sagte Anna nun laut zu John.
Der sah sie verwirrt hat. Er war vor Verlegenheit noch ganz starr. Schließlich räusperte er sich. »Hast du etwa dieses Pamphlet gelesen?«, fragte er nun unwirsch.
»Welches Pamphlet?« Anna war erleichtert, weil der Themenwechsel zu gelingen schien.
»Es heißt Femina und ist ein Appell an uns Männer, euch das Wahlrecht zu geben und -«
Weiter kam er nicht, weil Christian ihn unterbrach, der keinen geraden Satz mehr herausbringen konnte. Er lallte etwas von Frauen, die an den Herd und in das Ehebett gehörten, um den Männern zu Willen zu sein. Dabei fuchtelte er so ungeschickt mit den Armen herum, dass er die Karaffe mit dem Wein auf die Erde fegte. Statt sich zu entschuldigen, rief er: »Paula, der Wein ist alle. Oder bring mir doch besser gleich meinen Whiskey.«
Anna schaute John flehentlich an.
»Christian, es ist besser, wenn du jetzt ein wenig schläfst. Ich glaube, du bist müde«, sagte der schließlich mit sanfter Stimme:
Die Antwort war nur ein entstelltes »Blödsinn!«.
Paula, die herbeigeeilt war, um den Wein vom Boden aufzuwischen, fragte Anna leise: »Was soll ich tun?«
»Auf keinen Fall Alkohol bringen«, raunte Anna so leise wie möglich, aber Christian hatte offenbar jedes Wort verstanden.
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, bevor er lospolterte: »Du hast mir gar nichts zu sagen. Du nicht!« Dann lehnte er sich wieder vertraulich über den Tisch zu John hinüber. Dabei geriet der Ärmel seines Anzugs in die Schüssel mit der Soße, was er nicht einmal bemerkte. »Ich weiß gar nicht, was die da vom Frauenwahlrecht faselt. Anna sieht zwar so aus wie eine Frau, aber das täuscht. Sie ist nämlich keine wirkliche Frau. Sie ist eine alte Jungfer. Vergiss, was ich eben gesagt habe! Dass sie in dein Bett will. Das war ein Witz. Diese Frau ist so abweisend, verstehst du, die setzt schon Moos an. Da unten! Und weißt du, was das Schlimmste ist? Sie verweigert mir die ehelichen Pflichten, und ich muss die hämischen Blicke aushalten, weil ich es nur zu einem Kind gebracht habe. Und ich verdammter Trottel, ich nehme mir mein Recht nicht einmal. Verstehst du, ich bin ein weibischer Feigling! Und weißt du, warum? Ich habe Angst, dass sie mir mein Kind wegnimmt!«
Damit verfiel der riesige Kerl ins Schluchzen. Anna erschrak zu Tode. Noch niemals hatte sie ihren Mann weinen sehen. Sie hätte gern Mitleid empfunden, aber sein Verhalten löste nur noch mehr Ekel in ihr aus. Bis zur Übelkeit, die jetzt in ihr aufstieg.
John war aufgestanden und zu Christian hinübergegangen. Ganz ruhig hörte sie ihn auf ihren Mann einreden. »Komm, ich helfe dir. Gib mir deine Hand! Dir ist heute nicht gut. Du musst schlafen.« Mit diesen Worten zog er Christian hoch, der es sich seltsamerweise gefallen ließ.
John war nicht gerade schmächtig, aber als Anna sah, wie sich ihr Hüne von Mann mit seinem ganzen Gewicht auf ihn stützte, hatte sie Sorge, die beiden könnten umkippen und Christian könnte seinen Helfer unter sich begraben, aber John war kräftiger, als sie vermutet hatte.
Anna sprang auf und öffnete dem ungleichen Paar die Tür. Dann zeigte sie John, wo Christians Schlafzimmer lag. Sie hatte es lange nicht mehr betreten und bemerkte mit Entsetzen am Boden verstreute Whiskeyflaschen. Die Luft war so unerträglich, dass Anna zum Fenster rannte und es aufriss. Eine frische Brise wehte hinein.
Kaum dass er sich auf das Bett hatte fallen lassen, begann Christian entsetzlich zu schnarchen. Anna rannte fluchtartig aus dem Zimmer. John folgte ihr auf dem Fuß. Wortlos gingen sie zurück zum Salon, aber Anna war immer noch übel.
»Begleitest du mich ein wenig an die Luft?«, fragte sie John hastig, der sofort nickte.
Ohne darüber zu sprechen, was soeben geschehen war, gingen sie in Richtung von Johns Haus.
Endlich brach John das Schweigen. »Ich habe doch nicht geahnt, wie schlimm es um ihn steht.«
Anna stöhnte. »Der Alkohol ruiniert ihn.«
John legte den Arm um ihre Schulter und zog sie zu sich heran. »Es wird dich nicht trösten, aber ich befürchte, dass die Alkoholsucht sich zu einem riesigen Problem in unserem Land ausweiten wird. Viele der erfolglosen Goldsucher greifen zur Flasche.«
Anna nickte stumm. Nein, das war in der Tat kein Trost. Ein Trost warst immer nur du, dachte sie, und diesen Trost werde ich bald verlieren. Ihre Schläfen pochten.
Als hätte er geahnt, was in ihr vorging, blieb John abrupt stehen und blickte sie zärtlich an. In seinen Augen lag plötzlich ein Glanz, der alles überstrahlte.
»Anna!«, sagte er sanft. »Nach dem, was ich gerade erlebt habe, sehe ich alles in einem anderen Licht. Es gibt eine Möglichkeit für uns beide.« Sie sah ihn fragend an, während er aufgeregt fortfuhr: »Du lässt dich sofort scheiden, weil nicht mehr viel fehlt, bis er dein Leben und das deiner Tochter zerstört. Keiner kann von dir verlangen, dass du mit einem derart kranken Mann zusammenlebst. Wir heiraten und ziehen gemeinsam nach Wellington. Sollen sich die Leute hier ruhig das Maul über uns zerreißen. Wir sind dann weit weg. Stell dir doch nur einmal vor: wir vier, eine kleine Familie ...« Er hob beschwörend die Hände.
In Annas Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Überall würde sie mit ihm hingehen! Ein Leben an seiner Seite, das wäre das Paradies. John und sie unter einem Dach. Mit Timothy und Klara. Klara. Aber darf ich ihr den Vater nehmen? Wird sie ihn nicht vermissen? In ihrer Gegenwart reißt er sich immer zusammen. Und wird John es mir je verzeihen, wenn er meinetwegen seinen guten Ruf verliert? Er wird seine Glaubwürdigkeit einbüßen, die er als Abgeordneter dringend braucht. »Und Lucille?«, gab Anna mit belegter Stimme zu bedenken.
»Sie wird mich verstehen, wenn ich ihr gestehe, dass du die Frau bist, die ich wirklich liebe.«
Anna stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie fragte sich auch, was aus Christian werden würde, wenn sie ihm seine Klara nahm, das einzige Wesen, das er abgöttisch liebte. Das würde ihn umbringen! Und zwar sofort! Sicher, der Alkohol würde ihm auch früher oder später den Rest geben, aber das hätte er selber zu verantworten. Wenn sie ihm Klara nahm, machte sie sich schuldig. »John, mein Herz wird immer dir gehören, aber ich kann diesen Mann nicht töten. Hörst du? Und das würde ich tun, wenn ich ihm Klara wegnehmen würde. Kannst du das verstehen?« Anna war ganz ruhig, als sie in Johns Augen blickte.
Er war den Tränen nahe.
Sie schlang die Arme um seinen Hals und flüsterte: »Rette dich! Ich war so egoistisch, dass ich dich ganz für mich allein haben und dir deine Chance nicht von Herzen gönnen wollte. Ich darf ihn nicht umbringen. Und ich darf auch Klara den Vater nicht nehmen. Und du, du hast Lucille dein Wort gegeben und darfst deine Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel setzen. Das würde immer zwischen uns stehen. Wir hätten unser Glück auf dem Unglück von anderen aufgebaut.«
»Du lebst also lieber mit einem widerlichen Trunkenbold, der dich beleidigt, unter einem Dach, weil du ihm sein Kind und Klara den Vater nicht nehmen willst?«, fragte er fassungslos.
Anna nickte. Er hatte sie jetzt noch dichter an sich herangezogen. Seine Hand streichelte sanft ihren Nacken. Wohlige Schauer durchrieselten sie von Kopf bis Fuß. Plötzlich wusste sie, was sie tun wollte, um mit dieser traurigen Entscheidung leben zu können. »John, ich habe nur einen Wunsch, bevor wir uns trennen.« Ihre Stimme zitterte.
»Alles, was du willst, mein Liebling!«, versprach er ihr leise.
»Ich möchte dir ein einziges Mal im Leben ganz gehören. Ich möchte dich mitnehmen in meine Träume für alle Ewigkeit, denn danach wird mich nie wieder ein Mann berühren«, raunte sie.
Johns Stimme wurde heiser, als er stammelte: »Mein Liebling? Das ist ja ... Du bist ... Ich wäre der glücklichste Mann auf Erden. Bist du dir ganz sicher?«
Anna presste die Lippen auf seinen Mund. Er erwiderte ihren Kuss, und je mehr sich ihre Körper danach sehnten, eins zu werden, desto leichter wurde Anna ums Herz. Sie würde dem Mann gehören, den sie liebte.
»Gehen wir hinein?«, schlug er mit heiserer Stimme vor und zog sie zum Eingang seines Anwesens. Seine Augen glänzten fiebrig.
»Nein!«, entgegnete sie entschieden. Sie wollte es auf keinen Fall in Marys Haus tun. »Lass uns hinaus nach St Clair fahren!«, flüsterte sie und lächelte ihn an.
Er war sichtlich verwirrt.
»Bitte!«
»Alles, was du willst!« Trotzdem zog er sie fort, bis sie vor seinem Haus standen. »Bin gleich wieder da. Ich hole uns nur Anna!«
»Anna?«
»Sie wird dir gefallen.« Mit diesen Worten verschwand er und kehrte flugs mit einer braunen Stute zurück, auf die er sie behutsam hob, bevor er selbst galant hinter ihr aufsaß.
Anna warf lachend den Kopf in den Nacken, doch dann blieb ihr das Lachen im Halse stecken. Albert McDowell trat aus dem Haus und sah sie feindselig an, doch da gab John dem Pferd schon die Sporen. Anna schüttelte das Haar im Wind und nahm sich vor, keinen Gedanken an diesen vernichtenden Blick zu verschwenden.
John hört bestimmt mein Herz klopfen, dachte sie, während sie durch die Nacht galoppierten. John hielt sie mit einem Arm von hinten umfasst, während er mit der anderen die Zügel hielt. Als das Meer vor ihnen auftauchte, wünschte sich Anna, dass dieser Augenblick niemals vorübergehen möge. Leise Schauder durchrieselten sie bei der Vorfreude auf das, was in dieser milden Frühlingsnacht noch passieren würde.
Nachdem John das Pferd an einen Pfahl gebunden hatte, nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn bis zum Strand. Sie ließen sich Zeit dabei, einen geeigneten Platz zu finden. Dort breitete John seinen Mantel auf dem weißen Sand aus und küsste sie sanft. Als sie sich aus ihrer leidenschaftlichen Umarmung gelöst hatten, zog sie das Kleid aus und bat ihn mit bebender Stimme, die Schnüre ihres Korsetts zu lösen. Seine zittrigen Finger auf ihrer Haut versetzten sie in eine Ekstase, die ihr beinahe Angst machte. Nun spürte sie seine feuchten Lippen auf ihrem Rücken. Er streifte ihr Korsett ab, und sie drehte sich zu ihm um.
»Du bist so schön, Anna! So unendlich schön! Wie oft habe ich mir in schlaflosen Nächten vorgestellt, wie es sein würde, dich so zu sehen, deine Haut zu spüren, deinen Duft einzuatmen. Es ist noch viel schöner!« Dabei strich er ganz behutsam über ihre Brüste.
Wogen der Wonne erfassten ihren Körper. Alles in ihr funkelte, als er in sie eindrang.