Dunedin, Oktober bis Dezember 1863

 

Anna stand kurz vor der Niederkunft und konnte sich nur noch schwerfällig bewegen. Wie ein gefüllter Sack, der nach Entladung drängte, fühlte sie sich mit ihrem geschwollenen Leib. Das Gute an ihrem Zustand war, dass ihr Mann sie kein einziges Mal mehr angerührt hatte. Der Austausch von Zärtlichkeiten jenseits des Ehebettes, wie Anna sie zwischen Mary und John beobachtet hatte, war ihm völlig fremd. Ihr war es nur recht. Sie verspürte nicht das geringste Bedürfnis, dass Christian ihr über Haar und Wangen strich oder gar den Arm um sie legte. Allerdings erkundigte er sich nun bei jeder Gelegenheit nach ihrem Wohlergehen und versuchte, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Seit er von ihrem Zustand wusste, war er auch nicht mehr ganz so wortkarg. Dabei wirkte er fast rührend unbeholfen. Neulich war er noch einmal in die Stadt geritten, nur um ihr Lammfleisch zu besorgen, auf das sie einen unbändigen Appetit entwickelt hatte und das sie, kaum dass Paula es zubereitet hatte, nicht hatte anrühren können. Christian verlor kein böses Wort darüber, sondern ertrug ihre Launen mit Gleichmut.

Auch als sie sich bei ihm beklagte, dass ihr Kind in einer Hütte zur Welt kommen werde, hatte Christian sofort gehandelt. Noch im Juni, bevor der Winter einbrach, waren sie in eine wetterfeste Unterkunft gezogen. Ihr Anwesen oben am Berg war noch immer nicht fertig, und deshalb hatte ein Freund von John McDowell ihnen sein Haus zur Verfügung gestellt, da er wegen des Todes seines Bruders überstürzt nach Europa reisen musste. »Solange ich in Glasgow bin, könnt ihr hier wohnen!«, hatte er Anna und Christian angeboten. Anna war überglücklich gewesen. Das Haus war zwar nicht annähernd so prächtig wie das von Mary, aber es lag im Stadtzentrum, in der Princes Street. Es war im schottischen Stil aus Stein gebaut, hatte einen riesengroßen Salon, den man als Tanzsaal benutzen konnte, besaß mehrere Kamine und einen Garten.

Anna war einige Male mit Christian auf der Baustelle ihres Hauses gewesen, aber große Fortschritte hatte der Bau nicht gemacht. Christian hatte ihr jedoch hoch und heilig versichert, dass das Haus im nächsten Sommer fertig sein und den schönsten Ausblick der ganzen Stadt haben würde.

 

In der Princes Street wurde am 26. Oktober 1863 Annas Tochter Klara geboren. Mary McDowell hatte Anna eine zuverlässige Hebamme organisiert, der Mary an jenem Frühlingstag - selbst hochschwanger mit ihrem zweiten Kind - assistierte. Nach dem Einsetzen der Wehen ging alles ganz schnell. Das Baby folgte vier Stunden später ohne Komplikationen. Anna weinte vor Glück, als sie das kräftige Brüllen ihres Kindes hörte.

Christian saß währenddessen nervös vor einem Glas Portwein im Salon - bis Mary ihm die erlösende Nachricht brachte, dass Anna ihm eine gesunde Tochter geschenkt hatte. Sosehr er sich auch bemühte, Freude zu zeigen, konnte er die Enttäuschung, dass es kein Sohn geworden war, kaum verhehlen. Wie enttäuscht wird er erst sein, wenn er sieht, was für ein schwaches zartes Geschöpf seine Tochter ist!, dachte Mary. Sie hoffte inständig, dass er es wenigstens schaffte, seine Enttäuschung vor seiner geschwächten Frau zu verbergen.

Anna war viel zu erschöpft und glücklich, um zu bemerken, dass ihr Mann das Baby mit abschätzigen Blicken maß. Nein, sie schwebte geradezu im siebenten Himmel, seit Mary ihr das frisch gewaschene kleine Wesen mit den langen Wimpern und dem auffallend schwarzen Flaum auf dem Kopf in den Arm gelegt hatte. Sie wollte das kleine Mädchen gar nicht mehr loslassen.

»Willkommen auf der Erde, meine kleine Klara!«, raunte Anna dem Säugling zu, nachdem Christian das Zimmer wieder verlassen hatte, und drückte ihn zärtlich an sich. Dann fügte sie kaum hörbar hinzu: »Auf dass die Engel dich beschützen, was auch immer geschehen mag!« Das Kind begann in diesem Augenblick lauthals zu schreien. Die durchdringende Stimme wollte ganz und gar nicht zu diesem zarten Wesen passen.

»Du musst ihr was zu trinken geben«, sagte Mary zärtlich und half ihrer Freundin, das Baby an die Brust zu legen. Mit lautem Schmatzen sog es die Milch der Mutter ein.

Seit Anna wusste, dass sie schwanger war, hatte sie sich ein Mädchen erhofft. Sie verschwendete nicht den geringsten Gedanken daran, dass ihre Tochter sehr zerbrechlich wirkte, nein, sie liebte dieses Geschöpf vom ersten Moment an bedingungslos mit jeder Faser ihrer Seele. Und das, obwohl Klara das ganze Gegenteil von Marys vor Gesundheit nur so strotzendem Timothy war.

Allein für den Bruchteil von Sekunden war Anna beim Anblick des pechschwarzen Flaums auf dem Kopf ihres Töchterchens ein wenig zusammengezuckt, weil sowohl sie als auch Christian blondes Haar besaßen. Unwillkürlich dachte sie an Hine und den Fluch, aber dann fiel ihr das pechschwarze Haar von Onkel Rasmus ein. Er hatte einmal erzählt, dass auch ihr Vater, sein Bruder Klemens Wortemann, tiefschwarzes Haar besessen habe.

Mein hübsches Baby, dachte Anna, nachdem die Kleine satt war, während sie mit dem Finger zart über die Stirn ihrer Tochter fuhr. »Dir wird nichts geschehen!«, versprach sie der kleinen Klara und fügte kaum hörbar hinzu: »Ich werde dich immer beschützen. Dich und deine Kinder!«

 

Seit der Geburt ihrer Tochter war Anna wie ausgewechselt. Der traurige Blick, der sonst so oft über ihr Gesicht huschte, war verschwunden. Aus ihren Augen strahlte das pure Glück. Ihr war nichts zu mühsam, nicht das Stillen, nicht das Aufstehen mitten in der Nacht, im Gegenteil, sie war stets entzückt, wenn es um ihr Kind ging.

Christian schien das mit einer gewissen Skepsis zu betrachten. Das merkte Anna zwar, aber sie glaubte, er befürchtete, dass sie sich überfordern könnte. Er bot ihr mehrmals an, eine Kinderfrau einzustellen, aber Anna lehnte dieses Angebot rundweg ab. Sie wollte allein für Klara da sein.

Eines Abends, etwa zwei Wochen nach der Geburt ihrer Tochter, erkannte Anna, was ihren Ehemann veranlasste, ihr so vehement eine Hilfe bei der Betreuung des Säuglings anzutragen. Sie war früher ins Bett gegangen als sonst, da sie die vergangene Nacht fast zur Hälfte am Bett ihres schreienden Kindes verbracht hatte.

»Lass sie doch schreien! Das kräftigt die Lungen«, hatte Christian unwirsch gebrüllt, aber Anna war ins Kinderzimmer gehuscht, um die Kleine zu trösten. Dort war sie vor Erschöpfung auf dem Stuhl neben Klara eingeschlafen.

Kaum lag Anna im Bett, als sie die Schritte ihres Mannes hörte. Wortlos trat er in das Zimmer und zog sich aus.

»Vielleicht kümmerst du dich zur Abwechslung mal um mich«, knurrte Christan, während er unter die Decke schlüpfte.

Anna zitterte am ganzen Körper. Es gab keinen Zweifel. Er wollte sich auf sie wälzen. Ihr Mund war trocken. Trotzdem erklärte sie mit heiserer Stimme: »Es geht nicht. Ich bin noch zu wund von der Geburt.«

Christian musterte sie scharf. »Und warum lassen andere Frauen ihre Männer wieder zu sich, kaum dass sie ihr Kind geboren haben?«, fragte er bedrohlich.

»Bestimmt nicht, während sie es noch stillen. Das ist nicht gut«, widersprach Anna mit fester Stimme, bemüht, die Angst, er könne ihre Ausrede durchschauen, zu verbergen.

Er ließ sie jedoch in Frieden und brummelte nur unverständliche Dinge in seinen Bart, die alles andere als freundlich klangen.

Noch in dieser Nacht beschloss Anna, endgültig aus dem Schlafzimmer auszuziehen. Sie wusste nur noch nicht, wie sie das anstellen sollte.

Den Vorwand lieferte wenig später der Arzt, der Klara untersucht hatte, weil sie so viel schrie, und feststellte, dass sie unter schweren Bauchkrämpfen litt. Für Anna ein triftiger Grund, sich im Kinderzimmer eine eigene Schlafstätte einzurichten.

Christian missbilligte das ausdrücklich, doch Anna ließ sich nicht davon abbringen. Jetzt erst bemerkte die junge Mutter, dass er das kleine Wesen zunehmend mied und immer einsilbiger wurde. Er kehrte jeden Abend später von der Arbeit in der Handelsniederlassung zurück. Anna vermutete, dass er ein gewisses Etablissement besuchte, von dem Mary ihr einmal hinter vorgehaltener Hand erzählt hatte. Es lag unten am Hafen und beherbergte Frauenzimmer, die den unverheirateten Goldgräbern zu Diensten waren. Wie Mary zu berichten wusste, gingen auch immer mehr Männer dorthin, die zu Hause nicht das bekamen, was sie brauchten. Anna roch es manchmal an Christians Kleidern. Darin hing bisweilen der Duft von schwerem Parfum, einem Parfum, das eine Lady niemals benutzen würde. Es war ihr aber gleichgültig, ja, sie war sogar erleichtert darüber, dass Christian sie nicht mehr belästigte. Sie hatte schließlich, was sie wollte: ein wunderschönes Kind. Mehr brauchte sie nicht zu ihrem Glück, und sie hatte sich geschworen, dass sie ihn eher erstechen würde, als seine Zudringlichkeiten noch einmal über sich ergehen zu lassen.

Nein, wo er sich verströmte, das war ihr völlig gleichgültig, aber etwas anderes bereitete ihr große Sorge. Sie war nun bereits ein paar Mal spät nachts aufgewacht, weil er die Treppe immer öfter hinauftorkelte und dabei laut vor sich hin grölte.

Auch sein Atem am Frühstückstisch erlaubte keinen Zweifel: Christian trank zu viel Alkohol. Anna nahm sich vor, ihn bald darauf anzusprechen. Nur nicht heute, denn Mary würde bestimmt niederkommen. Anna wartete stündlich darauf, dass man ihr endlich Bescheid gab. Sie war so nervös, dass sie das ernste Gespräch mit Christian vor sich herschob. Wenn Marys Kind da ist, sagte sie sich, dann rede ich ein ernstes Wort mit ihm.

 

Am achten Dezember war es bei Mary endlich so weit. Die Wehen setzten mit einer Woche Verspätung ein, für die junge Mutter kein Anlass zur Sorge. Sie war an diesem Tage fröhlich wie immer. Sie wirkte beinahe aufgekratzt und scherzte, wenn die Kontraktionen nachließen.

»Es wäre doch schön, wenn es ein Mädchen würde! Dann hätte Klara eine Spielkameradin, die beiden verlieben sich in zwei Brüder, und wir feiern später einmal Doppelhochzeit«, malte sie sich lachend aus, nachdem sie sich gerade noch vor Schmerz gewunden hatte.

Anna hielt ihre Hand. Für sie war es Ehrensache, dass sie der Freundin in diesen Stunden beistand. Sie hätte Mary bei Klaras Geburt auch nicht missen wollen.

Ihre Tochter hatte Anna an diesem Tage zum ersten Mal in der Obhut von Paula gelassen, die Klara ebenfalls über alles liebte. Anna war der Abschied allerdings so schwergefallen, dass Paula sie schließlich mit den Worten »Sie reisen doch nicht nach Europa« aus der Haustür geschoben hatte.

Auch wenn Mary lachte und scherzte, etwas an der Freundin missfiel Anna. War es ihr blasses, durchscheinendes Gesicht oder die tiefen Schatten unter Marys Augen?

Mary schien von der düsteren Stimmung um sie herum nichts wahrzunehmen. Sie redete in einem fort und versuchte die anderen zum Lachen zu bringen. Das konnte Anna jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nicht gut um die Freundin stand. Das ernste Gesicht der Hebamme, nachdem diese Mary noch einmal untersucht hatte, unterstrich die düstere Ahnung. Irgendetwas stimmte nicht.

Plötzlich schrie Mary gellend auf, dass einem das Blut in den Adern gefrieren konnte, und dann ging alles ganz schnell.

Elisabeth Ginsbury, die erfahrene Hebamme, raunte Anna zu: »Großer Gott! Es liegt verkehrt herum!«

Anna wusste, was das zu bedeuten hatte. Wenn die Hebamme es nicht schaffte, das Kind im Mutterleib so zu drehen, dass es mit dem Kopf nach unten zu liegen kam, bestand Lebensgefahr für Mutter und Kind. Sie war sich nicht sicher, ob Mary ahnte, in welcher Gefahr sie schwebte. Tapfer ertrug die Freundin die schlimmsten Schmerzen. Sie schrie nur, wenn es gar nicht mehr anders ging. Ansonsten biss sie die Zähne fest zusammen. Anna lächelte ihrer Freundin ermutigend zu, während die ihre Hand förmlich zu zerquetschen drohte. Der alten Hebamme lief indessen der Schweiß in Strömen herunter, während sie sich krampfhaft bemühte, das Kind zu drehen.

»Heißes Wasser! Tücher!«, forderte sie nun, und Anna sprang auf und rannte los. Ihr blieb nicht anderes übrig, als zu beten, während sie zwischen Küche und Schlafzimmer hin- und herrannte.

Anna wusste nicht, wie oft sie gelaufen war. Sie hörte nur die gellenden Schreie der Freundin, die sie nun nicht mehr unterdrücken konnte, und ihr eigenes Keuchen. Als sie gerade wieder mit einer vollen Waschschüssel in das Schlafzimmer trat, traf sich ihr Blick mit dem von Elisabeth Ginsbury. Die schüttelte unmerklich mit dem Kopf. Anna verstand. Sie stellte die Schüssel aus der Hand, ging zitternd zum Bett ihrer Freundin und streichelte ihr über das nasskalte Gesicht. Auch in Marys Augen war nun die schreckliche Wahrheit zu lesen. Sie schien zu wissen, dass es weder für das Kind noch für sie Hoffnung gab. Trotzdem lächelte sie so, als wolle sie ihrer Freundin auch jetzt noch Mut machen.

»Anna!«, hauchte sie mit letzter Kraft. »Liebste Anna, kannst du mir etwas versprechen?«

Anna nickte, bemüht, die Tränen zu unterdrücken.

»Mein Timothy, der braucht jemanden, und dich liebt er über alles. Sei ihm wie eine Mutter und auch John, der ...« Damit stöhnte sie noch einmal laut auf, sah Anna aus weit aufgerissenen Augen an - und ihr Kopf sackte leblos zur Seite.

Anna wurde von Schluchzern geschüttelt. Mit zitternden Händen strich sie der leblosen Mary immer wieder über das verklebte Haar. Sie wollte es nicht glauben und stammelte nur: »Mary! Mary!«