Dunedin, 28. Dezember 2007

 

Als Sophie von den Aufzeichnungen aufblickte, herrschte reges Treiben im Park. Auf dem Rasen vor ihr spielten ein paar Maorikinder mit einem Ball, und eine Gruppe chinesischer Student hatte sich zu einem Picknick niedergelassen.

Sophie überlegte, was sie mit dem angebrochenen Tag anfangen sollte. Sie musste sich regelrecht zwingen, auf das Weiterlesen zu verzichten, doch wäre es nicht sinnvoller, sich endlich ein Bild von dieser Stadt zu machen, in der ihre Ahnen gelebt hatten? Rasch verstaute Sophie das Manuskript in ihrer Tasche und stand auf. Ein vornehm gekleideter älterer Herr steuerte auf die Bank zu. Er trug ein Jackett mit Krawatte und eine Aktentasche unter dem Arm. Dann ging Sophies Blick tiefer, und sie stutzte. Er trug zu dieser Aufmachung kurze Hosen. Sophie musste lächeln. Der Fremde lächelte zurück. Ganz schön locker, die Menschen hier, dachte sie und sog tief den Duft ein, den die vielen fremdartigen Pflanzen verströmten, bevor sie auf die Straße trat.

Anna hatte in der Princes Street gewohnt, wenn sie sich recht erinnerte. Sophie holte ihren Stadtplan hervor und sah sich an, wie sie dorthin gelangen würde. Sie musste sich links halten, bis zum Octagon gehen und dann immer weiter geradeaus. Das war ein ganz schönes Stück zu Fuß, aber das machte ihr gar nichts aus. Sie hatte sich in den letzten Tagen kaum bewegt, was für sie, die ansonsten täglich joggte, ganz und gar ungewöhnlich war. Auf der George Street überlegte sie, ob sie in einem der Cafés eine Pause einlegen sollte. Gerade eben war sie an einem besonders einladenden vorbeigeschlendert. Ja, das gönne ich mir, beschloss sie und drehte um. Da bemerkte sie einen hochgewachsenen Mann, der blitzschnell in einem Hauseingang verschwand. Sofort klopfte ihr Herz bis zum Halse. Das ist nur ein Zufall, der meint nicht mich, beruhigte Sophie sich, aber trotzdem schickte sie einen prüfenden Blick in den Hauseingang. Dort war niemand zu sehen. Nicht, dass ich noch an Verfolgungswahn leide, ermahnte sie sich. Dennoch pochte ihr Herz immer noch, und sie entschied sich, ihren Weg eilig fortzusetzen.

Wie getrieben hetzte sie nun die Straße entlang. Nur flüchtig aus den Augenwinkeln nahm sie die vielen kleinen Geschäfte wahr, in denen sie unter anderen Umständen liebend gern gestöbert hätte. Sie konnte sich nicht helfen, sie fühlte sich verfolgt. Abrupt blieb sie stehen und drehte sich um, aber weit und breit gab es niemanden, der in Hauseingänge flüchtete. Im Gegenteil, die Passanten zeigten eine Entspanntheit, die Sophie auf dem Hamburger Jungfernstieg selten erlebte. Es fehlte die Hektik.

Auch Sophie verlangsamte nun den Schritt und atmete tief durch. Es sind nur deine Nerven, sagte sie sich. Und doch, sie konnte nicht wie eine normale Touristin genießen, was diese Stadt alles zu bieten hatte. Dabei hätte sie von dem einen oder anderen alten Gebäude gern gewusst, ob es bereits im Jahre 1863 hier gestanden hatte. Nun aber wandelte sich das Straßenbild. Bürohäuser und Shoppingcenter, so weit das Auge reichte.

Plötzlich erkannte sie die Gegend wieder. Hier war Johns Büro. Als sie an dem Gebäudekomplex vorbeikam, in dem Franklin, Palmer & Partner ihren Sitz hatten, ging sie unwillkürlich schneller. Sie wollte John nicht zufällig in die Arme laufen, weil sie befürchtete, dass es sie verlegen machen würde.

Nachdem sie den großen Platz, den Octagon, überquert hatte, begann die Princes Street. Viele alte Gebäude säumten die Straße, aber es waren vorwiegend Kontorhäuser. Erschöpft blieb sie vor einem davon stehen. Was hatte sie sich erhofft? Dass irgendwo dazwischen das Haus ihrer Ahnin Anna stand und auf sie wartete?

Sophie nahm sich ein Taxi und beschloss, sich wieder im Hotelzimmer einzuigeln. Hier draußen fühlte sie sich seltsam unsicher. Dabei gab es weit und breit nichts, was ihr unangenehm war. Im Gegenteil, von der Atmosphäre her war es eine Stadt, in die Sophie sich sofort hätte verlieben können, wenn da nicht die Angst wäre, von dieser fremden Welt verschlungen zu werden.

 

Als Sophie zurück im Hotel war, fiel ihr erster Blick auf Emmas Handtasche. Sie öffnete sie und musste unwillkürlich lächeln. Ein einziges Chaos. Typisch Emma! Sophie kramte die Brieftasche hervor. Sie war leer bis auf ein paar Quittungen, Scheckkarten und zwei Fotos. Eines von ihrem Vater und eines von ihr.

Sie betrachtete das Bild ihres Vaters genauer. Es war ein Foto, das sie gar nicht kannte und das sie mit Wehmut erfüllte. Aber was war das? Sie stutzte. Hinter dem Foto war eine regenbogenfarbene Visitenkarte versteckt. Die Karte der sogenannten Lebensberaterin, der Emma diese Reise in den Tod zu verdanken hat, dachte Sophie wütend und schleuderte sie zu Boden.

Dann erst kam ihr der Gedanke, dass diese Frau Emmas Geheimnis womöglich kannte und Licht in das Dunkel bringen konnte. Ob ich sie einfach anrufen sollte, um dem Spuk ein Ende zu bereiten?, fragte sich Sophie. Nein, das würde ihr Problem nicht lösen. Entschlossen hob sie die Karte wieder auf, stopfte sie in die Brieftasche zurück und ließ alles wieder in die Tasche gleiten. Für heute hatte sie genug gesehen. Sie fühlte sich nicht mehr in der Lage, in den Sachen ihrer Mutter zu wühlen, und legte die Handtasche ganz hinten in den Schrank.