Opoho, im November 1914
In Auckland verließ Kate das Schiff und bestieg ein kleineres Dampfschiff, das sie nach Dunedin bringen sollte. Steven hielt gebührenden Abstand zu ihr.
Strömender Regen empfing sie im Hafen von Otago. Die Kutsche, die sie nach Opoho bringen sollte, war noch nicht eingetroffen. Steven schlug vor, wenigstens so zu tun, als habe man die weite Reise einvernehmlich hinter sich gebracht.
Kate war dermaßen erschöpft, dass sie nur schwach nickte. Sie zurrte ihr Cape vor der Brust zusammen, denn es wehte ein eisiger Wind. Lange Jahre hatte sie sich nach einer echten Abkühlung gesehnt, doch nun fröstelte sie in ihrer weißen Bluse und ihrem bequemen Glockenrock aus dünnem Stoff, einer Kleidung, die in diesen Breiten offensichtlich nicht angemessen war. Sie hatte auf Samoa in der Zeitung gelesen, dass die Damen hier sogar Jacketts trugen; das würde wohl eine ihrer ersten Anschaffungen werden.
Als die Kutsche endlich eintraf, sprang eine junge dunkelhaarige Frau stürmisch heraus und fiel Steven um den Hals. Kaum hatte sie ihn losgelassen, musterte sie Kate wissend. »Sie müssen Bills Frau sein!«, rief sie und umarmte auch Kate herzlich. Sie wirkte sehr aufgeregt. »Ach, der Kleine!«, sagte sie nun und rannte zur Kutsche zurück. Als sie wieder erschien, hatte sie ein mürrisch dreinblickendes, blond gelocktes Kleinkind auf dem Arm.
»Na warst du auch brav?«, fragte Steven den Kleinen, ohne ihn zu berühren.
Kate stockte der Atem. Wenn das sein Sohn war, wieso riss er ihn nicht an die Brust und herzte ihn?
Der kleine Junge, den Kate auf höchstens drei Jahre schätzte, gab keinen Laut von sich, sondern sah nur aufmerksam von seinem Vater zu Kate.
»Ach, verzeihen Sie, ich habe mich ja gar nicht vorgestellt. Ich bin Nora Varell, die kleine Schwester von Bill. Deine Schwägerin«, erklärte die junge Frau jetzt. »Aber nun kommt doch bitte, Vater kann es schon gar nicht mehr erwarten.«
»Wie rührend! Er sehnt sich sicher unendlich nach mir«, bemerkte Steven spitz, doch seine Schwester rief nur: »Ach, Steven!«
Mit dem Kind auf dem Arm stieg Nora zurück in die Kutsche. Als das Gepäck verstaut war und der Wagen sich in Bewegung setzte, sprudelten die Worte nur so aus Noras Mund. »Oh, du bist ja noch hübscher, als Bill es in seinem Brief geschildert hat. Wir waren so gespannt. Eine Schottin! Was meinst du, wie Vater sich gefreut hat. Wie war die Reise? Sag mal, stimmt es, dass auf Samoa die Menschen ...« Sie hielt sich kichernd die Hand vor den Mund, bevor sie fortfuhr. »... Ich meine, dass sie nackt herumlaufen? Also, ich finde das alles wahnsinnig aufregend ...«
»Nora! Halt doch einfach mal dein Plappermaul!«, unterbrach Steven seine Schwester herablassend.
Nora lief rot an und senkte den Kopf.
»Nein, sie sind nicht nackt«, erklärte Kate freundlich. »Sie tragen den Lava-Lava, einen Männerrock, und auch den Oberkörper bedecken sie zunehmend, seit sie Kolonialherren haben. Selbst die schönen, muskulösen braunhäutigen Männer.« Letzteres war an die Adresse ihres ungehobelten Schwagers gerichtet, aber Steven zog nur verächtlich eine Braue hoch.
»Ach, das ist alles furchtbar aufregend. Wie hast du meinen Bruder kennengelernt?« Steven wollte etwas sagen, aber Kate kam ihm zuvor. »Ich wollte den Colonel sprechen, doch stattdessen war dein Bruder dort, und da habe ich mich auf den ersten Blick in ihn verliebt.«
Nora verdrehte verzückt die Augen. »Wie romantisch!«, seufzte sie.
Aus den Augenwinkeln beobachtete Kate das kleine blonde Kind. Es saß ganz still auf dem Schoß seiner Tante. Ein merkwürdiger Junge, dachte Kate, und noch befremdlicher fand sie Stevens Verhalten, der seinen Sohn gar nicht beachtete. »Wie heißt du denn?«
Der Kleine musterte sie stumm aus zusammengekniffenen Augen.
»Er heißt Walter, aber er ist sehr schüchtern. Komm, gib der Tante mal die Hand!« Mit diesen Worten nahm Nora die Hand des Kindes und streckte sie Kate entgegen.
Kate nahm das Händchen und sagte freundlich: »Ich bin Tante Kate!«
Der Junge zog seine Hand jedoch blitzschnell zurück und wandte sich abrupt ab.
»Na, wenigstens lässt er sich nicht von der Tante betören!«, ließ Steven bissig verlauten.
Nora sah verwirrt von ihrem Bruder zu Kate.
Keiner sprach mehr ein Wort, bis der Wagen endlich hielt.
Als Kate ausstieg, hatte der Regen aufgehört. Sogar ein paar Sonnenstrahlen fanden ihren Weg durch die Wolken, und am Horizont erhob sich ein Regenbogen. Wenn das kein gutes Omen ist!, ging es ihr durch den Kopf. Vor ihr lag ein großes Farmhaus, das fast wie ein kleines Schloss gebaut war, eingebettet in sattgrüne Wiesen, soweit das Auge reichte. Überall weideten Schafe. Unweit vom Haus stand eine riesige Scheune. Kate sog die frische Luft tief in die Lungen ein. Sie war frisch wie ein Gebirgsbach. Unverbraucht und keine Spur schwül. Ja, das war die Luft, die sie manchmal auf Samoa vermisst hatte. Und dieses Grün tat ihren Augen wohl. Dazu der köstliche Duft von Gras und Heu.
»Darf ich?«, fragte Steven scheinbar höflich und griff nach einer schweren Tasche, die Kate eigenhändig aus der Kutsche hieven wollte. Sie ließ ihn gewähren. Nora war bereits mit dem Kind an der Hand vorgelaufen.
»Ist das wirklich dein Junge?« Kate konnte ihre Neugier nicht länger zügeln.
»Was dagegen?«, erwiderte er abweisend.
»Nein, es ist nur seltsam, dass du ihm so gar keine, verzeih mir, aber mir fällt nichts anderes ein, keine Liebe gibst. Sie zumindest nicht zeigst, denn lieben wirst du ihn ja.«
»Wie kommst du denn darauf, dass ich ihn liebe?« Stevens Ton klang provozierend.
»Weil jeder Vater seine Kinder liebt!«
»Dann bin ich wohl die Ausnahme!«, war die schroffe Antwort. Leiser fuhr er fort: »Ich habe seine Mutter nie geliebt und sie nur deshalb geheiratet, weil sie das Kind erwartete. Also, nenn mir einen einzigen Grund, warum ich diesen Bengel lieben sollte!«
Kate wusste nicht, ob er sie nur provozieren wollte oder diese grausamen Worte wirklich ernst meinte. Zuzutrauen wäre ihm beides, dachte sie.
»Und wenn es wirklich so wäre, warum willst du das Kind dann mit nach Samoa nehmen und nicht hier bei deiner Familie lassen, wo es Liebe erfährt?«
Steven lachte trocken. »Das würde ich liebend gern tun, aber mein Vater verlangt, dass ich mein Kind mitschleppe. Mein Bruder hat dir offenbar nicht alles erzählt. Vater will auch mein Kind nicht um sich haben. Er hätte mir Geld gegeben, damit ich in den Norden gehe, aber da kam ja der gute Bill auf die glorreiche Idee, aus mir einen Koprabauern und Kakaopflanzer zu machen. Er hat sogar etwas von seinem Vermögen beigesteuert, damit ich ja weit genug wegkomme von meiner Familie.«
»Das ist nicht wahr!«, widersprach Kate heftig. »Er will dir nur helfen. Das weißt du ganz genau! Hör endlich auf, dich selbst zu bemitleiden! Du verletzt in einem fort andere Menschen und wunderst dich darüber, dass sie dich nicht mögen.«
»Ach, was weißt du schon!«, schnaubte er verächtlich und zischelte: »Und jetzt kein Wort mehr darüber, wenn wir die ›heiligen Hallen‹ betreten.«
Die Haustür stand offen, und Steven bat sie schroff, ihr zu folgen. Beschämt betrachtete Kate ihre nagelneuen Knöpfstiefel, die sie sich eigens für die Reise gekauft hatte und die vollkommen verschmutzt waren, weil sie in eine Pfütze getreten war.
Der Eingangsbereich des Hauses wirkte düster und überladen. Vielleicht liegt es an den dunklen Holzvertäfelungen, überlegte Kate. Als sie hinter Steven die Treppe hinaufstieg, erhaschte sie einen Blick auf eine dunkle Anrichte im Flur, die voller Nippes stand. Nichts als Staubfänger, dachte Kate, denn auf Samoa war die Einrichtung zweckmäßig, aber niemals überladen gewesen. Im ersten Stock war es nicht viel besser, aber als sie um eine Ecke gingen, wurde es mit einem Mal lichter.
»Das ist Bills Reich!«, erklärte Steven und stellte ihre Tasche im Flur ab. »Diese Zimmer bewohnt er allein. Salon, Schlaf-, Ess- und Kinderzimmer. Vater hat alles schon so einrichten lassen, dass mein lieber Bruder hier mit seiner Familie leben kann. In einer halben Stunde wird gegessen. In diesem Hause wird immer pünktlich gegessen. Vater wird dich im großen Esszimmer erwarten. Ich würde mich allerdings vorher umziehen. Er ist da sehr eigen.« Mit diesen Worten entfernte Steven sich eilig.
Kate wollte gerade die Tür zum ersten Zimmer öffnen, als sie hinter sich ein Hüsteln hörte. Erschrocken drehte sie sich um. Es war Nora, die sie aufgeregt fragte, ob sie ihr etwas helfen könne.
»Ja, du kannst mir sagen, ob es stimmt, dass wir gleich essen und dass ich mich dazu umziehen sollte.«
»Ich habe gehört, was er gesagt hat. Es stimmt, aber du solltest dich nicht über seinen Ton ärgern. Seit Nellys Tod ist es noch schlimmer geworden. Jeden fährt er an, jeden bis auf unseren Vater. Doch nun folge mir, ich zeige dir alles! Das hier ist euer Esszimmer!«
Nora öffnete eine Tür, und Kate hatte das Gefühl, in eine völlig andere Welt einzutauchen. Ein schlichter heller Esstisch mit geschmackvollen Stühlen, eine Anrichte voller Geschirr, auf der jedoch nichts Unnützes herumstand. Dieser Raum war erfreulich einfach und doch stilvoll eingerichtet, ganz nach Kates Geschmack. Außerdem besaß er ein großes Fenster, durch das man einen Blick auf die unendliche grüne Weite hatte.
Auch der Schlafraum und der Salon begeisterten Kate. Als sie die Kinderzimmertür öffnete, wich sie allerdings zurück. Es gab ein Kinderbettchen, ein Schaukelpferd und jede Menge Spielzeug. Das wirkte gespenstisch.
»Das sind die Sachen, mit denen Bill als Kind gespielt hat!«, erklärte Nora beinahe entschuldigend.
Kate war erleichtert. Das erklärte alles.
»Du solltest dich jetzt schnell umziehen. Vater wartet nicht gern. Er kann es kaum erwarten, dich kennenzulernen. Du musst wissen, Bill ist sein Liebling. Von den Jungs jedenfalls. Wir Mädchen zählen nicht. Wir haben es nie anders kennengelernt. Meine Schwester leidet schon ihr ganzes Leben lang darunter, obwohl sie längst verheiratet ist. Aber mir macht das nichts aus. Na ja, ich war auch immer die Kleine, und der alte Brummbär hat mich ihr vorgezogen. Ich bin gerade erst vor einem Jahr ausgezogen. Mein Mann konnte leider nicht zu deinem Empfang da sein, aber du wirst ihn kennenlernen, sobald du uns besuchst ...«
Es klopfte. Ein dunkelhäutiger junger Mann trat ein und fragte, wo er ihren Kleiderkoffer abstellen solle.
»Vielen Dank! Bringen Sie ihn bitte ins Schlafzimmer!«, sagte sie freundlich. »Alles Weitere solltest du mir unbedingt später erzählen, Nora. Ich muss schauen, was ich auf die Schnelle zum Anziehen finde.«
Nora folgte ihr. Mit ihrer Hilfe wuchtete Kate den Koffer aufs Bett, um darin nach einem passenden Kleid zu suchen. Sie entschied sich für eine Seidenrobe in Rosa und fragte zur Sicherheit die Schwägerin, was sie davon hielt.
»Das ist wirklich wunderschön!«, rief Nora aus, raffte die Röcke ihres resedagrünen Kleides, mahnte noch einmal zur Eile und ging in den Salon.
Kate schälte sich hastig aus ihrer Reisekleidung und tauschte sie gegen das Seidenkleid aus. Schließlich fuhr sie sich noch einmal flüchtig mit der Hand durch das zerzauste Haar, denn Zeit für große Toilette blieb ihr nicht mehr. Sie folgte ihrer Schwägerin mit gemischten Gefühlen. Sobald sie Bills Reich verlassen hatten, beschlich sie der Eindruck, dass hier die Zeit stehen geblieben war. Auf den üppig verzierten dunklen Möbeln lastete eine Schwere, die ihr auf das Gemüt drückte.
»Wer hat das Haus eingerichtet?«, fragte Kate leise.
»In diesem Teil hat früher mein Großvater gelebt. Und der hat nach dem Tod seiner Frau all ihre Möbel hinausgeworfen und wahllos neue gekauft, aber er hatte nicht das Händchen, Häuser wohnlich zu gestalten wie unsere Großmutter.« Nora flüsterte, während sie die Treppe hinunterstiegen. Plötzlich fiel Kate ein, dass Bill einmal gesagt hatte: »Über die Großmutter darf in unserem Hause nicht gesprochen werden.«
»Sag mal, Nora, was hat deine Großmutter verbrochen, dass man sie nicht erwähnen darf?«, wollte Kate wissen.
»Die Frage wird in diesem Hause nicht geduldet!«, schnarrte eine tiefe Stimme hinter ihnen.
Erschrocken fuhr Kate herum. Sie sah in die vor Zorn funkelnden braunen Augen eines stattlichen Mannes mit weißem Haar.
Ohne ihr die Hand zu reichen oder sie anders zu begrüßen, zischelte er: »Hören Sie, Miss McDowell, über meine Mutter wird im Hause McLean nicht gesprochen. Haben Sie verstanden? Tun Sie das nie wieder! Hier gelten meine Gesetze. Und jetzt lassen Sie uns essen.«
Sie spürte, wie kalte Wut über sein Benehmen in ihr emporkroch. Obwohl ihr Bills mahnende Worte noch in den Ohren klangen, hörte sie sich spitz sagen: »Darf ich annehmen, dass Sie der Vater meines Mannes sind? Dann darf ich mich vielleicht vorstellen. Kate McLean, Ihre Schwiegertochter!« Damit streckte sie ihm die Hand entgegen, die er ignorierte. Im Gegenteil, er drückte sich an ihr vorbei und verschwand wortlos.
»Oje«, seufzte Nora. »Das war kein guter Einstand.«
»Das finde ich auch. Er hätte sich wirklich besser benehmen können«, erwiderte Kate, und es tat ihr kein bisschen leid, dass ihr Mundwerk ihren Gedanken wieder einmal vorausgeeilt war. Dieser Mann war äußerst unhöflich, und das würde sie nicht klaglos hinnehmen. Ach, Bill, wenn du bloß schon hier wärest!, dachte sie wehmütig.
Aber da flüsterte Nora ängstlich: »Du solltest dich bei ihm entschuldigen. Er kann Widerworte nicht leiden, schon gar nicht von Frauen!«
»Dann wird er es eben lernen müssen«, erwiderte Kate erbost. Bill hatte sie gewarnt, dass ihr Vater altmodische Ansichten vertrat. Gut, denen hätte sie auch nicht unbedingt widersprochen, aber dass er sie nicht einmal begrüßte und bei ihrem Mädchennamen nannte, obwohl er wusste, dass sie Bills Frau war, das durfte sie sich nicht gefallen lassen.
»Ich wollte es auch nur gesagt haben«, erklärte Nora kleinlaut und öffnete die Tür zum Speisezimmer.
»Hier ist Ihr Platz!«, knurrte der Alte, deutete auf den Stuhl neben sich und fügte mit erhobener Stimme hinzu: »Wir legen Wert auf Pünktlichkeit. Miss McDowell.«
Kate holte tief Luft. Sie wollte nicht antworten, aber die Worte standen bereits im Raum: »Mister McLean, ich sagte Ihnen bereits auf der Treppe, dass ich die Ehefrau Ihres Sohnes bin und schon seit über einem Monat den Namen McLean trage, auch wenn es Ihnen nicht passt.«
Damit setzte sie sich und ließ den Blick schweifen. Außer ihr und Bills Vater saßen vier Personen am Tisch, die sie allesamt mit offenem Mund anstarrten. Die Frau, die sie nun verbissen musterte, schien Bills andere Schwester zu sein, der wohlbeleibte Mann an ihrer Seite der Ehemann.
»Sie werden erst dann meine Schwiegertochter sein, wenn Sie in der Presbyterianischen Kirche getraut worden sind. Merken Sie sich das! Und jetzt lassen Sie uns beten.«
Kate spürte, wie ihre Wangen vor Zorn erröteten, doch sie zwang sich, den Mund zu halten, und faltete wie alle anderen am Tisch die Hände zum Gebet. Sie beschloss zu schweigen, solange sie keiner etwas fragte. Wahrscheinlich spricht ohnehin keiner, ohne dass der Alte seine Erlaubnis dazu erteilt, dachte Kate und konzentrierte sich auf das Essen.
Die Tafel war prächtig gedeckt, und es gab ein üppiges Mahl, das von zwei Hausmädchen stilgerecht serviert wurde. Geld scheint in dieser Familie nicht das Problem zu sein, mutmaßte Kate, als Bills Vater in schneidendem Ton fragte: »Und wann wirst du uns endgültig verlassen?« Das ging an Stevens Adresse.
Der wurde zu Kates Überraschung ganz blass. »Ich habe noch keine Passage gebucht, ich ...«
»Dann wird es höchste Zeit, dass du dich darum kümmerst.« Der barsche Ton ließ Kate zusammenfahren. Er kanzelt ihn ab wie einen dummen Schuljungen, dachte sie ungläubig. Und Steven, der zynische, stets Überlegenheit mimende Steven, begehrt keineswegs dagegen auf, im Gegenteil, er hat den Kopf so demütig gesenkt, dass er fast in der Suppe landet! Kate konnte es kaum fassen.
»Ja, Vater, ich werde mich darum kümmern!«, sagte er unterwürfig.
Obwohl Kate kein Fünkchen Sympathie für ihren Schwager hegte, empfand sie plötzlich Mitleid mit ihm. Und sie fragte sich, woher Bill sein sonniges Gemüt haben mochte, obwohl er ebenfalls unter der Fuchtel dieses Mannes aufgewachsen war. Bill hatte ihr einmal auf der Veranda in Apia gesagt, sein Vater bevorzuge den falschen Sohn. Steven sehe zwar aus wie seine Großmutter, Bill aber komme im Wesen ganz nach ihr. Das jedenfalls habe ihm einst unter Tränen ein altes Kindermädchen gebeichtet, das Melanie noch gekannt hatte. An dem Tag hatte Bill auch zum ersten Mal den Namen seiner Großmutter gehört. Melanie! Kate wünschte sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als bei Bill in Apia zu sein.
»Ihre Familie stammt also aus Schottland?«, fragte ihr Schwiegervater nun griesgrämig.
Kate nahm sich vor, freundlich zu antworten. Bill zuliebe wollte sie sich nicht gleich am ersten Abend sämtliche Sympathien seines Vaters verscherzen. »Die McDowells, der väterliche Teil meiner Familie, stammt ursprünglich aus Schottland. Sie haben sich mit den ersten Siedlern hier niedergelassen. Mein Großvater John war Anwalt und Politiker, mein Vater Anwalt. Er ist früh verstorben ...«
»Ich sehe das zwar auch so, dass die väterliche Linie die entscheidende ist«, unterbrach er sie lauernd, »trotzdem wüsste ich gern: Woher stammt denn der andere Teil? Da Sie auf Samoa gelebt haben, könnte man auf den dummen Gedanken kommen, Sie hätten deutsche Wurzeln.«
»Hat Ihr Sohn Ihnen denn gar nichts erzählt?« Kate war sichtlich erstaunt.
»In meinem Haus stelle ich die Fragen. Also, sagen Sie nicht, dass Sie Deutsche sind.«
»Nein, ich bin Neuseeländerin, aber meine Großmutter stammt aus Deutschland«, erklärte sie mit fester Stimme. Plötzlich fielen ihr die mahnenden Worte von Doktor Wohlrabe ein. In Neuseeland könnte man in Ihnen eine Deutsche sehen. Eine Feindin!
»Ihre Großmutter interessiert mich nicht. Woher kam Ihr Großvater?«
Kate biss sich auf die Lippen. Wenn er nicht gleich damit aufhört, werde ich ihn einen »dummen Schafzüchter« nennen, aber sie atmete stattdessen tief durch und schluckte die Bemerkung herunter. »Mein Großvater kam auch aus Deutschland, aber den habe ich gar nicht kennengelernt, weil er meine Großmutter lange vor meiner Geburt verlassen hat. Reicht ihnen das?« Kate wusste genau, dass sie sich die letzte Bemerkung lieber hätte verkneifen sollen, aber die war ihr schneller herausgerutscht, als ihr Verstand denken konnte.
»Was hat Ihre Großmutter verbrochen, dass er weggegangen ist?«, fragte Bills Vater in inquisitorischem Ton.
»Gar nichts. Er hat sie einfach verlassen. Außerdem möchte ich nicht darüber reden. Sie wollen doch schließlich auch nicht, dass über Ihre Mutter gesprochen wird.«
Der alte Mann wurde leichenblass. Er schnappte nach Luft, bevor er brüllte: »Dies ist mein Haus, und ich kann Ihnen nur raten, Ihr ungewaschenes Mundwerk zu zügeln. Sie sind nicht nur viel zu alt für meinen Sohn, sondern auch viel zu frech. Sind Sie überhaupt noch in der Lage, Kinder zu gebären? In ihrem Alter sind andere schon Großmütter.« Letzteres spuckte er verächtlich aus.
Kate zog es vor zu schweigen. Es hatte keinen Zweck, sich mit diesem furchtbaren Menschen anzulegen. Aber eines war ihr sonnenklar: Niemals würde sie ihr Leben mit diesem Mann unter einem Dach verbringen. Nicht auszudenken, eines ihrer Kinder würde einmal Bills Großmutter Melanie ähneln. Nein, in dieser vor Hass vibrierenden Atmosphäre sollten sie nicht aufwachsen. Niemals würde sie an einem Ort bleiben, an dem sie sich schon jetzt wie lebendig begraben fühlte. Sie hob den Kopf und sah prüfend in die Runde. Alle blickten verlegen zur Seite. Bis auf Steven, dessen Gesicht zugleich Triumph und Bewunderung spiegelte.
»Ich brauche endlich einen Erben«, knurrte der alte McLean, bevor er Kate verächtlich musterte.
»Warum? Sie haben doch schon den kleinen Walter!«, entgegnete sie und erkannte an der wutverzerrten Miene ihres Schwiegervaters, dass sie noch einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte.
Dieses Mal brüllte er nicht laut los, sondern zischelte für alle hörbar: »Bill hätte die anständigsten Mädchen haben können. Was ist nur in ihn gefahren?«
Kate warf Steven einen ermutigenden Blick zu, aber der hielt den Kopf wieder gesenkt. Warum begehrt er nicht auf, wenn sein Vater vor der ganzen Familie kundtut, dass sein Sohn Walter nicht zählt?, überlegte Kate. Ich muss unbedingt Bill danach fragen. Oh Bill! Wie ich dich vermisse!
»Kinder, nun lasst uns unsere Schwägerin doch erst einmal willkommen heißen!«, flötete Nora vom anderen Ende der Tafel. »Du bist also wirklich aus Dunedin? Was hältst du davon, wenn du mich morgen in der Princes Street besuchst?«
»Sehr gern!« Kate lächelte. »Ich bin nämlich in der Princes Street aufgewachsen, bei meiner Großmutter. Ihr Garten war wunderschön. Im hinteren Teil wuchsen immergrüne Büsche, und unsere gute Paula pflegte immer bedauernd zu sagen: ›Dort stand früher ein Eisenbaum, der seine roten Blüten stets zu Weihnachten trieb.‹«
Nora strahlte über das ganze Gesicht. »Oh, das wäre mein Traum. Ein Rata im Garten! Dann würde ich den ganzen Dezember über auf unseren Korbstühlen sitzen und ihn bewundern.«
»Korbstühle? Meine Großmutter ohne einen Korbsessel, das war gar nicht denkbar. Ich sehe sie noch im Garten sitzen und meine Freunde und mich ermahnen, nicht über die Stränge zu schlagen.« Kate vergaß vor Begeisterung, Vorsicht vor dem grimmigen alten Mann walten zu lassen, und erzählte nun strahlend: »An was ich mich noch erinnere, ist der große Salon. Darin hätte man tanzen können, aber bei meiner Großmutter gab es keine Tanzfeste. Nur an meinen Geburtstagen war immer Leben im Haus. Bis zu meinem zwölften Geburtstag. Da kamen diese Männer, die uns das Haus weggenommen haben, wie mir unsere treue Paula damals erzählte.«
»Das ist ja schrecklich, aber auf Samoa war es doch bestimmt auch -«, erwiderte Nora, aber ihr Vater unterbrach sie barsch.
»Schweigt! Alle beide!« Dann wandte er sich mit hasserfülltem Gesicht an Kate. »Ich möchte nur eines klarstellen: Bevor mein Sohn nicht hier ist und ich mit ihm unter vier Augen gesprochen habe, werde ich Sie, Miss McDowell, nicht als meine Schwiegertochter akzeptieren. Sie sind von der Verpflichtung des Familienessens entbunden. Ich wünsche Sie nicht mehr bei Tisch zu sehen, Sie bekommen das Essen oben serviert. Ich verabschiede mich für heute. Guten Appetit.«
Mit diesen Worten verließ er hocherhobenen Hauptes das Zimmer. Alle Augen waren auf Kate gerichtet.
»Du hast doch gehört, was mein Vater gesagt hat«, erklärte Steven mit eisiger Miene.
Sie war fassungslos. Wollte ihr Schwiegervater seinen Sohn davon überzeugen, sich von ihr scheiden zu lassen? Absurder Gedanke!, dachte sie, denn Bill würde sie niemals im Stich lassen. Ihre Liebe war größer als die Macht seines Vaters. Dafür würde sie ihre Hand ins Feuer legen. Vielleicht würde er Bill nun enterben und alles Steven vermachen. Kate lächelte in sich hinein. Dann gehe ich mit Bill eben nach Apia zurück, denn in diesem Augenblick sehnte sie sich mit jeder Faser ihrer Seele in das Paradies zurück.
»Kate, würdest du dich bitte in deine Räume begeben!«, bellte Steven.
»Du musst nicht Vaters Soldat spielen!«, mischte sich Nora ein »Wenn sie geht, gehe ich mit nach oben und nehme meinen Kaffee dort ein!« Sie sprang auf, nahm Kates Hand und zog sie vom Stuhl. Bills andere Schwester, deren Namen Kate nicht einmal kannte, funkelte sie giftig an, und ihr beleibter Ehemann musterte sie herablassend. Sie gaben Kate die Gewissheit, dass ihre Anwesenheit bei Tisch nicht länger erwünscht war.
»Was hat sich Bill nur dabei gedacht? Eine Hunnin?«, hörte Kate eine bissige Frauenstimme hinter sich herkeifen, bevor sie das Zimmer verließen.
»Das war meine Schwester Jane, die seit ihrer Kindheit um Vaters Liebe buhlt. Sie begreift einfach nicht, dass Frauen für ihn nichts wert sind«, raunte Nora.
Im Esszimmer in der oberen Etage plauderte Kate noch eine Weile mit ihrer Schwägerin, doch dann machte sich eine bleierne Müdigkeit in ihren Gliedern bemerkbar.
»Ich habe keine Ahnung, was in ihn gefahren ist«, erklärte Nora zum Abschied entschuldigend. »Wo er sich doch so auf dich gefreut hat!«
Kate zuckte mit den Achseln und erwiderte leise: »Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass hier im Hause ein Tyrann herrscht. Ich habe immer nur mit Frauen zusammengelebt und war nach Großmutters Tod meine eigene Herrin. Ich bin nicht geübt im Umgang mit Männern, die sich über Frauen erheben. Da prallen zwei Welten aufeinander.«
»Das glaube ich dir gern, aber ich befürchte, es steckt noch etwas anderes dahinter. Er war zwar bereits bei eurem Zusammenstoß auf der Treppe unausstehlich, aber erst als wir über das Haus in der Princes Street sprachen, sind ihm regelrecht die Nerven durchgegangen.«
»Ich weiß nicht!« Kate kämpfte tapfer dagegen an, dass ihr die Augen zufielen.
»Ich freue mich, dich morgen bei uns zu sehen«, sagte Nora und umarmte sie noch einmal herzlich.
Kates letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt Bill und der erfreulichen Tatsache, dass wenigstens zwischen ihm und seiner Schwester Nora eine gewisse Ähnlichkeit im Wesen bestand. Über alles andere würde sie morgen nachdenken.
Nora hatte Kate am nächsten Morgen eine Kutsche geschickt, in die sie nun hastig einstieg. Wie gern hätte sie die Farm besichtigt, aber die Gefahr, ihrem Schwiegervater über den Weg zu laufen, war zu groß. Sie hatte keinen Bissen herunterbekommen, obwohl ein Mädchen ihr ein Frühstück gebracht hatte.
Als Kate aus dem Wagen sprang und das Haus in der Princes Street sah, stieg eine Ahnung in ihr auf. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als Nora sie in die Diele zog. Die Erinnerungen überkamen sie nun mit aller Macht. Hier hatte sie ihre Kindheit verbracht! »Aber das ist ja das Haus meiner Großmutter!«, brachte sie heiser hervor.