Dunedin, 28. Dezember 2007

 

Das Büro des Detektivs befand sich in der Malvern Street. Sophie spürte ihre Müdigkeit, als sie den Klingelknopf drückte. Sie hatte in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan und würde wohl immer noch lesen, wenn sie den Besuch bei Wilson nicht noch im alten Jahr hätte erledigen wollen.

Ein untersetzter Mann mit Glatze und einem beachtlichen Bauch, den er durch ein viel zu buntes Hawaii-Hemd zu kaschieren suchte, empfing sie.

»Mein Name ist Sophie de Jong. Ich muss einfach erfahren, was meiner Mutter passiert ist, bevor ich zurück nach Deutschland fliege.«

»Eine schreckliche Geschichte, dieser Unfall! Mein herzliches Beileid«, murmelte er, während er sie eindringlich musterte. »Wie schön, dass Sie mich aufsuchen. Ihre Mutter hat nämlich ... Nun, Ihre Mutter hat meine Rechnung nicht mehr begleichen können.«

Soll ich das Büro dieses unverschämten Kerls gleich wieder verlassen oder seine Pietätlosigkeit einfach ignorieren?, fragte sich Sophie, doch ihre Neugierde siegte. »Wären Sie vielleicht so freundlich, mir zu schildern, woher Sie meine Mutter kennen und was Sie gesehen haben?«, fragte sie betont höflich.

»Gern!« Wilson lehnte sich in seinem Schreibtischsessel bequem zurück und ließ Sophie nicht aus den Augen. »Sie war an dem Tag, an dem sie verunglückte, bei mir und bat mich, einen Mann ausfindig zu machen.«

Sophie spürte, dass ihr Herz schneller klopfte. »Hieß der Mann vielleicht Thomas Holden?«

Wilson kramte in seinen Zetteln herum, von denen der Schreibtisch nahezu vollständig übersät war. »Das haben wir gleich«, murmelte er und wühlte weiter, bis er einen davon triumphierend hervorzog und wie eine Trophäe hochhielt.

»Genau. Thomas Holden!«

»Und haben Sie ihn gefunden?«, fragte Sophie ungeduldig.

»Gefunden? Wie denn? Ihre Mutter hat mir doch nur diesen Namen genannt, und als ich genauere Hinweise wollte, hat sie mich gebeten, sie in ihr Strandhaus nach Tomahawk zu begleiten. Ich habe erst gar nicht gewusst, von welchem Ort sie spricht, bis mir einfiel, dass Ocean Grove mal so geheißen hat. Dort habe sie alle Unterlagen, die mir bei der Suche nach diesem Mann Anhaltspunkte liefern würden.«

»Aber warum hatte sie die nicht dabei?«, fragte Sophie aufgeregt. Sie fühlte sich ihrer Mutter so nahe.

»Das habe ich sie auch gefragt, aber sie hat mir erzählt, dass sie es zunächst allein versucht habe, diesen Herrn ausfindig zu machen. Vergeblich! Und nun sei sie zufällig hier vorbeigekommen und habe mein Schild gesehen.«

»Und was für einen Eindruck machte sie?«

»Sie wirkte sehr nervös. Als sei jemand hinter ihr her. Sie hat schnell und hastig gesprochen und gemutmaßt, dass der Mann inzwischen einen anderen Namen angenommen hat. Und dann hat sie mich gebeten, sofort mit ihr zu diesem Strandhaus zu fahren. Dort, so erklärte sie mir, seien alle Unterlagen, die ich eventuell benötigen würde. Sie hat mich mehrmals gedrängt, ich solle mich beeilen, weil sie nicht mehr viel Zeit habe.«

»Das hat sie wirklich gesagt?« Sophie war tief erschrocken.

»Ja, wortwörtlich. Ich habe erst gezögert, den Fall überhaupt anzunehmen, weil mir die Sache irgendwie merkwürdig vorkam, aber dann hat sie mich doch überzeugt. Sie hat mir fünfhundert Dollar geboten. Davon wollte sie mir im Strandhaus eine Anzahlung geben, aber da sind wir ja nie angekommen, und ich hatte schließlich die Fahrtkosten dorthin ...«

»Und dann?«, fragte Sophie atemlos.

»Dann sind wir runter zum Parkplatz, und sie hat mich gebeten, ihr zu folgen. Das habe ich auch getan bis ...« Er seufzte tief, bevor er zögernd fortfuhr: »Bis zur Tahuna Road, kurz vor dem Ort. Ich bin in einigem Abstand hinter ihr hergefahren. Die Straße war ziemlich leer. Ich wollte nicht an ihrer Stoßstange kleben, weil sie so komisch gefahren ist. Ja, und dann hat sie plötzlich gebremst, der Wagen ist ins Schleudern geraten und von der Straße abgekommen. Er ist auf einer Wiese gegen einen Zaunpfahl geprallt und gleich in Flammen aufgegangen. Ich habe als Erstes die Polizei angerufen. Es war sofort klar, dass da nichts zu machen war. Die Kiste brannte lichterloh. Vermutlich ist der Benzintank beim Aufprall aufgerissen.«

»Nach Aussage der Polizei hat sie für einen Hund gebremst. Haben Sie den gesehen?«

Der Detektiv schüttelte mit dem Kopf. »Keine Ahnung, warum sie gebremst hat. Das mit dem Hund hat man aus der Tatsache geschlossen, dass an der Unfallstelle ein totgefahrener Huntaway lag.«

»Was ist ein Huntaway?«

»Das ist ein Hütehund, der das Vieh auf den Koppeln zusammentreibt. Keine edle Rasse, sondern ein Arbeitstier, wie Sie es auf jeder Schafsfarm finden. Ähnelt bis auf die Schlappohren einem Schäferhund. Kein Viech, für das ich bremsen würde.«

Warum hatte ihre Mutter für so ein Tier ihr Leben riskiert? Sophie unterdrückte krampfhaft die Tränen. Sie wollte nicht im Büro dieses unsympathischen Kerls ihre Gefühle ausbreiten. Sie wollte Gewissheit. Deshalb holte sie das Foto ihrer Mutter hervor, das sie stets in der Brieftasche trug, und reichte es ihm.

Er betrachtete es schweigend und runzelte die Stirn.

Sophies Herz klopfte zum Zerbersten. »Ist sie das?«, fragte sie mit bebender Stimme.

Der Mann schwieg und stierte auf das Bild.

Wenn er meine Frage verneint, ist der Albtraum zu Ende, durchfuhr es Sophie. Was würde ich darum geben, wenn ich Emma fragen könnte: Was hast du dir bloß dabei gedacht? Sophie ließ den Detektiv nicht aus den Augen. Sie hoffte darauf, dass gleich die erlösenden Worte fallen würden: Sie ist es nicht! Das ist nicht Ihre Mutter. Ich kenne die Frau nicht!

»Was für eine aparte Frau sie doch gewesen ist!«

Das ernüchterte Sophie auf der Stelle. »Ist das die Frau, die bei Ihnen gewesen ist und der sie nach Ocean Grove gefolgt sind?«

»Ich glaube schon«, erwiderte er zögernd.

»Was heißt, Sie glauben?«

Der Mann räusperte sich verlegen. »Sehen Sie, diese Frau auf dem Foto ist überdurchschnittlich attraktiv, gepflegt und elegant, wenn Sie verstehen, was ich meine. Eine echte Lady eben!«

Sophie nickte ungeduldig. Natürlich. Emma war immer eine auffällig damenhafte Erscheinung gewesen.

»Tja, und die Frau, die mich aufgesucht hat, war ein völlig anderer Typ. Sie hatte lange graue Haare und trug ein Holzfällerhemd und Jeans; sie war eher so ein altersloses Naturmädchen.«

»Ein Naturmädchen?«, wiederholte Sophie ungläubig.

»Aber, wenn man davon mal absieht, ist sie es. Die Augen, der Mund.«

»Hat Sie Ihnen ihren Namen genannt?«

»Ja, sie hat sich als Emma McLean vorgestellt.«

»Emma McLean?« Sophie stand der Schock ins Gesicht geschrieben. »Das ist doch verrückt!«, widersprach sie energisch.

»Das habe ich auch gedacht, als ich mir dann ihren Pass angesehen habe«, bestätigte der Detektiv nun eifrig.

»Ihren Pass?«

Er stöhnte auf. »Die Lady bat, sich mal die Hände waschen zu dürfen, aber sie hat ihre Handtasche auf dem Stuhl stehen lassen. Und da sie mir in ihrem ganzen Auftreten etwas verdächtig vorkam und ich nicht ausschließen konnte, dass sie zu den geistig Verwirrten gehört, die unsereinen nicht selten mit irren Geschichten in Trapp halten und keinen Cent auf der Naht haben, ja, da habe ich vorsichtshalber in ihrer Brieftasche nachgesehen. Ich war doppelt überrascht. Sie hatte einen deutschen Pass bei sich, demzufolge sie Emma de Jong hieß. Darüber hinaus habe ich einen Presseausweis gefunden, der auf den Namen Emma Wortemann ausgestellt war. Eine Spionin?, habe ich mich gefragt. Egal, Hauptsache keine durchgeknallte Spinnerin! Sie hat mein Schnüffeln nicht bemerkt, denn ich hatte alles wieder in ihrer Handtasche verschwinden lassen, bevor sie zurückkehrte. Bin schließlich Profi!«

Sophie war bei seinen Worten in sich zusammengesunken. Keine Frage. Es war Emma gewesen! Sie sollte es endlich einsehen. »Und warum haben Sie meine Mutter für eine Spinnerin gehalten? Sie hat Ihnen doch gar nicht viel erzählt, sondern wollte Sie doch erst in Ocean Grove in alles einweihen, oder?«

»Weil sie wortwörtlich zu mir sagte: ›Sie müssen sich beeilen, den Mann zu suchen. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Sie sollen es wissen. Alle beide. Damit der Fluch, der mir meinen Mann genommen hat, nicht auch noch mein Kind nimmt.‹«

In diesem Augenblick war es wieder da. Jenes unbestimmte Angstgefühl, das sie schon auf dem Hinflug beschlichen hatte. Der Fluch und dieser Thomas Holden. Es musste einen Zusammenhang zwischen ihnen geben.

»Finden Sie diesen Mann. Bitte!«, flehte Sophie den Detektiv an und versprach: »Sobald ich mehr Informationen habe, gebe ich ihnen mehr, aber fangen Sie schon einmal an. Selbst, wenn er seinen Namen geändert hat, er müsste doch zu finden sein, oder?« Mit diesen Worten reichte sie Wilson zweihundert Neuseelanddollar und raunte: »Ist nur der Vorschuss! Bei Erfolg verdreifache ich den Preis, aber Sie müssen sich beeilen!« Mit weichen Knien verließ sie das Büro des Detektivs.

 

In einem Park suchte Sophie sich eine Bank im Schatten. Sie fühlte sich fast wie an einem Hochsommertag im Hamburger Stadtpark, nur die Palmen, die gab es dort nicht.

Ungeduldig holte sie Emmas Aufzeichnungen hervor und überflog sie fieberhaft nach dem Namen Holden. Keiner konnte von ihr verlangen, dass sie noch länger wartete. Doch so sehr sie auch danach suchte, er tauchte nirgendwo auf.

Dabei bemühte sich Sophie, nicht gegen den Willen ihrer Mutter zu handeln und etwas von ihrem Manuskript wirklich zu lesen. Das gelang ihr bis auf die allerletzte Seite. Dahinter waren merkwürdigerweise nur noch leere Blätter. An die hundert, schätzte Sophie. Die letzte beschriebene Seite war zu ihrer großen Verwunderung zu mehr als einem Drittel abgerissen. Ihr Blick blieb an dem übrig gebliebenen oberen Fetzen Papier hängen. Gebannt las sie: Es war reiner Zufall, dass Emma das Dokument fand. Sie hatte in Kates Schreibtisch nach einer Briefmarke gesucht. Und nun stand es dort schwarz auf weiß: Ihre Mutter war gar nicht im Jahr nach ihrer Geburt gestorben, sondern erst fünf Jahre später.

Sophie las den Satz wieder und wieder. Langsam dämmerte es ihr, warum sie den Namen Holden nicht finden konnte. Er gehörte zu Emmas Geschichte, und die gab es nicht. Jedenfalls nicht in diesen Aufzeichnungen. Aber warum hatte Emma dieses Manuskript ohne ihre eigene Geschichte in der Kanzlei abgegeben? Warum die leeren Seiten? Damit fehlte doch für sie, Emmas Tochter, das Wesentliche. Das erschien Sophie mehr als unwahrscheinlich! Ihr wurde eiskalt bei dem Gedanken, dass es diese Blätter bestimmt irgendwo gab, aber wo? Vielleicht hatte Emma geahnt, dass sie ungestüm vorpreschen würde auf der Suche nach dem Namen Holden und hatte sie davor schützen wollen, dabei die Geschichte ihrer Ahnen zu übergehen? Ob ich die Antwort in Pakeha finde?, fragte sich Sophie. Sie spürte, wie ihre innere Kälte sich in eine flammende Hitze verwandelte, als würde sie schon der Gedanke daran verbrennen.

Mit einem Mal wurde Sophie bewusst, was sie in derartige Aufregung versetzte: Sie war nicht nur auf der Suche nach Emmas Vergangenheit, sondern auch nach einem Teil von sich selbst. Natürlich konnte sie jetzt alles daransetzen, möglichst schnell den unbekannten Erben zu finden. Sie konnte sich aber auch die Zeit nehmen, die sie brauchte, um ihre eigenen Wurzeln auszugraben. Und die führten sie unweigerlich zu jenem Haus. Emma hat sich ganz sicher etwas dabei gedacht, mich dorthin zu locken!, dachte Sophie. Sie beschloss, gleich nach der Beerdigung in das Haus ihrer Mutter nach Ocean Grove zu fahren. Wenn ich Pakeha gesehen habe, kann ich bestimmt endlich nach Deutschland zurückkehren, sagte ihr der Verstand, während eine innere Stimme daran zweifelte.