Ocean Grove, Queenstown, 4. Januar 2008

 

Es war ein strahlend schöner Tag, an dem sich Judith und Sophie in aller Frühe nach Queenstown aufmachten.

»Wir werden an die vier Stunden brauchen«, sagte Judith.

Sie scheint auch nicht besonders gut geschlafen zu haben, stellte Sophie mit prüfendem Blick auf die Freundin fest. Judith hatte dunkle Ringe unter den rot geweinten Augen. Hoffentlich entpuppt sich das mit diesem Tom als Irrtum, dachte Sophie, aber im Grunde genommen glaubte sie nicht daran. Im Gegenteil, wenn er vielleicht auch nicht jener Holden ist, so ist er bestimmt der Kerl, der Emmas Lebensgeschichte gestohlen hat und der mich nun verfolgt, dachte sie.

Nach ein paar Meilen waren ihre finsteren Vermutungen jedoch wie weggeblasen. Der Anblick der sattgrünen Wiesen voller Schafe, der weiten Täler und Wälder ließ sie alles Schwere vergessen. Sophie hatte das Fenster leicht geöffnet und atmete die klare Luft ein, die hineinwehte. Pure Entspannung für ihre angeschlagenen Nerven!

Auch Judith schien dieser Ausflug gut zu tun. Sie begann leise zu singen, in einer fremdartigen Sprache. Sophie horchte auf, als sie mehrmals »Hine« verstand. Judith sang mit solch glockenheller, reiner Stimme, dass Sophies Augen feucht wurden. Sie wagte kaum zu atmen, weil sie die Freundin nicht unterbrechen wollte, die alle Strophen mehrmals wiederholte. Dabei entwickelte die schlichte Melodie zunehmend einen größeren Zauber.

Erst als Judith verstummt und das letzte »Hine« verklungen war, fragte Sophie die junge Anwältin, was sie denn da gesungen habe.

»Das ist ein Kinderlied in Waiata-Maori. Meine Großmutter hat es immer für mich gesungen.«

»Und worum geht es darin?«, fragte Sophie sichtlich gerührt.

»Das kleine Mädchen soll ruhig schlafen und nicht traurig sein. Weil genug Liebe für es da ist im Herzen seines Vaters. Das Lied hat eine Sängerin komponiert, die sich Princess Te Rangi Pai nannte. Ihre Mutter war eine Maori, ihr Vater ein Weißer. Sie hatte große Erfolge in England und auch in Australien, aber dann wurde sie krank und kehrte nach Neuseeland zurück. Nach dem Tod ihrer Mutter und ihres Bruders gab sie ihr Abschlusskonzert in Neuseeland und sang dieses Lied zum ersten Mal. Das war 1907.«

Sophie wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Gesicht. Nur nicht heulen!, redete sie sich gut zu. Wenn jemand bei dem Lied Grund zum Weinen hat, dann ist es Judith, die aber ganz gelöst dabei wirkte.

»Und ich meine, das Wort ›Hine‹ gehört zu haben. Was bedeutet das?«

»Das heißt Mädchen.«

»Judith, singst du es bitte noch mal? Es war so schön.«

Judith lächelte Sophie an und ermutigte sie, mitzumachen. »Es ist ganz einfach. E tangi ana koe, Hine e Hine, E nge nge ana koe, Hine e Hine. Komm mach mit! Los!«

Sophie fiel erst ganz zaghaft, dann voller Inbrunst ein, und schließlich sangen sie es gemeinsam.

 

Judith' Großmutter war außer sich vor Freude, ihre Enkelin zu sehen. Warmherzig versicherte sie Sophie, dass Judith' Freunde auch ihre eigenen seien. »Nennen Sie mich Liz!«, forderte sie Sophie auf. »Elizabeth ist zu lang. Und Grandma zu altmodisch. Das sagt nicht mal meine Kleine.« Dabei tätschelte sie Judith' Wange.

Sophie schätzte die alte Dame mit dem weißen Kraushaar und der gebräunten Haut auf weit über achtzig. Dennoch war sie eine überaus quirlige Person, die mit Händen und Füßen redete.

»Geht hinaus auf den Balkon, ich bestelle ein Essen für euch beim Zimmerservice. Ach, schön, dass ihr da seid! Setzt euch, setzt euch!« Damit schob die rundliche Liz ihre Besucherinnen nach draußen. Auf dem Balkon mit Blick auf den See stand eine Staffelei, davor ein Kasten mit Aquarellfarben.

Judith brach in schallendes Gelächter aus, als sie das Gekleckse auf dem Malblock näher betrachtete. »Du musst wissen, Großmutter versucht alles. Malen, töpfern, singen, sie besucht jede Menge Kurse. Großvater hat ihr genug Geld hinterlassen, und wenn sie es nicht spendet, bildet sie sich fort.«

»Was erzählst du da über deine Großmutter? Das ist doch ein wahres Kunstwerk. Finden Sie nicht?«, fragte Liz Sophie mit verschmitztem Gesichtsausdruck.

»Sag die Wahrheit! Liz durchschaut Schmeicheleien sowieso«, erklärte Judith lachend.

»Gut, Mädels, wenn ihr mein Aquarell nicht mögt, dann macht es besser.«

Mit diesen Worten drückte sie den beiden je ein Blatt von ihrem Zeichenblock in die Hand und forderte sie lachend auf, die malerische Aussicht über dem See einzufangen. Judith stöhnte genervt auf, aber Sophie legte das Blatt widerspruchslos vor sich auf einen Tisch und begann konzentriert zu malen. Sie war so in diese Tätigkeit versunken, dass sie nicht einmal merkte, dass der Zimmerservice das Essen brachte und Judith und ihre Großmutter sie beobachteten. Erst als ihre Szene fertig war, sah sie auf und blickte in verwunderte Gesichter.

»Du bist ja eine echte Künstlerin!«, rief Judith bewundernd aus.

»Nein, ich bin Kunstlehrerin«, wiegelte Sophie das Lob ab.

»Es ist ganz wunderbar! Viel besser als das, was hier manchmal den Touristen angedreht wird«, schwärmte Liz, woraufhin Sophie ihr das Aquarell sogleich schenkte.

»Kind, und womit kann ich mich erkenntlich zeigen?«

Sophie lächelte. »Es gibt vielleicht etwas, womit Sie mir eine Freude machen könnten.«

»Was immer Sie wollen!«, versprach Großmutter Liz und strahlte, während sie ihren Schatz vorsichtig nach drinnen trug.

»Liz? Ich interessiere mich für die Makutus, die Flüche der Maoris. Und mich interessiert Ihre Meinung zu einem Fall, der mich sehr bewegt.« Täuschte sich Sophie, oder blickte Judith' Großmutter sie nun forschend an?

»Wenn ich etwas dazu sagen kann, gern. Aber erst wollen wir mal essen.«

Mit diesen Worten bat sie die beiden jungen Frauen an den Esstisch. Es gab Lamm, und während Liz sich reichlich davon auf den Teller füllte, erklärte sie: »Ich bin wahrlich keine Expertin, aber ich versuche, Ihnen das weiterzugeben, was ich weiß. Also, schießen Sie los!«

Sophie überlegte kurz, ob sie vorgeben sollte, es handele sich um eine fremde Geschichte, doch sie entschloss sich, nicht um den heißen Brei herumzureden. Das fiel ihr nicht leicht. »Es ist die Geschichte einer meiner Ahninnen«, begann sie zögernd, »Judith, du weiß ja, die Aufzeichnungen meiner Mutter ...«

Die Anwältin nickte mit wissendem Blick.

»Also, es war wahrscheinlich meine Urururgroßmutter, die einst ihrem Mann aus Hamburg nach Neuseeland folgte. Sie wurde Augenzeugin, als ihr Mann einer jungen Maorifrau großes Leid zufügte. Ihren Namen habe ich vergessen, aber ich weiß, es war etwas mit ›Hine‹ und hieß übersetzt ›Nebelfee‹. Jedenfalls hat sie einen Fluch über die Familie meiner Ahnin und deren Nachkommen verhängt. Sie sollte ihre Kinder verlieren! Die Familie solle dem Untergang geweiht sein. Natürlich glaube ich nicht an so etwas, aber vielleicht wissen Sie, was die Maori über solche Flüche denken. Ich meine, wie gesagt, ich halte es für völlig abwegig. Ich bin ja sehr realistisch, aber ...« Sophie holte Luft und fuhr gehetzt fort: » ... in meiner Familie häuften sich danach die Schicksalsschläge. Meine Ahnin Anna hat nicht nur ihre Tochter und ihren Schwiegersohn, sondern auch ihr ungeborenes Kind verloren. Zum Glück hat ihre Enkeltochter überlebt. Sonst würde ich heute nicht hier sitzen.«

Judith schien Sophie gebannt zuzuhören, während sich das Gesicht ihrer Großmutter bei jedem Wort mehr verfinsterte.

»Und was hat Ihr Ahnherr der jungen Frau angetan?«, fragte Liz tonlos.

»Er hat ihr absichtlich in den Bauch getreten, sodass sie ihr ungeborenes Kind verloren hat.«

»Hm, dazu fällt mir leider gar nichts ein«, antwortete Liz hastig, stand abrupt auf und verließ das Zimmer.

»Habe ich etwas falsch gemacht?«, raunte Sophie ihrer Freundin zu.

»Nein, ich weiß auch nicht, warum sie plötzlich so merkwürdig ist, aber ich denke, es ist das Alter. Sie ist fast neunzig, musst du bedenken«, versuchte Judith das schroffe Verhalten ihrer Großmutter zu entschuldigen.

In diesem Moment erschien Liz wieder. Sie hielt das geschenkte Aquarell in der Hand und brachte leicht gepresst hervor: »Es passt leider nicht zu den Farben der Einrichtung«, und drückte es der verdutzten Sophie in die Hand.

»Aber Liz, das ist nur ein Hotelzimmer, aus dem du nach ein paar Wochen wieder ausziehst«, widersprach Judith energisch, aber die alte Dame maß ihre Enkelin mit einem Blick, der besagte, dass sie nicht darüber zu diskutieren wünsche. Dann schützte sie eine plötzliche Müdigkeit vor, die signalisierte, dass die Besuchszeit vorüber war.

Judith wirkte sichtlich verwirrt, als Liz Sophie zwar mit höflichem Handschlag verabschiedete, sie aber beinahe aus der Tür schob. Sie wollte schon mit der Freundin gehen, als die alte Dame befahl: »Kind, mit dir muss ich noch reden. Deine Freundin kann ja schon mal im Wagen warten. Es dauert auch nicht lange.«

Sichtlich verwirrt blieb Sophie im Flur stehen, aber die Stimme der Großmutter war so durchdringend, dass sie diese selbst bei angelehnter Tür noch laut und deutlich vernahm.

»Woher kennst du diese Frau?« Das klang vorwurfsvoll.

»Sie ist eine Mandantin. Ihre Mutter ist in der Nähe von Dunedin tödlich verunglückt; wir sind die Testamentsvollstrecker.«

»Aber sie ist doch gar nicht von hier, oder?« Der Ton war scharf.

Sophie überlegte, ob sie unten vor dem Hoteleingang auf die Freundin warten solle, aber ihre Neugier siegte. Womit mochte sie nur den Zorn der alten Frau erregt haben?

»Sie ist aus Hamburg und kannte die neuseeländische Geschichte ihrer Familie bis vor kurzem nicht einmal. Ihre Mutter hat ihr jedoch Aufzeichnungen hinterlassen, die ihr alles erklären.«

»So? Alles?«, fragte die Großmutter gedehnt und fügte zornig hinzu: »Auch, dass ihr Vorfahre eine deiner Ahninnen in den Tod getrieben hat?«

»Versteh ich nicht!«, entgegnete Judith, während Sophie auf ihrem Lauschposten langsam schwante, was geschehen war. »Oh nein!«, murmelte sie in sich hinein. »Bitte nur das nicht!«, doch da schmetterte Liz ihrer Enkelin bereits die ganze Wahrheit entgegen.

»Die junge Maorifrau, die die Familie deiner Freundin verflucht hat, ist keine andere als deine Vorfahrin Hinepokohurangi, die nur ein einziges schwächliches Mädchen bekommen konnte, weil dieser Mann sie misshandelt hat. Sie hat sich schließlich umgebracht. Aus Kummer!«

»Aber Großmutter, das ist doch kein Grund, die arme Sophie so abblitzen zu lassen. Dieser Vorfahr von Sophie hat sie doch gar nicht umgebracht. Wenn ich mich recht an die Geschichte erinnere, hat sie nachher einen weißen Farmer geheiratet, der sie ständig gedemütigt hat, weil sie nur einem Kind das Leben geschenkt hat. Und hast du mir nicht erzählt, ihre Mutter, eine weise Frau, habe sie verstoßen? Ich meine, das ist auch nicht die feine Art. Außerdem ist das Ganze an die hundertfünfzig Jahre her!«

»Oh, mein Kind, so einfach ist das nicht. Die Ahnen sind immer bei uns. Und deine Freundin trägt die Wurzeln derer in sich, die dieses Verbrechen an Hinepokohurangi begangen haben.«

»Großmutter! Bitte, nicht so laut! Ich werde Sophie diesen Blödsinn nämlich ersparen. Sie hat genug zu verkraften. Da braucht sie solchen Spuk bestimmt nicht. Sonst kriegt sie noch Angst, dass an dem blöden Fluch was dran ist.«

»Blöder Fluch? Das kann nur eine Pakeha sagen. Was weißt du von der Kraft eines Makutus? Er wird so lange gelten, bis er sich erfüllt hat und diese Familie keine Nachkommen mehr bekommt«, hörte Sophie die alte Großmutter verschwörerisch wispern, und Sophie wurde bei diesen Worten abwechselnd heiß und kalt.

»Liz, hör sofort auf damit! Das ist ja grässlich. Ich werde ihr sagen, dass du dich schlecht gefühlt hast. Mach es gut! Ich besuche dich, sobald du wieder in Dunedin bist. Okay?«

»Wenn du etwas für deine Freundin tun willst, dann schicke sie dahin zurück, wo sie hergekommen ist. Dort hat der Fluch weniger Kraft. Bis dahin behüte sie wohl, obwohl ich nicht weiß, ob du die Richtige dafür bist; immerhin wurde der Fluch von deinen Ahnen ausgesprochen. Halte dich lieber von ihr fern, sonst geschieht noch ein Unglück!«, warnte Liz.

Sophies Herz klopfte bis zum Halse, und sie rannte jetzt, so schnell sie nur konnte, ins Freie, damit Judith nicht gleich erriet, dass sie alles mitgehört hatte. Als die Anwältin ihr kurz darauf folgte, war sie sichtlich bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.

»Komm, lass uns mit der Seilbahn nach oben fahren. Von dort hat man einen herrlichen Blick über Berge und Seen«, schlug Judith vor.

Auf dem Weg nach oben entschuldigte sich Judith für das Benehmen ihrer Großmutter und fragte schüchtern, ob sie das Aquarell wohl haben dürfe. Dann genossen sie den atemberaubenden Blick über den See, die Wälder und auf Queenstown.

»Hast du etwas dagegen, wenn ich ein, zwei Tage zu dir nach Pakeha ziehe? So weit zum Büro ist es ja wirklich nicht. Ein paar Tage am Meer würden mir sicher guttun«, bemerkte Judith nun wie beiläufig in die Stille hinein.

»Und wie ich mich freuen würde! Aber nicht nur für einige Tage. Bitte!«, antwortete Sophie, sichtlich gerührt über die Freundin, die sich offensichtlich dazu entschlossen hatte, sie vor dem Fluch ihrer Ahnen zu beschützen.

Es war bereits dunkel, als sie in Pakeha eintrafen.

Als Erstes machte sich Sophie daran, Pasta zu kochen, weil sie seit dem Mittag bei Liz nichts mehr gegessen hatten. Judith saß am Tresen und schnitt Zwiebeln für die Soße. Dabei plauderten sie über dies und jenes, jedoch weder über das, was bei Liz vorgefallen war, noch über Tom. Und natürlich kein Wort über John, den Sophie mit aller Macht aus ihren Gedanken zu verdrängen versuchte.

Nach dem Essen bezog Sophie der Freundin das Bett im kleinen Schlafzimmer, bevor sie sich unter dem Vorwand, müde zu sein, zurückzog. Sie machte es sich im Bett mit einem Glas Wein gemütlich, als sie ein leises Schluchzen vernahm. Judith!

Sophie sprang sofort auf und lief hinunter auf die Veranda. Judith hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen, offensichtlich bemüht, keinen Schluchzer nach oben dringen zu lassen.

»Es wird alles wieder gut. Mit dir und Tom. Es gibt sicher für alles eine Erklärung!«, versuchte sie die Freundin zu trösten.

Judith sah Sophie aus großen verheulten Augen traurig an. »Ja, das glaube ich auch!«, schluchzte sie und fügte fast entschuldigend hinzu: »Es ist nur alles ein bisschen viel im Moment.«

»Ich habe gehört, was deine Großmutter gesagt hat, aber wir wollen uns doch nicht von den Ahnen kirre machen lassen. Ich glaube nicht an den Fluch und auch nicht daran, dass die Gedanken der Ahnen in uns weiterleben«, gestand Sophie.

»Du hast es mit angehört?«, fragte Judith tonlos.

»Ja, aber schon wieder vergessen!«, spielte Sophie es herunter.

Dann umarmten sie sich und versicherten einander die Freundschaft.

»Soll ich noch bei dir bleiben?«, erkundigte sich Sophie, auch wenn es ihr schwer fiel. Es zog sie magisch zurück zu Emmas Aufzeichnungen. Natürlich hingen ihr die drohenden Worte der alten Dame nach. Aber das würde sie der werdenden Mutter nicht verraten!

»Geh nur, ich werde mich auch gleich schlafen legen.«