Dunedin, 27. Dezember 2007

 

Es war bereits weit nach Mitternacht, als Sophie die Aufzeichnungen ihrer Mutter aus der Hand legte. Sie war immer noch hellwach und musste sich zwingen, mit dem Lesen aufzuhören. Die Geschichte von Anna und dem Fluch hatte sie vollends in ihren Bann gezogen. Noch sträubte sich etwas in ihr zu akzeptieren, dass es sich nicht um eine fiktive Geschichte handelte, die ihre Mutter so romanhaft zu Papier gebracht hatte, sondern um die ihrer eigenen Familie.

Sophie war so gefesselt von dem Schicksal der jungen Auswanderin, dass sie nicht mehr den geringsten Wunsch verspürte, schnell weiterzublättern, um nach Thomas Holden zu suchen, nein, sie brannte förmlich darauf, zu erfahren, wie es mit Anna weiterging. Nur nicht mehr in dieser Nacht.

Sie legte die Aufzeichnungen sorgfältig auf dem Nachttisch ab. Durch den Schlafmangel, gepaart mit dem Eindruck der Lektüre, hatte sie das Gefühl, dass die Realität ihr immer mehr entglitt. Ob es diesen Fluch wirklich gegeben hat?, fragte sie sich und verwarf den Gedanken sofort. Nein, niemals! Sie glaubte nicht an solchen Quatsch!

Außerdem sollte ich endlich schlafen, ermahnte sie sich. Sie löschte das Licht, doch es half nichts. Ihre Gedanken fuhren Karussell. Mit einem Mal erinnerte sie sich an David, den Musiker aus London. Es war eine aufregende Zeit gewesen damals, doch Sophie hätte sich niemals auf sein wildes Leben einlassen können. Dabei hatte sie ihn wirklich geliebt. Welche Ironie des Schicksals!, dachte sie. Anna durfte ihre große Liebe, den Musiker, nicht heiraten, und sie, Sophie, hatte ihre große Liebe einfach ziehen lassen.

Wie viele Jahre hatte sie nicht mehr an David gedacht? Fünf oder zehn? Jetzt erinnerte sie sich mit einer Heftigkeit an ihn, als hätten sie sich niemals getrennt. Seine langen schwarzen Locken, seine verschmitzten braunen Augen, seinen melancholischen Zug um den Mund, all das sah sie mit geschlossenen Augen in einer Deutlichkeit vor sich, als sei es erst gestern gewesen. Dazwischen blitzten Bilder von Anna auf, aber sie wirkte nicht mehr so streng wie auf der Daguerrotypie. Nein, sie lächelte ihr zu, aber Annas Augen strahlten immer noch eine tiefe Traurigkeit aus. Mit dem Gedanken an Anna schlief Sophie ein.

 

Ein Telefonklingeln schreckte Sophie auf. Sie wusste im ersten Augenblick nicht, wo sie war. Dann sah sie ihr Handy auf dem Nachttisch leuchten. Sie fühlte sie sich wie gerädert. Alles tat ihr weh. Ein Blick auf den Wecker zeigte ihr, dass es sechs Uhr morgens war. Wieder klingelte ihr Handy. Sie griff danach.

»Hallo«, meldete sie sich mit verschlafener Stimme.

»Oh, Schatz, entschuldige, habe ich dich geweckt? Ich habe gar nicht an die Zeitverschiebung gedacht. Ich war bei meinen Eltern, und die lassen fragen, ob du zum Neujahrsbrunch zurück sein kannst.«

Sophie schluckte trocken. Neujahrsbrunch? Jans Eltern? Ein Anruf mitten in der Nacht?

»Jan, wie ich dir bereits gesagt habe: Ich muss erst mal die Beerdigung abwarten. Der Anwalt wird sicher nichts unversucht lassen, damit sie noch im alten Jahr stattfindet«, erwiderte sie ausweichend.

»Super, dann könntest du ja am ersten Januar nach unserer Zeit wieder zu Hause sein«, freute sich Jan.

»Mal sehen!« Sophie war nicht in der Stimmung, ihm zu offenbaren, dass sie am ersten Januar bestimmt noch nicht zurück sein würde, weil sie den Jahreswechsel mit Judith und John verbringen wollte.

»Heißt das, ich soll Neujahr auch allein zum Abendessen bei meinem Chef gehen? Die werden doch alle nach dir fragen.«

Jan wurde langsam ungeduldig. Das konnte Sophie unschwer an seinem Ton erkennen. Ihr wurde eiskalt. Denkt er eigentlich immer nur daran, was die anderen Leute sagen?

»Ich glaube, deine Partner werden das verstehen, wenn du ihnen erklärst, dass die Mutter deiner Verlobten in Neuseeland tödlich verunglückt ist!«, gab sie scharf zurück.

»Du hast ja recht.« Jan klang plötzlich kleinlaut. Leise fügte er hinzu: »Aber ich habe manchmal Angst, du könntest nie mehr zurückkehren. Du bist so unendlich weit weg.«

Sophie seufzte. Ich bin noch viel weiter weg, als du glaubst, ging ihr durch den Kopf, als sie das Gespräch beendet hatten.