Apia, Januar bis März 1906
Kopfschüttelnd las Kate an diesem feuchtheißen Tag den Brief, den ihr Max Schomberger soeben zugesteckt hatte. Ausgerechnet der Sohn des ihr verhassten Dorfschullehrers, der erst kürzlich mit seiner Mutter aus Deutschland auf Samoa eingetroffen war, verehrte sie glühend.
Wenn das der Herr Papa lesen würde!, dachte Kate belustigt. Er wimmelt nur so von Fehlern. Sie runzelte die Stirn. Er hatte wieder ein Gedicht beigelegt! Der Junge nutzte jede Gelegenheit, um ihr nahe zu sein. Vorhin war ein Paket Bücher angekommen, und der behäbige Max hatte ihr angeboten, das schwere Paket für sie zu tragen. Sie hatte es ihm gestattet und dafür in Kauf genommen, dass er sie mit Hundeaugen anschwärmte. Vor ihrem Haus hatte er ihr dann diesen Brief in die Hand gedrückt und war fortgelaufen, bevor sie ihn lesen konnte. Kate seufzte. Der Junge war bestimmt nicht hässlich und auch von freundlicher Natur, im Gegensatz zu seinem bösartigen Vater, aber seine Zuneigung ließ Kate kalt. Wenn sie davon träumte, in Männerarmen zu liegen, gehörten die nur dem einen: Manono! Ihr Herz klopfte allein bei dem Gedanken an ihn. Sie versuchte jedoch, ihre Gefühle zu unterdrücken. Schließlich hatte sie Granny ein Versprechen gegeben, aber ihr Körper sprach eine andere Sprache. Jede noch so unschuldige und zufällige Berührung, wenn sie ihm Unterricht in deutscher Sprache erteilte, entfachte ein Feuer in ihr. Sie freute sich unbändig auf den Nachmittag. Gleich würde er sie in seiner Sprache unterrichten. Diese heimlichen Stunden waren die schönsten für Kate. Sie trafen sich für den Samoanisch-Unterricht nur dann, wenn Großmutter ganz bestimmt im Kontor war.
Gelangweilt faltete Kate nun den Zettel mit Max' literarischen Ergüssen auseinander. Du trägst so rote Rosen, du schaust so freudenreich, du kannst so fröhlich kosen, was stehst du still und bleich, musste sie da lesen, und sie fragte sich, für wie ungebildet er sie eigentlich hielt.
Das Gedicht war mit seinem Namen unterzeichnet, aber Kate wusste sofort, dass es aus Eichendorffs Feder stammte. Nicht umsonst hatte sie sich in den sechs Jahren, die sie inzwischen hier lebte, die Werke sämtlicher deutscher Dichter zu Gemüte geführt. Anfangs hatte sie geglaubt, darüber in Kontakt mit den Frauen der deutschen Kolonie zu kommen, aber vergeblich. Die meisten kannten ihre Dichter gar nicht oder nur flüchtig.
»Eichendorff?«, hatte Frau Wohlrabe neulich geziert gefragt und dann hinzugefügt: »Ach, Eichendorff. Natürlich!«
Kate hatte ihr an der Nasenspitze angesehen, dass sie ihn nicht kannte, sondern sich nur mittels eines Halbwissens aus der unangenehmen Lage zu manövrieren versucht hatte. Dass sich der arme Max nun mit fremden Federn zu schmücken versuchte, missfiel Kate außerordentlich. Und das als Sohn eines Lehrers!
Kate musste unwillkürlich lachen, denn erst neulich hatte sie Großmutter ein wenig foppen wollen und sie mit ernster Miene gefragt, ob sie wohl den Max Schomberger heiraten solle.
Granny hatte voller Entsetzen ausgerufen: »Das ist ein großer Klotz. Niemals!« Nein, der Mann, der Gnade vor Grannys Augen finden würde, musste noch geboren werden! Außerdem gab es schließlich das Versprechen, an das Kate sich trotz ihrer Sehnsüchte gebunden fühlte. Sie würde den süßen Versuchungen der Liebe entsagen, doch allein bei dem Gedanken, dass sie bald wieder dicht neben Manono am Tisch sitzen würde, wurde ihr ganz warm im Bauch. Kate versuchte krampfhaft an ihre Zukunft zu denken. Sie würde tun, was die Großmutter von ihr verlangte!
Dieser Vorsatz kam ins Wanken, als Manono jetzt auf sie zutrat und ein Schauer ihren ganzen Körper durchrieselte.
Er lächelte sie an und setzte sich zu ihr. Sie rückten so dicht zusammen, wie sie nur konnten. Das machten sie nun schon seit über einem Jahr. Erst zaghaft und dann immer näher und näher. Sie redeten nicht darüber, sondern ließen einfach ihre nackten Arme sprechen. Kate spürte ein wohliges Prickeln, als sie seinen muskulösen Arm zart berührte.
Sie bewunderte nicht nur seinen Körper, sondern auch seine rasche Auffassungsgabe und seine Qualität als Lehrer.
»Oh faapefea mai oe?«, fragte er in seinem fremden Singsang.
»Mir geht es gut«, erwiderte Kate und strahlte ihn an.
Nun fragte er sie einige Wörter ab, die er ihr beim letzten Mal beigebracht hatte. Kate wusste sie alle. Manono lobte sie. Ihre Blicke trafen sich, und Kate wusste plötzlich, dass er sich genauso nach ihr sehnte wie sie sich nach ihm. Wie von selbst fanden sich ihre Hände und verflochten sich unschuldig ineinander. Eine halbe Ewigkeit blickten sie sich an. Kate hatte das Gefühl, sie würde bis auf die Tiefe des Meeresgrundes blicken. Ein Zittern ließ ihren Körper erbeben.
»Auseinander!«, schrie nun eine Stimme, die sich vor Aufregung überschlug.
Wie ein Racheengel stand Granny vor ihnen. Mit verzerrtem Gesicht und hocherhobenen Armen.
»Ins Haus mit dir!«, befahl sie Kate barsch.
Kate zögerte, aber sie gehorchte schließlich. Da die Wände dünn waren, konnte sie jedes grobe Wort mit anhören, das Granny Manono an den Kopf warf.
»Du undankbarer Bastard, du! Ich warne dich. Wenn du es auch nur noch einmal wagst, meine Enkelin anzufassen, dann schicke ich dich dahin, wo ich dich hergeholt habe. In die Mission!« Sogar ihr keuchender Atem war zu hören.
Dann vernahm Kate seine Stimme. Ruhig und eindringlich.
»Sie mögen stark sein, aber gegen die Liebe sind Sie nicht stark genug!«
Dieser Satz brannte sich in Kates Herz ein.
Draußen herrschte Schweigen, bis Granny aus Leibeskräften brüllte: »Was weißt du schon von der Liebe? Die Liebe ist vom Teufel. Und die Liebe zwischen einem Samoaner und einer weißen Frau, die gibt es nicht! Wage es ja nicht, auch nur noch ein Wort an meine Enkelin zu richten! Such dir schnellstens eine deinesgleichen zum Liebemachen!« Dann fügte sie versöhnlicher hinzu: »Manono, versteh mich bitte nicht falsch. Ich schätze dich. Du bist ein guter Mensch, und ich möchte dich als Mitarbeiter nicht verlieren. Aber hier hast du nichts mehr zu suchen. Mach dich sofort auf zur Plantage! Brenner kann dort oben jede Hilfe gebrauchen!«
»Darf ich mich noch von ihr verabschieden?«, fragte er mit fester Stimme.
»Sofort, habe ich gesagt. Ich werde heute noch veranlassen, dass dir deine Sachen gebracht werden, aber jetzt geh. Hau ab!«
Kate lauschte diesen Worten wie erstarrt. Sie überlegte, ob sie nach draußen rennen und sich von Manono verabschieden sollte, aber sie konnte nicht. Ihre Beine waren schwer und der Kopf völlig leer. Regungslos saß sie da, als Granny das Haus betrat.
»Du wirst kein Wort mehr an ihn richten, verstanden?«, herrschte sie Kate an.
Kate nickte schwach und fragte sich, ob sie das ihrer Großmutter wohl jemals würde verzeihen können.
Kate traf Manono seitdem allenfalls beim Einkaufen, doch Granny blieb stets in ihrer Nähe und verhinderte, dass sie einander Botschaften zukommen ließen. Ein höflicher Gruß von ferne. Mehr war nicht möglich.
Trübsinnig stierte Kate auf den Hafen. Sie malte nicht mehr, lernte nicht mehr und las nicht mehr. Granny war sichtlich bemüht, sie aufzuheitern. Vergeblich.
»Vergiss nicht, nachher zum Hafen hinunterzugehen. Denk daran, dass diese Maria ankommt. Ich habe keine Zeit, sie zu begrüßen, weil ich zur Plantage muss.«
Kate sah ihre Großmutter herausfordernd an. »Zur Plantage könnte ich doch fahren!«, schlug sie vor.
Anna seufzte. »Du weißt doch, dass es nicht geht!«
Kate biss die Zähne zusammen. Natürlich wusste sie, dass Großmutter es nicht erlauben würde. Seit Manono dort oben lebte, war es ihr - sehr zu Brenners Kummer - verboten, auf die Plantage zu fahren.
»Ich kann mich also darauf verlassen, dass du sie abholst, oder?«
»Ja!«, fauchte Kate unwirsch. Sie hatte nicht die geringste Lust, zum Hafen zu eilen, um eines der heiratswilligen deutschen Fräulein in Empfang zu nehmen. Onkel Rasmus hatte eine entfernte verarmte Verwandte aus Bayern für Brenner ausgewählt. Kate musste unwillkürlich grinsen. Zu spät, denn als er erfahren hatte, dass das Schiff mit den ledigen Damen unterwegs war, hatte er ganz schnell seine Loana geheiratet und geschwängert.
Lustlos machte sich Kate auf den Weg. Unten am Hafen standen bereits ein paar Herren in Sonntagsanzügen herum. Als das Schiff einlief, wurden sie zunehmend nervös. Kate beobachtete das mit sichtlichem Vergnügen.
Und dann kamen die heiratswilligen Damen, eine nach der anderen, blass und erschöpft an Land geklettert. Zum Schluss eine üppige Brünette mit wachen Augen. Als »üppige Brünette« hatte Rasmus Maria angekündigt. Kate trat einen Schritt auf sie zu: »Sind Sie Maria? Hergeschickt von den Hamburger Wortemanns?«
Die junge Frau nickte und stellte sich in einer deutschen Mundart vor, die in Kates Ohren fremd klang. Dann unterbrach sie sich und lachte breit. »Mei, da schau her, du verstehst mi nit. Dann will ich mal versuchen, Hochdeutsch zu reden. Also, ich bin die Maria, eine von der armen Verwandtschaft, die, wo sie meinten, keinen Mann mehr abkriegen würde.« Sie lachte herzerfrischend.
Kate fiel in das Lachen ein. Das Eis war gebrochen.
Als Kate und Maria schließlich auf der Veranda saßen, wollte Maria wissen, ob ihr Zukünftiger sehr hässlich sei. Da fasste sich Kate ein Herz. Einmal musste es die angehende Braut schließlich erfahren, dass der Bräutigam nicht mehr zur Verfügung stand. »Ich muss dich enttäuschen. Er ist bereits verheiratet!«
Statt in Tränen auszubrechen, umarmte Maria Kate überschwänglich. »Der Herrgott hat meine Gebete erhört. Ich bin schon gern fort aus meinem Dorf, aber ich wollte eigentlich keinen Mann heiraten, den ich nicht kenne. Ich tät ihn mir lieber selber aussuchen!«
Kate grinste. »Dazu wirst du genügend Gelegenheit haben. Die Herren der Handelsgesellschaft und auch die meisten Pflanzer wandeln hier auf Freiersfüßen.«
Mit diesem Tag begann Kate wieder zu malen, zu lernen und zu lesen, denn sie hatte eine Freundin gefunden. Obwohl Maria das Gegenteil von ihr war, verstanden sie sich prächtig. Maria machte sich im Haus unentbehrlich und wurde ganz schnell Paulas erklärter Liebling. Die abendlichen Gespräche und die gemeinsamen Strandspaziergänge mit ihr brachten ein wenig Abwechslung in Kates Leben und heiterten sie auf.
Nur eines vertraute Kate der neuen Freundin nicht an: dass sie sich jede Nacht vor dem Einschlafen vor Sehnsucht nach Manono verzehrte!