Apia, Januar bis März 1919
Sosehr sich Kate in den folgenden Wochen auch bemühte, einen Zugang zu dem verschlossenen Jungen zu bekommen, es gelang ihr nicht. Walter antwortete ihr nur, wenn Steven in der Nähe war. Ansonsten musterte er sie verächtlich. Selbst, wenn sie ihm Angebote machte, etwas Schönes zu unternehmen, lehnte er diese strikt ab.
Steven hingegen ignorierte den eigenen Sohn, wenn er nicht gerade mit ihm schimpfte. Seine ganze Zärtlichkeit und Zuneigung schenkte er Bill John. Kate brach es jedes Mal beinahe das Herz, wenn sie mit ansehen musste, wie Steven den Kleinen ständig lobte, während er für Walter nur harte Worte übrig hatte.
Eines Abends hatte Kate Bill John gerade ins Bett gebracht, als sie ein leises Wimmern aus Walters Zimmer vernahm. Er jammerte: »Aua, tu das nicht! Bitte nicht.« Ohne zu überlegen, riss sie die Tür auf und erstarrte. Ein demütigendes Bild bot sich ihr: Der Junge lag mit nacktem Gesäß, den Kopf nach unten, über einen Stuhl gebeugt, während Steven auf ihn eindrosch. Empört trat Kate zu ihrem Mann und riss ihm den Stock aus der Hand.
Der Junge drehte langsam den Kopf in ihre Richtung, aber statt Dankbarkeit zu zeigen, stand ihm der nackte Hass ins Gesicht geschrieben.
Auch Stevens Blick verhieß nichts Gutes. »Was soll das?«, herrschte er sie an, und in diesem Augenblick roch Kate es. Sein Atem stank nach Schnaps. »Er ist mein Sohn, und ich verprügele ihn, wann immer ich will«, knurrte er in bedrohlichem Ton.
Walter wollte die Gelegenheit nutzen, um sich aus seiner misslichen Lage zu befreien, aber Steven schrie ihn an: »Du bleibst so liegen! Ich bin noch nicht fertig mit dir!« Dann wandte er sich mit glasigen Augen Kate zu. »Weißt du eigentlich, was er getan hat?«
Sie schüttelte mit dem Kopf.
»Dann will ich es dir sagen. Ich habe ihn dabei erwischt, wie er deinem Sohn eine besondere Leckerei versprochen und ihn gezwungen hat, Sand zu essen. Billigst du das etwa?«
Kate war den Tränen nahe. »Nein, natürlich nicht, aber du darfst ihn trotzdem nicht schlagen ...«
Steven entriss ihr wortlos den Stock. Rasend vor Wut schlug er weiter auf den Jungen ein.
Am ganzen Körper zitternd, verließ Kate das Zimmer. Sie dachte an Annas Geschichte, und ihr wurde speiübel. Eines war klar: Steven brauchte Hilfe, weil er trank! Und wenn er trank, wurde er brutal. Sie würde nicht untätig zusehen, wie er den Jungen vollends zerstörte.
Da fiel ihr Wohlrabe ein. Sie war jetzt bereits zwei Wochen hier und hatte ihn noch kein einziges Mal gesehen. Es hieß, er sei Tag und Nacht auf den Beinen wegen der scheußlichen Grippe, die von den Soldaten eingeschleppt worden war und die Samoaner dahinraffte wie die Fliegen.
Aus Walters Zimmer tönte kein Laut mehr. Steven schien von ihm abgelassen zu haben. Kate fasste sich ein Herz und ging hinein. Der Junge lag immer noch über dem Stuhl und schluchzte. Die Schläge hatten auf seinem Gesäß rote Striemen hinterlassen.
»Komm ins Bett, Walter!«, sagte Kate sanft. Sie machte Anstalten, ihn aus dieser unwürdigen Lage zu befreien, doch er bellte nur: »Du bist schuld. Nur, weil du und dein blödes Kind da seid, mag er mich nicht mehr.«
»Komm, geh ins Bett! Ich bringe dir Salbe und einen heißen Kakao.«
Walter, der sich aufgerappelt hatte und hastig nach seiner Hose griff, schrie: »Und wenn er mich dafür totschlägt, ich hasse dich!«
Kate kämpfte mit sich. Sollte sie es weiter versuchen oder für heute aufgeben? Sie entschied sich für Letzteres. Es hatte keinen Zweck. Wortlos verließ sie Walters Zimmer und schaute noch einmal nach Bill John. Er schlief tief und fest. Alles war ruhig im Haus. Steven schien ausgegangen zu sein. Sie beschloss, den Arzt sofort aufzusuchen.
Kate war froh, dass bei Wohlrabe noch Licht brannte. Als er öffnete, erschrak sie. Er sah entsetzlich aus. Müde und erschöpft. »Wenn Sie sich gerade ein wenig ausruhen, komme ich ein anderes Mal wieder«, sagte sie entschuldigend.
Er aber fasste sie sanft am Arm und zog sie ins Haus. »Ich freue mich doch so, Sie wiederzusehen, Kate! Sie sind ja noch schöner geworden«, schmeichelte er ihr, als sie schließlich im Salon saßen.
»Ich habe gehört, die Grippe wütet«, bemerkte sie.
Wohlrabe nickte und sah sie durchdringend an. »Was führt Sie her, Kate? Doch nicht die Grippe, oder?«
Kate schüttelte den Kopf. Zögerlich schilderte sie ihm, was sie soeben erlebt hatte.
Seine freundliche Miene verdüsterte sich. »Ach, Kate! Wir haben uns alle gewundert, dass Sie diesen Mann geheiratet haben. Er ist schwerer Trinker, der im Rausch zur Gewalt neigt. Er hat schon ein paar Prügeleien mit jungen Engländern angezettelt und -«
»Wussten Sie, dass er sein Kind züchtigt?«
Wohlrabe schüttelte mit dem Kopf. »Nein, das ahnte ich nicht, aber ich werde selbstverständlich mit ihm reden. Er lässt sich von mir etwas sagen. Das sollten wir ausnutzen.«
»Es war keine Liebesheirat«, vertraute sie ihm mit gesenktem Kopf an. »Mein Schwiegervater hat mich nach Bills Tod aus dem Land treiben und meinen Sohn behalten wollen. Ich war am Ende, als Steven kam und mir anbot, mich zu versorgen, meinem Sohn ein Vater zu sein, wenn ich mich im Gegenzug um seinen Sohn kümmere. Wir leben nicht wie Mann und Frau zusammen. Aber ich kann meinen Teil der Abmachung nicht erfüllen. Der Junge lehnt mich ab ...« Bei diesen Worten brach sie in Tränen aus.
Er nahm ihre Hand. »Kate, ich verspreche Ihnen, ich tue mein Bestes, aber was die Alkoholabhängigkeit Ihres Mannes angeht, ich befürchte, da könnte es zu spät sein.«
»Hauptsache, Sie können den Jungen retten. Und Steven klarmachen, dass er die Finger von ihm lassen muss.«
Wohlrabe versprach zu tun, was in seiner Macht stand, als kräftig an die Tür gepocht wurde. Es war Otto Brenner. Völlig außer Atem, leichenblass und schwitzend.
»Sie müssen sofort mitkommen. Meine Frau und meine Kinder sind krank. Bitte, helfen sie mir! Sie dürfen nicht sterben.«
»Ich komme mit!«, sagte Kate entschlossen.
Sie fuhren mit Wohlrabes Wagen und hielten noch einmal kurz bei Kate.
»Ich muss Tula Bescheid sagen, damit Sie sich um Bill John kümmert, falls er aufwacht.« Damit sprang sie aus dem Wagen.
Sie rief nach Steven und Tula, aber es blieb still im Haus. Vielleicht ist sie im Kochhaus, dachte Kate, doch als sie sich dem hinteren Teil des Gartens näherte, hörte sie es bereits: das tierische Stöhnen eines Mannes und das leise Wimmern einer Frau. Ungerührt riss Kate die Tür zu Tulas Hütte auf. Sie blickte auf Stevens nackten Körper, der rhythmisch auf- und niederging.
»Steven, Tula, ich fahre mit dem Doktor zur Plantage. Brenners Familie hat die Grippe. Seht nach Bill John, falls ich morgen früh noch nicht zurück bin.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging.
Dann fuhr sie mit Wohlrabe und Brenner durch die dunkle Nacht. Der alte Verwalter war völlig in sich zusammengesunken. Sie hätte ihm gern Mut gemacht, aber sie wusste nicht, wie. Es war inzwischen bekannt, dass die Europäer diese tückische Krankheit eher überlebten als die Einheimischen.
Loana weinte vor Glück, als sie Kate erblickte. Sie sah zum Fürchten aus. Der Tod ist schon im Zimmer, durchfuhr es Kate eiskalt. Im Nebenzimmer lagen die vier jüngsten Kinder und kämpften gegen das Fieber.
Wohlrabe erteilte Kate ruhig Anweisungen. »Die Lungenentzündung ist das Schlimmste, und es hat sie bereits erwischt«, flüsterte er ihr zu, während sie Loana Wadenwickel anlegte.
Zwei Tage und zwei Nächte blieb Kate auf der Plantage, und sie schuftete unermüdlich. In der zweiten Nacht starb Loana in ihren Armen, aber am Morgen war klar, dass alle Kinder über den Berg waren. Sie hörte Brenner laut weinen und schreien, aber sie hatte keine Kraft, ihn zu trösten. Sie wollte nur noch nach Hause. Die ganze Fahrt zurück nach Sogi schlief sie. Beim Aussteigen konnte sie sich kaum mehr auf den Beinen halten, sodass Brenner sie stützen musste.
Als sie den Weg zum Haus entlanggingen, winkte Steven ihnen von der Veranda aus zu. Auf seinem Schoß saß Bill John, der aufgeregt »Mama! Mama!« rief. Aber Kate konnte nur noch zu ihrem Bett wanken. Sie fiel bis zum nächsten Mittag in einen tiefen Schlaf.
Als sie aufstand, war Tula verschwunden.
»Ich dachte, dir ist vielleicht lieber, wenn du sie nicht mehr sehen musst«, antwortete Steven ausweichend. Sie wurden unterbrochen, weil Bill John angerannt kam. Er hatte in seinem Netz einen Schmetterling gefangen. Kate breitete die Arme aus, damit er auf ihren Schoß krabbeln konnte, aber er setzte sich wie selbstverständlich auf Stevens Knie. Der besah sich den zappelnden Schmetterling und schlug vor, ihn aufzupieksen und eine Sammlung anzulegen.
Kate hingegen erklärte lächelnd: »Ich habe eine bessere Idee.« Sie nahm Bill John das Netz aus der Hand und ließ den wunderschönen Schmetterling frei. Ihr Sohn zog ein langes Gesicht.
Ich muss aufpassen, dass er sich nicht zu sehr an Steven hängt, ging es Kate durch den Kopf. Vor allem, als sie mit einem Seitenblick beobachtete, mit was für einem hassverzerrten Gesicht Walter Zeuge dieser Szene geworden war. Nun trat der Junge zögernd auf Steven zu.
»Vater!«, sagte er stolz. »Vater, ich habe in Englisch die beste Klassenarbeit geschrieben!« Ohne eine Antwort abzuwarten, holte er sein Heft aus der Schultasche, um Steven den gelungenen Aufsatz zu zeigen. Der aber würdigte ihn keines Blickes.
»Das ist sehr brav!«, lobte Kate schnell und griff nach dem Heft, doch Walter hielt es fest in der Hand. Sie seufzte.
»Musst du gar nicht zurück zur Arbeit?«, fragte sie nun Steven, der immer noch mit Bill John spielte. »Hoppe, hoppe, Reiter, wenn er fällt, dann schreit er, fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben, fällt er in den Sumpf, dann macht der Reiter plumps«, sang er ihm vor, und der Kleine quietschte vor Vergnügen.
Er merkt nicht mal, dass Walter enttäuscht auf sein Zimmer gegangen ist, dachte Kate traurig. »Nein, ich bleibe heute zu Hause. Die scheußliche Grippe ist überall. Ich will mich doch nicht anstecken.« Kate begriff endgültig, dass Steven McLean keinen Vorwand scheute, sich vor der Arbeit zu drücken. »Bill John, schau doch mal nach Walter!«, sagte Kate und funkelte ihren Mann wütend an. »Steven!«, fauchte sie, als sie mit ihm allein war. »Wenn du Walter noch einmal züchtigst oder so demütigst wie vorhin, sind wir weg! Verstanden?«
Steven sah sie verwirrt an, bevor er brummelte: »Okay, ich verspreche es dir, ich lass die Finger von diesem Satansbraten.«
»Und noch etwas?«
»Alles, was die Prinzessin verlangt!«
»Du rührst keinen Tropfen mehr an.«
»Sehr wohl!«
»Und ab jetzt gehe ich ins Kontor und kümmere mich um die Geschäfte!«
»Das ist eine gute Idee. Dann kann ich einen kleinen Mittagsschlaf machen«, erklärte er sichtlich vergnügt.